HANS ULRICH RECK

ZWISCHEN KINO, FILM UND LEBEN — ÜBER WAHRNEHMUNGSZERFALL

ESSAY

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Eigentlich habe ich mir immer vorgestellt, im Kino würde über das Leben erzählt. In Bildern von Erzählungen, die sich anderswo fortsetzen lassen. Aber: in Bildern Sprechen stösst an die Grenzen der Schrift, die unsere Gedächtnisleistungen an die Ordnung des Suksessiven bindet, an eine Zerstückelung, die den privaten Umgang mit Bedeutungen aufhebt. Ueber Bilder sprechen, führt zur Angleichung der Bilder an einen unangemessenen Diskurs. Das Kino erzählt nicht in Bildern vom Leben. Es provoziert Bilder, in denen so nicht gesprochen werden kann. Aber das beruhigt nicht: wir haben nicht beliebige Sprachen und die Filme sind immer noch Objekte einer Wahrnehmung, die reflektiert werden soll. Heute wird deutlich: das Leben der Bilder, auf die sich die kinematografischen Techniken jenseits der primären Ideologien als anonymes unpersönliches Subjekt beziehen, ist ein Ausdruck für die Tatsache, dass die Bewusstseinsniveaus der filmischen Zeichen und des Blick des Betrachters auseinanderklaffen. Interpretiert man diese Divergenz als Chance, so werden die Filme instrumentalisiert. Liest man sie als Tatsache, so erscheinen die Filme als Entwürfe einer positiven Totalität, die unter Ausschaltung der kritischen Funktion der Zeichen, d.h. unter Rückführung der symbolischen Interpretation auf die Funktion von Abbildern, dem interessierten Betrachter als undurchdringliche Einheit von, akzeptierbaren oder verwerfbaren, Weltbildern entgegentritt. Die kinematografischen Entwürfe, die zur beliebigen Geste eines Authentischen stilisiert oder zur realen Eigentlichkeit des im Bild geretteten Urprungs erhoben werden können, kollidieren mit dem Anspruch einer Filmkultur, der seit einigen Jahrzehnten immer wieder mit Nachdruck erhoben worden ist: dass der zerlegende Blick des Betrachers mit seiner Fähigkeit zur Rekonstruktion der Machart des Gezeigten den Schlüssel liefert für die Realität der Bilder. Auf diesem Hintergrund haben die heute zunehmenden Heimatfilme eine doppelte Wurzel: die geschichtliche Regression gegen eine masslos überrissene Hoffnung auf die mediale Ueberflutung des urbanen Menschen auf der einen, die Wahrnehmungsverweigerung auf der anderen Seite, die sich gegen den komplizierten Anspruch wendet, das Gezeigte als Montage eines Bezeichneten, aber nicht als das Bezeichnete selber zu lesen.

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Es herrscht eine verwirrende Situation. Auf der einen Seite die Tendenz zu Montage und Komposition. Auf der anderen Seite die mit mehr oder weniger Aufwand inszenierte Geste des Beiläufigen, die auf jegliche ausdrückliche Symbolisierung verzichten möchte. Alain Tanner liefert dafür Schlagwort, Dramaturgie und Behauptung. No man’s land, Grenzverkehr zwischen den Grenzen, Warten. Dramaturgisch: Verzicht auf ein ausgearbeitetes Drehbuch, Chance der Entwicklung der Schauspieler, die zu Figuren ihrer eigenen Persönlichkeit werden. Strukturell: die Leitmotive der persönlichen Existenzen in aufgeblendeten Grossaufnahmen; Gesichter, die formelhaft den resümierten Tiefsinn ihrer Existenzbedrohung voranstellen. Ein Vorspann des Vorspanns, der bei andauender Betrachtung immer mehr ins Vergessen absinkt. Leitmotivisch werden diese Positionen nicht aufgefächert. Wichtiger wird eine Aesthetik einer im Detail präzisen, im Ganzen, und damit in jedem Moment, immer zufälligen Kamera. Zufall als versuchte Demonstration einer Notwendigkeit: diese, keine anderen Bilder. Bilder eben. Dagegen lässt sich einwenden: Bilder, die nur verzeichnen, sind unzureichend. Nicht, weil damit ein politisches Bildprogramm des Aufbruchs gefordert wäre, sondern weil jede strukturbildende Arbeit mittels Bilder immer nur als Differenzierung der informativen von den systemintegrativen Formulierungsreihen möglich ist. Das hat mit unserer Kultur viel, mit einer expliziten Stellungnahme gegenüber den ideologischen, visuellen, dramaturgischen Möglichkeiten des Films wenig zu tun. Metakritik: wenn ein an eine Apparatur delegiertes Auge hier verharrt, dort ungeduldig wird, wenn der filmische Code durch den Betrachter erst als gesprochene Bezeichnung artikuliert wird, dann ist gerade nicht die Beziehung des Betrachters zum Film wichtig, sondern die kinematografische Befindlichkeit gegenüber Bildsequenzen, die man durch die Filter einer zufälligen emotionalen Befindlichkeit am Tag X auf dem Weg B zum Kino C aus den bewussten Gründen X 1, X 2, X 3 und unter dem Vorbehalt einer halb bewussten Erwartungstäuschung Q, Q’, Q” wahrnimmt. Das heisst: sich zurechtlegt. Man beginnt immer mehr, so über Filme zu sprechen. Was sich hier äussert, ist die Verschiebung der Erwartungshaltung auf das Spiel mit Automatismen, die man an der Präsenz der Filme und an der Geschichte des eigenen Umgangs mit dem Kino gelernt hat und die man nun als projektive Erwartungszersetzung den filmischen Ereignissen aufzwingen kann. Das ist etwas Neues und ist aus einer kollektiven Geschichte im Umgang mit institutionellen Orten eines gesellschaftlich organisierten Blicks hervorgegangen. Filme sind heute nicht nur Filme, sondern Elemente der filmischen Wahrnehmungsorganisation und Faktoren der Geschichte des Umgangs mit filmischen Zeichen, Sequenzen, Aussagen und Botschaften. Die kinotechnische löst die filmische Rezeption immer mehr ab: der Film zersplittert sich in Segmente einer zielgruppenstrategisch bedienten Freizeitgestaltung. Die Konstellation zwischen Werk und Betrachter wird zu einer delegierten Beschreibung — Autor, Arrangeur, Vermittler, Betrachter werden zu Agenturen einer Zirkulation der filmischen Beschreibungen, zu formulierten und in verschiedene Subkulturen zersetzten, zitierbaren, stilisierbaren Ketten von Zeichen und Interpretationen, die im Vorgang der Rezeption akzentuiert werden, einmal so, einmal anders; es bedarf dazu nicht einmal verschiedener Zeichen. Eine momentane, aber signifikante Situation: Beschreibung einer Bedeutung, die, nicht zuletzt durch die stetige Ueberlagerung der Automatismen und Bezüge, nicht mehr als Beziehung eines wahrnehmenden Auges zu einer bewusst gehandhabten Apparatur beschrieben werden kann. Film wie Betrachtung werden zu Gefässen einer Sammlung von Bildern, die durch einen dritten Bezug umschrieben, verborgen, verändert, verdichtet, diffundiert werden: durch den nicht abschliessend benennbaren, daher auch nicht kontrollierbaren Umgang mit Bildern, die nach der Art eines transpersonellen Subjekts sämtliche verfügbaren Beschreibungen instrumentalisieren.

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Die Filmkultur ist nicht die ganze Geschichte des Kinos, aber das Kino ist eine mit Apparaturen vorgenommene Beschreibung der Wirklichkeit im Auge und eine Technik, mit der die Existenz des ganzen Betrachters im Auge zusammengezogen werden kann. Es hat nicht nur mit der Tradition der Bilder — von denen nicht alle filmischen Interpretationen Eingang in die Geschichte des Kinos gefunden haben — zu tun, sondern auch mit dem Vorgang dieser Beschreibung. Das Spezifische des Films besteht nicht darin, dass er ein weiteres Kapitel an die Auseinandersetzung zwischen Bild und Schrift anhängen würde, wie sie das abendländisch rationalisierte Bewusstsein auf der Folie einer Unterscheidung zwischen Realität und Abbild immer wieder geführt hat. Es besteht darin, dass der Film an einem bestimmten Punkt der Entwicklung des Bewusstseins des Betrachters diese Beschreibung mit Ueberformungen zerschreiben oder durch Ueberlistungen unterlaufen will.

Dieser Punkt lässt sich durch zwei Aspekte beschreiben. Einmal ganz banal durch die Tatsache, dass die Wahrnehmung eines Films, ihre Durcharbeitung, erst einsetzen kann, nachdem man einen Film gesehen hat. Wenn man aber einen Film für sich selber beschreibt (und man beschreibt ihn immer, auch wenn man über Bilder nachdenkt, die einen besetzt halten), dann werden die Bilder, das ganze filmische Geschehen, zu Bildern innerhalb und für eine Beschreibung; sie werden zu etwas, was sie vorher nicht gewesen sind. Zum anderen, weniger banal, lässt sich die Entwicklung der Kinematografie und der Schnittpunkt zwischen Kino und Film durch eine historische Tendenz und einen gesellschaftlich bedingten Schub der Wahrnehmungsentfaltung kennzeichnen: Das Reich der filmischen Bilder als ganzes wird immer mehr überlagert und später ersetzt durch die Beschreibbarkeit der Bilder. Immer mehr verhält man sich so, dass man den Film — als Erzählung, als Abfolge, als Struktur — einordnet in einen diskursiven Erwartungshorizont. Das ist ein qualitatives Problem: der beschriebene Film wird immer mehr zum gesellschaftlichen, kollektiven Medium, in dem Filme überhaupt rezipiert werden. Und immer mehr werden der Ort und die Mechanik der Kinos unwichtiger und der Selbsterhaltung dieser Erzählstruktur untergeordnet. Ich glaube, dass sich in den Erzählungen nachweisen lässt, dass der beschriebene Film das eigentliche Filmische ersetzt. Man beginnt auch so zu sprechen. Der Film ist immer mehr Ausdruck der Beschreibbarkeit der filmischen Erfahrung. Und bloss in einer Zwischenzeit war man noch im Kino. Der ent-auratisierte Film ist allenfalls eine Folge nicht der Apparatur, sondern der diskursiven Gewöhnung. Sicher aber ist das entmystifizierte Kino der Ort, der Mystifizierungen eher erschwert als sie darstellt, damit aber die Mythologiebildung indirekt unterstützt. Diese Realität des Kinofilms wird im Kino aber nur an einigen, nicht den wesentlichen Punkten erfahrbar.

Der beschriebene Film ist nicht einfach noch ein Film, er verändert rückwirkend das noch nicht Beschriebene am Film. Er ist der geschichtliche Ort des Durchbruchs durch die realistischen Beschreibungen und die Entdeckung des Films als Beschreibung seiner selbst (der reine Film, der abstrakte Film; Richter, Eggeling, van Doesburg). Und er ist der systematische Ort eines Aufbruchs aus den filmischen Zeichen und der Umwandlung der weiterhin als Text erfassbaren Botschaften des Films in einen Diskurs über die Botschaften von Bildern, die, ob man das will oder nicht, zu Bedeutungen einer Erzählung umgebaut werden. In dieser Erzählung sind die analytischen Strukturen den Versuchen einer visuellen Errettung des Wirklichen und seiner unmittelbaren Erscheinungsbilder voraus. Anders gesagt: die Grenze des Films ist jenes Kino, in dem sich nicht zuletzt der durch die filmischen Beschreibungen banalisierte (weil an die Simulation des Aussergewöhnlichen gewöhnte) Zuschauer als Objekt der filmischen Betrachtung erkennt. Das wäre der kaum beweisbare Punkt, an dem der Film zur Black-Box für die Erkenntnisbildung des Betrachters wird, der die Qualität der Filme technisch an ihrer Visualisierung zu messen in der Lage ist. In dem Sinne ist die Grenze des Films das Kino: Summe der visuellen Erfahrungen der Rezipienten. Solche Erfahrungen sind, wie alle, die auf einen bestimmten Zivilisationsgrad einer von Medien durchsetzten Kultur hinweisen, objektive Traditionen. Ein heutiger, gewissermassen „nicht-belasteter“, nicht beschriebener Betrachter setzt mit seinen visuellen Dispositionen nicht am Ursprungsort des Kinos an, sondern an den aktuellen Ereignissen, die sich als Zitationen auf den Fundus dieser Geschichte fortwährend beziehen. Ein Film ist ein Film ist ein Film? Und eine Kopie eines Film? Eine Beschreibung eines Films, der vollständig aus Beschreibungen anderer Filme besteht, die ihm die Mechanismen seiner Darstellung ebenso liefern wie die mögliche Verletzung und Weiterentwicklung dieser Mechanismen?

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Man kann bescheidener ansetzen: bei der Literarisierung des Films auf einer alltäglichen Ebene. Sie ist ein Problem, das objektiv auf die Zersetzung der Filmkultur wirkt und in gleichem Mass auf die Ersetzung der Film- durch eine Kinokultur. Setzen wir einmal: Film sei Erfahrung im noch nicht Bedeuteten, d.h. im Nichtkalkulierbaren; und verstehen wir unter Kino das Gegenteil: eine Strategie der — konsumistisch, ideologisch, medial, freizeit-technisch, bewusstseinsmässig — kalkulierenden Organisation des Betrachters, der sich immer stärker auf die Formung des Films in vorgezogenen Beschreibungen und Erzählungen verlässt, dann läuft das Kino in die genau dem Film entgegengesetzte Richtung. Das Kino ist eine historische Institution, die gesellschaftlichen Lernprozessen ausgesetzt ist, die den Informationswert der Filme stetig zurückdrängen und in die redundante Ordnung der kinematografischen Kultur einpassen. Film als Kino: das wäre ideal nur der erste, oder ideal der ganz andere Film. Oder er würde die ihn immer stärker einschnürende Apparatur dieser eingezonten Filmöffentlichkeit,Kino‘ verändern. Das Kino ist qualitativ aus denselben Gründen immer weniger der reale gesellschaftliche Ort der öffentlichen bewegten Bilder. Es ist der Ort, an dem sich seit geraumer Zeit mit durchschlagendem Erfolg die Oekonomie der Reproduktion des Filmgeschäfts mit der Oekonomie der Wunschbildung im Auge des Betrachters zur Deckung bringen lassen. Die überraschend starken Divergenzen zwischen Film und Kino gehen aus der ständigen Umfunktionierung des Uebermittlungsortes der Ereignisse hervor, die keine reale Veränderung des Ortes bewirkt. Der Ort bleibt träge und die Umfunktionierung undurchsichtig. Die Uebermittlungsorte sind Funktionen einer Oeffentlichkeit, in der die ständige Privatisierung und Auszehrung der nichtprivaten Räume für die gesellschaftliche Dramatisierung von Bewusstseins- und Handlungskonflikten grundlegend ist. Ausserdem sind diese Uebermittlungsorte — wie ein Blick in Semiotik und Kommunikationstheorie zeigt — aktive Quellen für die ästhetische Botschaft. Die Uebermittlungsorte sind im weiteren abhängig von Lernprozessen, individuellen und kollektiven, anonymen und bennbaren. Das Problem des Films heute ist auch ein Problem des gewachsenen Bewusstseins der Rezipienten. Damit sind nicht Filmkenner gemeint, die sich zu besseren Regisseuren aufschwingen (auch wenn es mit Sicherheit immer mehr Betrachter gibt, die in der Lage sind, während eines Filmes Parallelfilme zu inszenieren; die Bruchstellen werden schonungslos ausgenutzt, in denen sich die visuelle Kultur des Umgangs mit Filmen zeigt; diese Bruchstellen, als Abweichungsmöglichkeiten vom Gezeigten, nehmen in einer historischen Tendenz gegenüber einem immer schneller zugreifenden Blick zu). Und es sind auch nicht Filmkritiker gemeint. Die Filmkritiker beschränken sich zunehmend auf die Zusammenfassung der beschreibbaren Inhalte. Filme werden immer stärker zu sichtbaren Anwendungen vorformulierten Varianten. Aus dieser Situation sind keine Auswege: Beschwörung der innovativen Geste, Trauer um das Verschwinden an der Stelle der verblassenden Innovation, Ueberreizung des Dekors als Kompensation der produzierten Formeln (Sex, Gewalt, Exotik). Ebenfalls kein Ausweg ist die Beschwörung des Kinos im Kopf, die immer populärer wird. Da auf allen Seiten mit Verzögerungen, Verschiebungen und Ungleichzeitigkeiten zu rechnen sein wird, könnte sich als einer der Auswege das heute für das Erledigste, Untauglichste und unter dem Zeichen des avantgardistischen Films für untragbar Gehaltene herausstellen. Z.B. die von Kracauer geforderte,Errettung der physischen Wirklichkeit“.

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Denn mit der elektronischen Abbildung inszenierter Wirklichkeiten in der Handhabung der elektronischen Medien, besonders Video auf Kinoformat, kommt eine Entwicklung an einen Endpunkt, welche die mechanische Simulation nicht-realistischer Ereignisse von jeglichem Inhalt abkoppelt. Damit werden Techniken nutzbar, die für die Darstellung von Inhalten übernommen werden können, weil mit der Zeit sich die Darstellung der Formeln als Illusion gegenüber den Kenntnissen der Formeln beim Betrachter herausstellt. Das ist Gegenwart — serialisierte Techniken des Immergleichen, allenfalls in immer höherem Tempo, durchfluten die Bildschirme. Vorerst ist es ein Triumph. Aber die ständige Inszenierung des Nicht- Inhalts unterläuft die Produktionsgrundlagen der simulierten Formeln an dem Punkt, wo der Zuschauer nicht mehr den Film ansieht, sondern, weil er die Tricks kennt, sich imaginär an das Schaltpult setzt und selber Farbpolarisationen, lokales Bühnendesign, Rasterungen, Kontrastschnitte und Ueberblendungen vornimmt. Das sind die Video-Clips heute bereits in den Augen von immer mehr Leuten und das für die computer-aided Abfallproduktionen, die formale Bewegungen und Nicht-Inhalt wollen, entscheidende ist im Grunde die Uebernahme von Fremdmaterial, das umgefärbt, segmentiert, überlagert und auf irgend ein Bedürfnis zugeschnitten werden könnte. Das ist urheberrechtlich verboten. Nur deshalb wird, zum Leid jedes Betrachters, das kinematografische Zitat in diesen Produktionen noch inszeniert. Gerade in den Techniken einer mechanischen Abbildung (der ich die elektronische Simulation zurechne) steckt ein Widerstandspotential. Und das gilt noch dort, wo die avancierten Köpfe diese mechanische Technik gerne als kybernetische sehen. Francis Ford Coppola z.B. träumt davon, Bilder im Kopf des Betrachters neuronal direkt so abrufen zu können, dass die magische Grenze zwischen Auge und Leinwand und zwischen Akteur und Hintergrund endlich überwunden werden und totales Kino stattfinden kann — in riesigen, futuristischen Radio-City-Halls will er, dass die Zuschauer sich ins Geschehen einmischen und denkt, dass typisierte Abläufe auf riesigen Bildschirmen so projiziert werden können, dass der Betrachter auf einen Trip in die Geschichte seines eigenen Unbewussten geschickt werden kann. Umgekehrt wäre durch die direkte Simulation (lassen wir das Problem der fehlenden Umschaltungen einmal weg) der Inszenierungsraum nichts anderes als die externalisierte Schädeldecke. Mit One from the Heart gibt Coppola, ohne neurologische Vernetzung, ein ästhetisches Beispiel der technischen Handhabbarkeit von Räumen, die weder als Aussen- noch als Innenräume eindeutig identifiziert werden können. Aber auch die Filme Walter Hills sind auf denselben Vorgang angelegt: höchste Artifizialisierung der Darstellung bei höchster Serialisierung des Dargestellten. Hill arbeitet nicht mehr mit Realität, sondern mit den Formeln der kinematografisch typisierten Realität. Diese Realität ist keine andere als jene, die unter der Voraussetzung einer automatisierten Identifikation der Formeln durch den Betrachter zustandekommt. Die Formeln stehen nicht mehr für igendeine Art von Realismus, sondern werden zu Chiffren des Identifikationsvorgangs von Darstellung und den Darstellungsformeln der zitierten kinematografischen Zeichen. Diese Entwicklung, die historisch den filmischen Wahrnehmungsapparat ebenso umschichtet wie er einen Schub der Rezeption anzeigt, lässt sich irgendwo in die 70er Jahre datieren. Coppola geht weiter und möchte den Zuschauer als Akteur des Films gerade dadurch einsetzen, dass er ihn zum vollständig durch den Film beschriebenen Objekt macht. Film im Kopf als externalisierter Innenraum. Materialistische Handhabung der Video-Aesthetik, die von der Logik des elektronischen Materials ausgeht; visuelle Simulation des Dekors durch Farbschichtungen auf dem Scanner, Sektorisierung der Zentrierung auf irgendeinem Stück des Raumes. Das ergibt das ungewohnte Vibrieren, das eigenartige eines Innenraums, der zu gross ist für den Innenraum, eines Aussenraumes, bei dem die Sterne immer Scheinwerfer sind, aber als reale Sterne erscheinen. Diese Aesthetik ist verknüpft mit einer unbeschreiblich banalen Story, die als exakt banalisierte die Voraussetzung ist für die Wahrnehmung der Visualisierungsvorgänge und insofern Bedingungen des Gehalts erfüllt. Nun beginnt man sich aber, und zwar ausserordentlich schnell, an die semiotische Schere zwischen immer stärker formalisierten (und als Zitationsritual identifizierbaren) Beschreibungen der Logik des Mediums und den jeglichen Inhalts entkleideten Rahmenhandlungen zu gewöhnen. Und irgendwann wird diese aufwendige Aesthetik des Unwesentlichen — genau das ist ja ihr materialistischer Reiz — sich selber reduzieren auf die Frage nach dem, was sie zu vermitteln dienen soll. Gestritten wird beim Film immer noch, wodurch sein Diskurs in Gang kommt, über den Gehalt, die Identifikation eines WAS.

Gerade weil der Film zur Technik einer Beschreibung des Unwesentlichen und die avantgardistische Einsetzung der Bildtechniken daran messbar wird, wie stark dieses Unwesentliche überhaupt zum Gegenstandslosen wird, wird die Verpflanzung des Films in den Kopf und sein Rücktransport nach Draussen mittels einer neurologischen Explosion auf der CAD-Matrix einer nur simulierten Umwelt uninteressant. Der Kopf nämlich ist im allgemeinen immer noch leer und dürfte sich kaum als entscheidende Quelle für den künftigen Film eignen. An seine Stelle könnten zwei wesentlich interessantere Ereignisse treten, die beide gleichermassen von den Prognosen zum Ende der semiotischen Kultur (oder zum Ritual der Selbstauflösung im aritifiziellen und verflüchtigten Dekor der Illusionen; die angeblich deshalb wirken, weil die technischen Beschleunigungen dem am begriffenen Früheren ermüdenden Bewusstsein immer einen Schritt voraus seien) verdeckt und verdrängt sind. Einmal das Anknüpfen an die politische Aeusserung von Thematiken, die durch Beschwörung der Illusionen auch dann nicht verschwinden, wenn die soziale immer mehr durch eine ästhetische Realität überformt wird. Seltsamerweise wird die Allmacht und Allgegenwart der Medien immer auch so verstanden, als gebe es Stoff nur im und für das Medium. Zum anderen die Aufarbeitung der Geschichte des Films als einer Visualisierung der Formlogik und des filmischen Codes. Beides betrifft die Grundlage für eine Extrapolation der filmischen Gegenwart: den Ort des Kinos. Wieder tritt die geschichtliche Tendenz einer ästhetischen Formation verzerrt und unzeitig ins Bild: als Trivialisierung eines Ortsbewusstseins, das die avangardistischen Techniken in die instrumentellen Bereiche — idiotische Werbung, idiotische Clips, idiotische Heimat — abgeschoben und den Filmern einen Bereich des Wesentlichen gesichert zu haben scheinen: den Gehalt. Heute sind wir immer weniger am Punkt einer totalen medialen Simulation als vielmehr am Punkt einer strukturellen, sichtbar werdenden Aehnlichkeit zwischen den auseinanderdriftenden Bereichen von Technik und Inhalt. Es ist bezeichnend, dass die Versuche, neue kinematografische Techniken an neue kinematografische Orte zu binden, ideologisch wenig mit Kulturindustrie, ökonomisch viel mit Abfallprodukten militärischer Logistik, sozial fast alles mit der Versorgung der systemermöglichenden Arbeitslosigkeit zu tun haben: Vordringen und Zersetzen des normalen Alltags, Computerkultur für Computerkids, funktionelle Analphabeten, Arbeitslose, entleerte Innenstädte, für alle, die nicht in die Alternativbewegung abtauchen. Die Chancen, aus Fassaden Bildschirme zu machen für eine neue urbane Nicht-Oeffentlichkeit einer in alle Ritzen vordringenden Mediatisierung, haben wenig zu tun mit erhärtbaren Prognosen über den Stellenwert der Bilder und der Entwicklung der Filmsprache. Das ist von den substanziell an Gehalten interessierten Filmern zu wenig und meist überdefensiv zur Kenntnis genommen worden.

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Film im Kino, das ist nicht so simpel. Meist habe ich die Wahl, ins Kino zu gehen oder einen Film anzusehen. Die Alternative lässt sich ziemlich genau berechnen. Gehe ich ins Kino, gewärtige ich vorab Massenzeichenware, Unterhaltung, Formalisierung nach Genres. Nicht Filme, sondern Gattungen. Ich erwarte die Bestätigung meiner Gattungsbeschreibungen, bin — angenehm — überrascht, wenn Schematisierungen weiter entwickelt werden. Leicht Abweichungen. Nicht Pervertierungen des Genres — das ist etwas für Bildungsbürger, die auch mal Kino erleben wollen. Ich reihe mich dort aber lieber unter die Kinobesucher, die unterhalten, nicht aufgeklärt werden wollen. Vor allem nicht am Freitagabend. Das Kino ist ein Ort, der definiert ist durch zeitliche Differenzen zu der Benutzbarkeit anderer Orte. Ein Infrastrukturproblem also. Zu langweilig, um gediegen Essen zu gehen, zu schlechtes Wetter, um einfach draussen zu sitzen. Zu früh, um in halbdunkle Lokale abzutauchen. Zu wenig Gier, sich irgendwo zu zeigen. Im Kino spielt das Publikum eine entscheidende Rolle, wogegen der Film idealtypisch, seiner Substanz nach, ausserhalb des Publikums angemessen umschrieben werden kann. Für mich hat das Publikum die Rolle zu spielen, möglichst kompetent auf Triviales zu reagieren, Erhöhungen des Tempos mitzuhalten, Sicherheit in der Zerstreuung zu zeigen. Kurz: aus dem Kino eine Aura zu machen, die der Film mit guten Gründen zersetzt. Ich kalkuliere mit einer weggeworfenen Zeit. Die Ueberlegung zielt woanders hin, auf anderweitig nicht Nutzbares. Umgekehrt beim Film: Studium des Angebots, Rückschlüsse über Namen, Ueberfliegen der Auskünfte und Rezensionen, Abwägen des Trotz-oder-Wegen-einer-Beschreibung-Hingehens. Kalkulation über einen erwartbaren Gehalt, keine Kalkulation von Zeit. Und immer wieder ein, immer wieder dasselbe sichere Ereignis: Aerger übers Publikum. Nichts störenderes als jenes Publikum, das in seiner unersättlichen Gier nach Kultur in die Studio- und Essay-Kinos tappt, nutzlose Erwartungen, unnütze Reaktionen. Immer wird zu spät gelacht; wie einfach der Plot auch immer, keine einzige gleichzeitige, angemessene Aeusserung. Das geht mir seit Jahren so und ich denke nicht, dass es nur mir so geht. Die um Kultur Beflissenen nämlich stemmen dem Film eine Aura entgegen, die sich den wenigen ästhetischen Einwirkungen entziehen will, die die eigene Belesenheit übersteigen. Das Publikum stellt sich zwischen den Blick und den Film. Dort, wo das Publikum den Weg zurück in den Blick findet, dort ist der ästhetische Gipfel der kinematografischen Filmkunst der Gegenwart erreicht.

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Irgendetwas läuft schief im Kino. Oder sind es bloss unsere Erwartungen? Woher haben wir die? Ist es schon ein Zeichen von Leben, wenn gegenüber Filmen sonst längst verabschiedete Ansprüche ins Spiel kommen? Bei den Filmen, so ist dann zu hören, komme es eben aufs Besondere, ja aufs Einzelne an. Aber das wird schon dort schwierig, wo ein Blick aufs Einzelne gerichtet werden soll, weil die Resignation gegenüber einer real anderen Oeffentlichkeit und einer politischen Indienstnahme audiovisueller Medien für revolutionäre Befreiung von Unterdrückung und Unmündigkeit mit Ritualen sogenannter konkreter Sentimentalität zugedeckt werden soll. Erst recht dort, wo man früher zu Recht jeden Film in eine unabschliessbare Kette eines filmischen Diskurses eingereiht hat, in dem es um nichts weniger ging als darum, mittels der avancierten Technologien ein universales Bewusstsein über Geschichte zu erkämpfen. Und zwar gegen die Kulturindustrie. Heute hat sich nicht der Kolonialismus geändert, nicht die Terrorisierung des symbolisch verfahrenden Geschichtsbewusstseins und seine Ersetzung durch konditionierte Signale für nicht-distanzierende Sentimente. Geändert haben sich bloss die Einstellungen. Aber jeder Film ist ein Beitrag zu einem Diskurs, der auf einer anderen Ebene erst noch erzählt werden muss. Etwas anderes als visuelle Vorschläge zur Aneignung von Weltbezügen sind Filme nie gewesen. Auch heute nicht. Bloss dominiert das Kino und die Erkennbarkeit steht als eherner Bezug im Raum, nicht mehr die visuellen Vorschläge für eine sich selbst ungewisse Wahrnehmung, die an der Komplizierung der eigenen, unbewussten Mechanismen interessiert gewesen ist, auf dass deren Darstellung zu ihrer Veränderung führen solle. Nicht wenige Filme werden heute als Offenbarungstitel gehandelt. In den Augen von Kritikern und Rezipienten geht es nicht mehr um Anverwandlung, es geht um Filme, die keiner Interpretation mehr bedürfen, Filme, die endlich den Fortgang der komplizierten Welt unterbrechen und den Stillstand der unruhigen Zeichen erzwingen.

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Warum eigentlich sind die vor einigen Jahrzehnten entstandenen öffentliche Orte der Uebermittlung bewegter Bilder und synthetisierter Abläufe immer noch Orte einer filmischen Erkenntnis, die nicht in Sätzen gebildet, sondern als satzübergreifende Bedeutungseinheit übermittelt wird? Dass die filmische Erkenntnisform satzübergreifend zustande kommt (wie übrigens jeder strukturierte Text), macht ihre Modernität und ihre Beispielhaftigkeit aus. Seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts, seit Gottlieb Frege, gilt als Kernstück der philosophischen Wissenschaftstheorie die These, dass Erkenntnis sich in Sätzen bildet. Diese Wissenschaftstheorie ist für die naturwissenschaftliche Technologie des Wissens bestimmend geworden und damit für Alltag und soziale Existenz im ganzen. Die Gegenposition nimmt die avancierte ästhetische Theorie, erstmals im Umkreis der Prager strukturalistischen Schule, ein. Sie ist für den sowjetischen Montagefilm und später für den französischen Strukturalismus wichtig geworden. Leitend ist in dieser Theorie die Auffassung, dass Zeichen in Sprache gründen und dass Sprache wie Artikulation eine unbewusste, aber signifikant strukturierte Tätigkeit darstellen. Die strukturelle Tätigkeit ist das Denkmodell des zeichensetzenden Menschen, des,homo significans“. Sie gibt die Bedingungen der Repräsentation der Objekte auf der realen Ebene der Vernetzung von Wahrnehmung, Bewusstsein, Artikulation und Denken an und rekonstruiert somit die ins Bewusstsein gehobenen konstituiven Vorgänge des Unbewussten. Der Film und sein Diskurs sind nicht blosse Orte. Sie sind mehr und eher die zugleich gegenständlichsten wie abstraktesten Felder einer struktrualistischen Tätigkeit. Deshalb haben sie Philosophie und Wissenschaft in ihrem Einfluss auf die Lebenswelt abgelöst und sind Fortsetzungen der philosophischen und wissenschaftlichen Strategien. Wenn ich recht sehe, dann ist Alexander Kluge einer der wenigen, der das begriffen hat. Filmisch begriffen und philosophisch begriffen hat, um im Vorgang des Begreifens zum Filmischen zu kommen. Die Filme sind dem Artikulationsgrund der Sprache am nächsten. Aber warum immer noch an denselben Orten? Vermutlich aus Phantasielosigkeit, d.h. aus einem Nicht-Bedarf. Aber das ist keine rechte Antwort. Eine Antwort liefert der kommerzielle Film, obwohl angesichts der jüngsten Triumphe der Autorenfilmer Abgrenzungen dazu immer schwerer fallen und überhaupt nicht so recht verständlich ist, weshalb der ernsthafte ein prinzipiell anderes Kino meinen soll als der Unterhaltungsfilm. Eine andere Antwort liegt in der Ueberlegung, dass im Kino im Grunde immer schon zwei verschiedene Geschichten erzählt worden sind. Die eine liefert die Darstellung der Welt. Die andere liefert die über die Transparenz der technischen Faktur vermittelte Einsicht in die Darstellbarkeit der Welt und auf diesem Wege, gradlinig weiterschreitend, die zwingend praktisch-vernünftig formulierte Einsicht in die Machbarkeit der Welt nach eigenen Zwecken. Die Verknüpfung dieser beiden Geschichten, einer realen und einer symbolischen, ist lange Zeit plausibel gewesen. So plausibel, dass vielleicht nicht einmal kenntlich wurde, dass es sich nicht um eine einzige Geschichte handelt. Plausibel ist die Verknüpfung heute nicht mehr. Und deshalb wird fraglich, ob-sie es der Sache nach je gewesen ist.

Aber es war ein schönes Modell: die Kamera stellvertretend als eine die Materie bearbeitende Apparatur, die nach Belieben zerlegt, zertrümmert, vergrössert, verkleinert, heranholt, entfernt (fragt sich nur für welches Auge). Das hat nicht nur Walter Benjamin verführt, ein zweites Mal jene Aura des singulären Ortes zu zertrümmern, an dem allein sich ästhetische Erfahrung bilden lässt. Benjamins in die Sprache einer emphatischen Bemächtigung der Geschichte gekleidete Theorie von der erkenntnisfördernden, da ihre Erscheinungsform zertrümmernden Reproduzierbarkeit der Kunstwerke ist aber im Grunde nicht optimistisch, sondern höchst trauervoll. Er meint, über die reproduktive Zerlegung würden die Dinge abhängig von einer neuen Einheit des kollektiven Subjekts, des übers Auge vergesellschafteten Menschen, der sozusagen notwendig aus der kritisch-analytischen Apparatur hervorgeht, einer Art die Realität zertrümmernden Maschine. Die Kamera ist diese Maschine, das projizierende Kino das Auge. Die Verbindung ergibt das Subjekt: restlos entdämonisierte und entmachtete Dingwelt, kritisch beschreibende Subjektivität. Benjamins Theorie beschreibt auch die Beschreibbarkeit des Films, der an seiner Beschreibbarkeit zugrundegeht. Benjamins Theorie bleibt richtungsweisend. Er reisst Fragelinien auf, für die richtige oder falsche Beantwortung sekundär, nämlich durch den Leser falsifizierbar sind. Aber vielleicht ist gar nicht die zweite sondern die erste Aura das Problem, die Beziehung zu den primären Bildern und zur Distanzierung von der Natur? Vielleicht ist dort schon etwas angelegt (ein unauflösbarer Widerspruch zwischen Erkenntnis als Distanzierung und einer intensivierten Nähe, der allein sich Geheimnisse erschliessen würden), was in der Theorie der filmisch hergestellten Praxis einer kinematografisch organisierten Vernunft bloss zum Ausdruck kommt? Die Spannung von Distanzierung und Nähe, Reflexion und Emotion, wird bei Benjamin durch die Konstruktion einer definitorisch gesetzten Figur übersprungen. Ohne diese Figur bricht die Argumentation in sich zusammen. Die Vernunft nämlich findet Gestalt im Betrachter, der kollektiv ist und dessen Konzentration zugleich das Höchstmass an Zerstreuung darstellt. Eine Einheit von Chaplin und Eisenstein. Aber das wäre nur der Anfang. Das Ende: die Ueberwindung des Kinos. Der Kern von Benjamins Theorie ist, dass die filmische Organisation eines über- und transpersonalen Bewusstseins sich von einer bloss partikularen Arbeit an Zeichen dann emanzipieren könnte, wenn die Zeichen mit der Nennung der Namen die in allen Dingen gefangene und verborgene Gestalt des Eigentlichen freisetzen. Deshalb bei Benjamin die Verknüpfung von jüdischem Messianismus und Medientheorie, deshalb das Problem der ersten Aura und deshalb auch die Konzeption einer zweiten Aura, in der eine analytische Maschine die Dinge entzaubert. Deshalb auch der Film als Erkenntnistheorie und Philosophie. Benjamin war kein Optimist. Er hat nicht an die Vernunft der Geschichte geglaubt, positivistisch ohnehin nicht. Am Film mag ihn das metaphysische Aufblitzen der Wahrheit, ihr transitorisches und zugleich vergängliches, ihr unersetzbares, autonomes und singuläres Moment interessiert und zu jener Vision von einer kollektiv konzentrierten Zerstreuung verleitet haben. Bloss: die Organe haben sich entwickelt. Das Auge hat sich in eine militärische Apparatur aufgelöst, die, ohne subjektive Beobachtung, an Kriegserklärungsmaschinen angeschlossen und mit Vernichtungsautomatismen koordiniert wird. Was heisst ent-auratisierte Erfahrung, wenn Satelliten aus beliebiger Höhe im detailtreuen Massstab 1 : 1 jedes 30 mal 30 cm grosse Stück Erde abbilden können? Und der ideale kollektive, zerstreut-konzentrierte Zuschauer sitzt heute nicht vor Filmen, sondern im Kino, und zwar dummerweise bei James Bond. Ende und Endpunkt der Aufklärung? Ende oder Wahrheit der Filmkultur? Oder haben wir uns zu lange zu unbesehen jene Geschichte von der Zusammengehörigkeit der zwei Geschichten, die auseinandergedriftet sind, erzählt?

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Wenders ist froh, endlich einen Film gemacht zu haben, der ihn nicht mehr zum Nachdenken zwingt. Alain Tanner wollte einen Film drehen, der keine Botschaft enthält (auch wenn natürlich jede Einstellung eine Menge Botschaften repräsentiert, erst recht, wenn keine artikuliert werden sollen). Und sonst? Das angeblich demokratische Medium VIDEO hat die Bürgerrechts- und Widerstandsbewegungen überrollt und sich gemütlich in den Bürgerstuben eingerichtet. Auch die Demokratisierungsagenturen des alternativen Videos wollen zu ihrem höchsten Glück Clips aufzeichnen. Und TV, Kabel? Sind zunächst nicht Orte, sondern Nicht-Orte von Kino und Film zugleich, Ausdruck der sozialen Verelendung. Aber all das ist noch nicht die substanzielle Preisgabe alles Politischen. Vorerst ist es bloss dessen Verdrängung. Eine gewaltige, gewaltsame, aber: eine Don-Quichotterie. Dass die technisch avanciertesten Filmer heute nicht mehr Filme machen wollen, sondern allein die Fortsetzung eines Kinos, das sich aus bereits bezeichneten Strukturen wieder Zeichenmaterial für die Beschreibung von Kino zurechtzimmert, ist auch nicht das Ende des Films, sondern vorerst nur Ausdruck davon, dass den Filmen die Stoffe ausgehen. Aber das heisst nicht, dass überhaupt keine Stoffe mehr da sind. Und doch ist die Rede vom Ende der filmischen Kultur keine Fiktion. Die Divergenz von Film und Kino, die nicht allein die Welt, sondern die Filme als Kopie von Filmen erscheinen lässt, macht aus der Realität mediatisierte Beschreibungen. Das ist — gerade im Zeichen der Medienflut — nicht ein Triumph von Film und Kino, sondern der Kontinuität der Schrift als Herrschaft. Gerade die bildschaffenden Medien zeugen heute dafür, dass kein Ende des Zeitalters der Schrift absehbar ist. Der Zuschauer hat die Störungen in der Beschreibbarkeit der Welt — das Zerren und Rauschen, das emphatisch als Desinformation der Befehlskanäle (nicht nur von Marshall McLuhan) begrüsst worden ist — unterlaufen und überholt. Walter Benjamin setzte auf den Anspruch jedes einzelnen Menschen, gefilmt zu werden. Exakt das ist geschehen. Am Film lernen wir immer mehr, dass es keine ungefilmten Orte und vermutlich auch keine Menschen mehr gibt, deren Geschichte nicht, nicht der Episode, aber der Substanz nach, bereits verfilmt worden wäre. Aber vielleicht ist das gar nicht der Punkt: für alles existieren Räume, aber es fehlt an Zeit. Solange die Medien Organisationsformen des Mangels an Zeit sind, solange ist ihr Scheitern eine qualitative Frage. Was heute im Banne der audiovisuellen Simulationstechniken als Triumph des Menschen über die besiegte Materie, zu der ruhig das Gehirn gerechnet werden darf, anvisiert wird, wird scheitern. Noch keine Delegation an Apparaturen und noch keine Substitution der Kommunikation durch ein blosses Medium ihrer Uebermittlung sind langfristig gelungen. Aber es gibt reale Erfahrungen. Und es gibt Siege, die Niederlagen sind. Benjamin, ein weiteres Mal, notiert irgendwo im,Passagenwerk, in dem er u.a. eine Urgeschichte des kinematiografischen Blicks rekonstruiert:,wie sind doch mit den Mitteln ihres triumphalen Aufbaus die Mittel zur Vernichtung der grossen Städte ins Unermessliche gewachsen“. Der Triumph einer medialen Vernichtung der Wahrnehmung an ihrer funktionalen Basis, die Zerstörung der ästhetischen Vernunft, die Liquidation der kritischen Funktion der Zeichen, an der sich seit der Urgeschichte das Bewusstsein des Menschen im Spiegel seiner Geschichte entwickelt hat, ist das Eingeständnis der präventiven Notwendigkeit, sie zu zerstören. Aber das beruhigt auch nicht sonderlich. Denn ein qualifizierter Untergang kann leicht an seinen technologischen Bewerkstelligungen zerbrochen werden. Das produktive Geschäft der Zertrümmerung des falschen Scheins, der kaum mehr ideologisch angepackt werden kann, weil er nichts anderes ist als die Simulation der realen Welt, der er sich unterlegt, muss neu angegangen werden. Die Rede vom bewaffneten Auge ist nie eine Metapher, immer schon eine Kriegstechnik gewesen. Das filmisch bewaffnete Auge ist heute keine Waffe mehr. Unter anderem weil es kein Auge mehr ist, sondern bloss noch eine Kamera. Aber es gibt andere Waffen. Erst recht in Situationen, in denen die Kamera noch nie eine Waffe gewesen ist, sondern eine Ausblendung des Eingreifens. Man kann nicht gleichzeitig den Drücker eines Gewehrs und den Auslöser der Kamera bedienen. Heute, wo die kriegerische Strategie mit kinematografischen Mitteln nicht mehr in fremdes Territorium, sondern in das Feld der Zeit eindringt (Ueberbrückung der möglichen Prävention des Feindes; Zusammenzug der Weltgeschichte auf eine minimale Spanne — das ist kein Zeitraum mehr, sondern der Zusammenbruch des Raum-Zeit-Kontinuums, der nur noch statistische Rechnungen ermöglicht, aber eben auch den Automatismus des Wahrscheinlichen in Gang bringt), verändern sich die möglichen Waffen. EINE mögliche Antwort liegt in einer Richtung, welche die territorialen Kämpfe und Strategien (zu denen auch Ort und Oeffentlichkeit des Films zählen) durch Kämpfe gegen Infrastrukturen ablöst. Dazu gehören auch Boykott und Sabotage der audiovisuellen Medien. Das wäre ein konstitutiver Teil der Entwicklung einer Mediatisierung unserer ganzen Wahrnehmung und Kultur. Die Umwandlung der Herrschaft der Medien in ihre Zerstörung ist eine nächste, nicht mehr an den Raum und die Repräsentanz des Räumlichen gebundene Aeusserung, sondern eine an Zeit gebundene Benutzung des Medialen und seiner Bilder. Räume gibt es für fast alles. Bloss scheint es, als wüssten wir nicht recht, wie wir eigentlich leben wollen.

Hans Ulrich Reck
1953, lebt und arbeitet in Basel, Dozent für Kunstgeschichte und visuelle Kommunikation an der Basler Schule für Gestaltung.
(Stand: 2019)
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