ALEX BÄNNINGER

SCHWEIZER FILMLABORS — EINE WÜRDIGUNG AUS SCHLECHTEM GEWISSEN

ESSAY

Edgar Schwarz hätte dieses Kapitel schreiben müssen — und ohne schlechtes Gewissen schreiben können. Er hat die Leistungen und Probleme, den Stolz, die Zuversicht und die Aengste der Labors als Mitbegründer und Geschäftsführer der Schwarz-Filmtechnik GmbH und der Sonorfilm AG in Ostermundigen gelebt: vorgelebt im Sinne der Vorbildlichkeit, menschlich und fachlich. Er hat Filme entwickelt, technisch gesprochen, und er hat den Schweizer Film entwickelt, als Förderung verstanden; er hat gearbeitet, gehandelt, geholfen. Geschrieben hat er kaum etwas. Aber durch ihn in erster Linie haben wir die Bedeutung der Labors begriffen und ihre Sorgen mitbekommen. Erfasst haben wir sie wahrscheinlich nur zu Teilen.

Auch Jean-Jacques Speierer, Direktor der Cinegramm SA in Genf und Zürich, wäre für dieses Kapitel als Labor-Autorität ein kompetenter Autor gewesen. Er hat sich immer wieder zu Wort gemeldet, mahnend und kämpferisch. Er hat als Filmpolitiker neue Ideen lanciert zur Verbesserung der Filmfinanzierung: den Schweizer Film im Auge und durch ihn das Gedeihen und den Fortbestand der Labors.

Ignoranz mit Tradition

Dass hier Speierer, der Kaufmann, nicht zur Aeusserung eingeladen worden ist, entspricht der Tradition schweizerischer Filmpublizistik. Es darf deshalb angenommen werden, dass auch Schwarz, der Techniker, selbst wenn er noch lebte, nicht zum schreibenden Mitmachen aufgefordert worden wäre.

Dabei wissen wir doch alle: Ohne Labors, ihre Leiter und Mitarbeiter, gäbe es den Schweizer Film mit seiner kulturellen Identität nicht. Um so schwerer ist es verständlich, dass sie in der journalistischen Neugier, in der historischen Forschung, in der publizistischen Auseinandersetzung eine völlig untergeordnete Rolle spielen.

Die Informationsreihe der Solothurner Filmtage1, die über Jahre schweizerisches Geschehen und Ungeschehen im Film spiegelt — dies jedenfalls vorgibt —, hat die Labors ausgespart, übersehen, vergessen. Kaum eine einschlägige Zeile findet sich in der Zeitschrift CINEMA2, obwohl sie sonst schweizerischen Filmproblemen intensiv, oft mit seismographischer Fähigkeit nachgespürt hat. Auch Freddy Buache bringt es in seinem geschichtlichen Werk Le cinéma suisse3 hinsichtlich der filmverarbeitenden Betriebe nicht mehr als auf Beiläufigkeit. Gleiches gilt für Der Schweizer Film* von Werner Wider und Felix Aeppli. Selbst Thomas Maurer, dessen Filmmanufaktur Schweiz - Kleine ökonomische Entwicklungsgeschichte5 sicher vom Titel her Erwartungen weckt, streift die Labors gerade noch am Rande. In Charles Reinerts Kleinem Filmlexikon6 werden die Labors zwar nicht in ihrer umfassenden Bedeutung erklärt, aber immerhin in ihrer apparativen Aufgabe. Buchers Enzyklopädie des Films7 ist ganz und gar keine Fundgrube.

Soweit diese Feststellungen einige Verwunderung und einige Vorwürfe enthalten, will ich mich selber nicht ausschliessen. Während meiner vierzehnjährigen Tätigkeit in der Sektion Film des Eidgenössischen Departements des Innern habe ich es auf ganze drei Laborbesuche und weder auf einen einzigen Vortrag noch einen einzigen Zeitungsartikel zum Thema der filmtechnischen Betriebe gebracht. Ich habe rückblickend ein ungutes Gefühl. Ein solches muss auch die Eidgenössische Filmkommission verspüren, die für Laborangelegenheiten bloss sporadisch und auch dann wenig Zeit aufwendete.

Infrastruktur und Industrie

Auch dies hat seine Tradition. Weder bei der Aufnahme eines Filmartikels in die Bundesverfassung8 noch bei der Schaffung eines eidgenössischen Filmgesetzes9 waren die Labors ein entscheidender, ja nicht einmal ein besonderer Faktor. Die Diskussion drehte sich um die Produktion im engeren Sinn, um Filmeinfuhr und Verleih, um Filmerziehung und Kino. Es mag sein, dass es den Labors Mitte der fünfziger und Ende der Sechziger Jahre glänzend ging: wie Verleih und Kino, die dennoch gesetzgeberisches Interesse und staatliche Fürsorge fanden.

Die Labors gehörten in den Sektor der Zulieferbetriebe, ohne anerkannten Einfluss auf die Ausgestaltung des Schweizer Films und des Films in der Schweiz.

Infrastrukturelle Erörterungen blieben für die offizielle Filmpolitik beschränkt auf das Für und Wider von Tonfilmstudios, auf das Für und Wider deren Subventionierung. Es war dies ein letzter Rest jener Debatte, die 1935 und 1936 mit Vehemenz um die Gründung einer einheimischen Filmindustrie ausgetragen worden war. Damals initiiert nicht etwa von Fachkreisen, sondern von der Schweizerischen Verkehrszentrale mit der Begründung:

Für die Schweiz ist nun aber der Film von ganz besonderer Bedeutung, da die Schweiz vom Fremdenverkehr schicksalsmässig abhängig ist.10

Der Feuerreifer für eine Industrialisierung klang ab und glimmte 25 Jahre später lediglich noch in der bundesrätlichen Botschaft zum Filmgesetz11:

Wir haben schon erwähnt, dass das Fehlen eines modernen schweizerischen Tonfilmstudios sowohl für die Spielfilm- wie auch für die Dokumentarfilmproduktion ein erheblicher Nachteil ist. In Anbetracht unserer zahlenmässig bescheidenen Filmproduktion ist es wirtschaftlich unmöglich, dass jeder Filmproduzent sein eigenes Aufnahmestudio besitzt, wie dies z. B. in den Vereinigten Staaten von Amerika und in England der Fall ist. Denkbar ist, dass sich die schweizerischen Filmproduzenten zusammenschliessen und gemeinsam ein Tonfilmstudio betreiben. Nach Ansicht der Fachleute liesse sich höchstens ein Tonfilmstudio pro Sprachgebiet unseres Landes rechtfertigen. Der Gesetzesentwurf sieht nun vor, dass der Bund Beiträge an die Betriebskosten von schweizerischen Tonfilmstudios gewähren kann.

Diese Bestimmung, seit 1963 in Gesetzeskraft12, ist nie für ein Subventionsgesuch angerufen worden. Der neue Schweizer Film ereignete sich nicht in der kalifornischen Denkweise des Studios.

Rückhalt bei den Labors

Er fand seinen — bescheidenen — infrastrukturellen Rückhalt bei den Labors. Produktionsgesellschaften kamen und gingen, geblieben sind die filmtechnischen Betriebe, die dem Filmschaffen mit ihrer Erfahrung, ihrem handwerklichen Können und ihrem finanziellen Vermögen eine Basis boten: von allem Anfang an überzeugter von der neuen Filmgeneration als Bund, Kantone und Städte, als Verleih und Kino; von allem Anfang an bereit zur kontinuierlichen Zusammenarbeit, früher und entschiedener als öffentliche Hand und Filmwirtschaft.

Es ist deshalb mehr als nur eine nachlässige Gewohnheit, die Labors als „filmverarbeitende“ Unternehmen zu bezeichnen. Sie haben den Film mitgeschaffen, mitgetragen, mitgefördert; sehr viel häufiger könnte das, was Verleih und Kino dem neuen Schweizer Film angedeihen liessen, als „filmverarbeitend“ bezeichnet werden: als verheizend, verbrauchend, durch ein System spedierend.

Ging es um Garantien für Know-how und Kredit, waren die Labors zur Stelle. Sie waren oft die ersten, die einem Produzenten oder Regisseur tatkräftig Vertrauen schenkten, und nicht selten die letzten, die mit einem Filmschaffenden die Hoffnung auf Erfolg oder doch wenigstens auf bezahlte Rechnungen teilten. Es verwundert deshalb nicht, dass ein hoher Prozentsatz eidgenössischer Qualitäts- und Studienprämien nach Ostermundigen, Genf und Zürich wanderte, um offene Schulden zu decken. Der Posten „Laborkredit“ fand sich in der Mehrzahl der Finanzierungspläne, die die Subventionsgesuche bei der Bundesfilmförderung zu begleiten haben.

Technische Innovation

Die geistigen, künstlerischen Träger des Schweizer Films waren aufs engste verbunden mit den Labors, die sich ganz auf die Bedürfnisse — auch auf die sich wandelnden — des Filmschaffens einstellten. Hätte das Dreisäulenprinzip der Finanzierung — Bund, SRG, Private — in gleicher Weise funktioniert wie die technische Unterstützung, wäre der Film unseres Landes in voller und ungefährdeter Blüte.

Der fördernde Beitrag der Labors manifestiert sich besonders deutlich in der Innovation des Blow-up, die das „Aufblasen“ von 16mm-Material auf die kommerzielle Vorführbreite von 35mm erlaubte. Es war dies bahnbrechend. Die Erfindung und Perfektionierung des Blow-up war Voraussetzung für das Drehen mit leichtem Apparat und bescheidenem Budget, ohne auf die Filmauswertung im Kinostandard verzichten zu müssen. Eine Alternative stand zur Verfügung. Noch mehr als dies: es war der Weg geöffnet für eine spezifische Variante schweizerischer Filmproduktion, die ein Höchstmass an wirtschaftlicher Unabhängigkeit sicherte und damit kulturelle Unabhängigkeit gewährte.

Wenn es eine charakteristische „Schule des Schweizer Films“ gibt, dann haben daran die Labors wesentlichen Anteil. Von ihnen geht die Prägung einer schweizerischen Filmdramaturgie aus.

Teure Qualität

Das hohe Leistungsvermögen der Labors hatte seinen Preis. Die Tarife lagen über jenen der ausländischen Konkurrenz. Schnitt und schneidet die Schweiz im Qualitätsvergleich hervorragend ab, so liegt sie im Preisvergleich denkbar ungünstig. Es kam zur steigenden Versuchung, die Laborarbeiten jenseits der Grenzen ausführen zu lassen. Die Möglichkeit des Koproduzierens mit Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland hat diesen Trend verstärkt. Schweizerische Laborqualität ist im doppelten Sinne unbezahlbar geworden.

Koproduktionsverhandlungen mit unserem westlichen und nördlichen Nachbarn gerieten beim Punkt der technischen Filmverarbeitung regelmässig ins Stocken. So berechtigterweise und verständlicherweise unsere Labors auf Reziprozität pochten, so dornenvoll war die Durchsetzung dieses Begehrens. Konzessionen blieben unvermeidlich. Denn auch unsere Filmschaffenden hatten aus finanziellen Ueberlegungen kein Interesse daran, den schweizerischen Labors im Wege des Koproduktionsvertrages gewissermassen ein Monopol zu sichern.

Der Zielkonflikt — kostengünstige Filmproduktion einerseits, Berücksichtigung schweizerischer Labors andererseits — wurde zunehmend unlösbar. Die Schwierigkeit hätte sich unter der Bedingung überwinden lassen, dass die Eidgenossenschaft höhere Produktionsbeiträge gewährte. Solcher Lösungsansatz blieb Theorie. Das Dilemma zeigt sich ebenso klar wie unbefriedigend bei der Herstellung von Archiv-Kopien für die mit einer Qualitäts- und Studienprämie ausgezeichneten Filmen. Gerechtigkeit und Logik der staatlichen Förderung hätten es gewollt, diese für die Aufbewahrung im Schweizerischen Filmarchiv bestimmten Kopien von eigenen Labors ziehen zu lassen. Nur: die schweizerischen Offerten lagen doppelt so hoch wie die ausländischen. Das Preisdiktat war stärker als die politische Einsicht, den schweizerischen Labors Verdienst und damit Fortbestand zu sichern.

Zu Unrecht. Denn im gleichen Masse, in dem unsere Labors kalkulatorische Tatsachen geopfert werden, erhöht sich die Abhängigkeit von ausländischen Betrieben. Aus dem hohen Kopienpreis könnte sich rasch ein zu hoher politischer Preis entwickeln. Noch besitzen unsere Filmschaffenden die Wahl, ein einheimisches oder ein ausländisches Labor zu berücksichtigen. Fällt diese Alternative dahin, wächst die Stärkeposition der ausländischen Unternehmen.

Die Dominanz der Elektronik

Für viele sind solche Erwägungen ein Streit um Kaisers Bart. Denn die Verdrängung der Kinematographie durch die Elektronik sorge ohnehin dafür, dass die Tage der Labors gezählt seien. Dies sei so ausgemacht wie das Ende der noch mit Bleisatz hantierenden Druckereien.

Auf einen ersten Blick trifft dies zu. Der elektronische Film wird den kinematographischen überrunden, ablösen, letztlich verdrängen. Ob Fortschritt oder einfach Veränderung: die Labors tragen ihren Existenzkampf aus. Als einer, der in der technologischen Umwälzung künstlerische, kommunikative Chancen erkennt, halte ich mit Nüchternheit fest, dass für die Labors herkömmlicher Art die Schicksalsstunde geschlagen hat. Schon heute gibt es Filmproduzenten, die dank der Elektronik vom Drehbuch bis zur Vorführkopie in gänzlicher Autonomie arbeiten, weder auf ein Labor noch auf ein Ton- oder Trickstudio angewiesen. Diese Ausnahmen werden zur Alltäglichkeit.

Aber eines Tages werden wir uns gewahr — dessen bin ich sicher —, dass die Vorführqualität elektronischen Materials aus physikalischen Gründen jener der kinematographischen Bildträger unterlegen bleibt. Es ist dies eine Frage des Auflösungsvermögens. Der erwähnte Mangel liesse sich beheben durch Uebertragung der elektronischen Software auf kinematographische. Dieser Rückschritt, sagen Experten voraus, wäre ein Fortschritt: eine optimale Kombination der Vorteile der Elektronik mit jenen der Kinematographie.

Ob wir dannzumal wieder leistungsfähige, experimentierfreudige Labors brauchen? Ob wir deshalb alles unternehmen sollten, sie vor der Liquidation zu bewahren? Ich meine, besessene Handwerker seien immer ein Segen gewesen.

Information 1978-1982, hg. Schweizerische Gesellschaft Solothurner Filmtage, Solothurn

CINEMA, Unabhängige schweizerische Filmzeitschrift, hg. Arbeitsgemeinschaft CINEMA, 1974 ff.

Freddy Buache, Le cinema suisse, Lausanne 1974

Werner Wider, Felix Aeppli, Der Schweizer Film 1929-1964, Zürich 1981

Thomas Maurer, Filmmanufaktur Schweiz - Kleine ökonomische Entwicklungsgeschichte, Zürich 1982

Charles Reinert, Kleines Filmlexikon, Einsiedeln und Zürich 1946

Buchers Enzyklopädie des Films, München und Luzern 1983

Artikel 27ter der Bundesverfassung

Bundesgesetz über das Filmwesen (SR 443.1)

Werner Wider, Felix Aeppli, a.a.O., Bd. 2, S. 40

Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zum Entwurf eines Bundesgesetzes über das Filmwesen, 28. November 1961, S. 16

Art. 5 lit. b des Bundesgesetzes über das Filmwesen

Alex Bänninger
Geboren in Stettfurt TG, ist Publizist und Autor von Büchern über Kultur, Architektur und Medien. Nach dem Rechts- und Wirtschaftsstudium an der Universität Zürich war er redaktioneller Mitarbeiter der NZZ, Mitglied der Direktion des Bundesamtes für Kultur und Delegierter bei der OECD, der Unesco und beim Europarat. Er war Kulturchef des Schweizer Fernsehens und Lehrbeauftragter an der Universität Zürich. Reisen und Aufenthalte in Europa, Amerika, Asien und Australien.
(Stand: 2019)
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