PETER SCHNEIDER

DANS LA VILLE BLANCHE (ALAIN TANNER)

SELECTION CINEMA

Tanner erzählt eine Geschichte, die weniger durch eine im Kopf evozierte Denkbewegung zusammengehalten wird, sondern durch den ruhigen Rhythmus der Montage und die unmittelbare athmosphärische Dichte der gewählten Impressionen. Die Parabel ist fast gänzlich - bis auf das Vorlesen von literatursprachlich abgefassten Briefen - in organisch und real erscheinenden Situationen und zwei glänzenden schauspielerischen Darbietungen aufgehoben. Die Geschichte liest sich ganz selbstverständlich aus den Gesichtern von Bruno Ganz und Teresa Madruga ab. Beide Schauspieler agieren unaffektiert und natürlich, Madruga als selbstsichere, vitale und sinnliche Frau, Ganz als oft kindlicher, unbeholfener, gerade dadurch liebenswerter Matrose. Tanner lässt diesen mit heraufgezogenen Mundwinkeln in Lissabon ankommen und führt ihn in die Heimatlosigkeit eines Hotelzimmers. Aus dieser unbestimmten, toten Situation, dem Nichts, soll sich das Leben als reines, unschuldiges Ereignis ergeben.

Fast beiläufig entwickelt sich eine Liebesgeschichte zwischen dem Gast und der portugiesischen Angestellten. Ueber der sich ungezwungen ergebenden Beziehung lastet drohend das Schweigen des Matrosen, der sich mit diesem Verschweigen die Liebe und die Freiheit zugleich zu bewahren versucht. Der romantisch streunende Matrose steht in Briefkontakt mit seiner Frau in Basel, er provoziert sie mit Super-8-Filmen, auf denen seine Geliebte erscheint, naiv und blind für den anderen auf ein Verständnis hoffend, das über die Subjektivität der Eifersucht hinausgehend ihn in seiner Kindlichkeit begriffe. Der, der sich zum Spielball machen möchte, der sich Freiheit durch ein Nichteingreifen ins Leben bewahren will, läuft buchstäblich ins Messer der Realität: Der Matrose wird von einem Dieb niedergestochen, er wird von der Portugiesin, auf deren ganz konkreten Ernst der Gefühle er nicht zu antworten vermag, verlassen, er erhält Briefe von seiner Frau, deren souveräne Ruhe und Reife seine Liebes- und Kommunikationsfähigkeit in Frage stellt.

Tanners Blick auf seinen passiv sich hingehenden Helden ist von befreiender Ironie, er heftet sich nicht grüblerisch an das latent vorhandene existentielle Gedankenpotential, sondern folgt liebevoll und teilnehmend der Kindlichkeit des Matrosen. Der Film lässt weder Frau noch Mann lamentieren und verhandeln, sondern inszeniert sehr einsichtig und wahr in fein beobachtender Situation das, was auf dem Spiel steht. Dans la ville blanche strahlt gleichermassen die Ruhe des Südens aus, wie er von der Zufriedenheit und Gelassenheit eines nichtambitiös arbeitenden Autors berichtet. Tanner hat sich auf das Machbare bescheidet; wohltuend zurückhaltend erzählt er von einer Extremsituation, tut damit einen Schritt hin zur allgemein erfahr- und erinnerbaren Alltäglichkeit und umschifft damit elegant die Exotik und Esoterik.

Peter Schneider
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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