PAUL HUBER

WECHSELNDE WIRKLICHKEITEN — ROSIS WEG VOM PROBLEM DER GESELLSCHAFT ZUM PROBLEM DES EINZELNEN IN DER GESELLSCHAFT

ESSAY

Als bisher letztes Werk Francesco Rosis gelangte Tre fratelli in unsere Kinos. Drei Brüder, in verschiedenen Berufen tätig und in verschiedenen Regionen Italiens lebend, werden vom Vater zur Beerdigung ihrer Mutter herbeigerufen und kehren zurück in ihr Heimatdorf im Süden des Landes. In den Gesprächen, die sie hier führen, aber auch in den Erinnerungen, Träumen und Albträumen, von denen jeder von ihnen heimgesucht wird, tritt das Leben ins Blickfeld, aus dem sie hierhergekommen sind, das Leben im krisengeschüttelten Italien von heute. Die Rückkehr der drei Brüder in den Süden, auf den Bauernhof ihres Vaters, gewinnt dabei die Bedeutung einer Rückkehr in eine archaische bäuerliche Kultur, mit ihren existentiellen Werten und Gewissheiten, welche Rosi der Orientierungskrise der Gegenwart scheint entgegenstellen zu wollen. Die gefasste Ruhe des Vaters, seine Vertrautheit und sein stummer Einklang mit den unabänderlichen Gegebenheiten und Rhythmen des Lebens und der Natur bilden einen starken Gegensatz zu den Zweifeln und Ängsten, den Orientierungsschwierigkeiten und den unsicheren Hoffnungen und Überzeugungen seiner drei Söhne.

Tre fratelli, Rosis zwölfter Film, ist ein weiteres Beispiel für die Auseinandersetzung mit der politischen und sozialen Realität Italiens, die das Werk dieses Regisseurs seit je charakterisiert hat. Der Ton und die Schwerpunkte dieser Auseinandersetzung haben sich jedoch im Vergleich zu Rosis früheren Werken gewandelt. Tre fratelli ist ein verhaltener, melancholischer Film; in ihm wird die Sorge, ja mehr noch auch eine gewisse Ratlosigkeit und sogar Resignation Rosis angesichts der gegenwärtigen Lage seines Landes spürbar. Dieser Film hat nur noch wenig von der kämpferischen, anklagenden Grundhaltung früherer Werke; sein Hauptthema ist nicht mehr die Analyse und Anprangerung der Macht, ihrer Mechanismen, ihrer Missbräuche und Entartungen, seine Hauptfiguren sind nicht mehr jene oft schillernden Personen aus dem Umkreis oder aus dem innersten Kreis der Macht, auf die Rosis Aufmerksamkeit früher meist fiel.

Der in Tre fratelli feststellbare neue Ton in Rosis Werk hatte sich schon in früheren Werken, spätestens im Film Cadaveri eccellenti von 1975, angekündigt und war in Cristo si è fermato a Eboli (1978) bereits dominant zum Tragen gekommen. Um diesen neuen Zug, aber auch das sich Gleichbleibende bei Rosi besser erkennen zu können, wollen wir im Folgenden zurückblenden auf sein früheres Schaffen wie auch auf seine es begleitenden Äusserungen, in denen er jeweils seine Anschauungen und Absichten darlegte. Wir werden dabei sehen, dass sich das Neue aus Elementen herausentwickelt hat, die bei Rosi schon immer vorhanden waren, und es wird sich zudem zeigen, dass diese in Rosis Werk feststellbare Entwicklung oder Wandlung im Zusammenhang mit den Veränderungen in der politischen und sozialen Lage Italiens zu sehen und als Reaktion Rosis auf diese Veränderungen zu verstehen ist. Ein solcher Zusammenhang kann ja auch kaum überraschen, nimmt doch Rosi in seinen Filmen auf die politische und soziale Wirklichkeit Italiens immer wieder Bezug und wurde er doch gerade auch deswegen immer wieder als politischer Regisseur bezeichnet. Wir wollen diesen Begriff des politischen Regisseurs nicht problematisieren und ihn im Weitern auch nicht mehr benutzen; implizit jedoch wird er durch die folgenden Ausführungen in Bezug auf Rosi inhaltlich präzisiert, dabei aber zweifellos auch etwas redimensioniert werden — was übrigens auch Rosis eigenem Wunsch entspricht:

Ich möchte, offen gesprochen, diese Kategorie des politischen Regisseurs tout court etwas redimensionieren. Ich erzähle Geschichten mittels des Mediums Film, und ich suche Geschichten zu erzählen, die als Bezugspunkt die Realität eines Landes haben.1

Herkunft

Bevor wir uns den Anfängen seines Filmschaffens zuwenden, wollen wir kurz auf die Herkunft Rosis eingehen; diese hat zweifellos auch für sein Werk Bedeutung, stammt er doch aus demselben Süden Italiens, der Thema oder Hintergrund all seiner Filme ist.

Francesco Rosi wurde am 15. November 1922 in Neapel geboren. Väterlicherseits stammte die Familie aus Kalabrien; von dort war Rosis Grossvater nach Neapel gezogen und hatte sich hier zum Schneidermeister emporgearbeitet. Sein Sohn, Rosis Vater, entzog sich diesem ihm ebenfalls zugedachten Beruf und wurde in der Folge Direktor einer Schifffahrtsgesellschaft. Daneben aber zeichnete er auch, vor allem Karikaturen, und fotografierte, zu welchem Zweck er ein eigenes Labor besass. Für den Lebenshorizont von Rosis Jugend scheint aber die Verwandtschaft der Mutter bedeutender gewesen zu sein. Diese entstammte einer echt neapolitanischen Familie, die ursprünglich ziemlich reich gewesen war, deren Vermögen aber vom Grossvater weitgehend verspielt wurde — ein Vorgang, den der junge Francesco miterleben konnte. Der damit verbundene Abstieg ging jedoch nicht so weit, dass es nicht gereicht hätte für die jährliche monatelange Sommerfrische am Meer ausserhalb der Stadt, wohin die ganze mütterliche Sippe, und Rosis Familie damit, samt ihrer zahlreichen Dienerschaft jeweils zog. Zur Bedeutung seiner familiären Herkunft sagt Rosi selbst:

Ich finde in mir diese doppelte Tendenz sehr lebendig wieder: die der Familie meiner Mutter mit ihrer Gelöstheit gegenüber dem Leben, und die meines Vaters mit der Manifestation eines sehr starken Willens. Es ist der gleiche Kampf, der zwischen meinem Instinkt und meiner Vernunft stattfindet. Und diese Dialektik der Leidenschaft, die durch die Rationalität korrigiert wird, ist ein Charakteristikum der neapolitanischen Kultur.2

Nach Abschluss der Schule wollte Rosi an die nationale Filmschule, das Centro sperimentale in Rom. Sein Vater war nicht grundsätzlich dagegen, wünschte aber, dass sein Sohn vorher noch eine andere Ausbildung durchlaufe. Rosi begann ein Studium der Rechte, das 1942 durch die Einziehung in die Armee abgebrochen wurde. Seine Einheit löste sich nach dem Sturz Mussolinis und der Besetzung Italiens durch die Deutschen auf. Rosi versteckte sich mit einigen Kameraden zuerst in der Toskana und schlug sich später nach Süden durch; im September 1944 war er wieder in Neapel, wo schon ein Jahr zuvor die Amerikaner eingezogen waren. Sein Studium nahm Rosi nicht wieder auf; er arbeitete zunächst fürs Radio, zeichnete Comicstrips und wechselte dann zur Theaterarbeit, teils als Schauspieler, teils als Assistent oder in anderen Funktionen.

Um seinen alten Wunsch, das Centro sperimentale zu besuchen, doch noch zu verwirklichen, bereitete Rosi zur Aufnahme eine Arbeit über den Roman «I Malavoglia» von Giovanni Verga vor. (Die Wahl dieses Werkes kann man übrigens kaum als Zufall bezeichnen: die Beziehung von Rosis Filmauffassung zur Poetik der italienischen Spielart des literarischen Naturalismus, dem verismo, wäre eine eigene Untersuchung wert.) Zufällig erhielt zur selben Zeit einer seiner Freunde, der Schauspieler Achille Millo, von Luchino Visconti das Angebot, bei der Verfilmung eben dieses Romans als Assistent mitzuwirken. Millo wollte weiter als Schauspieler arbeiten und schlug Rosi vor. Visconti nahm sofort an, und so kam Rosi denn zum Film, als Assistent bei den Dreharbeiten zu La terra trema. Dies war 1947-48. Zehn weitere Jahre arbeitete Rosi als Drehbuchautor und Assistent bei verschiedenen Regisseuren — zum Beispiel bei Luciano Emmer, Raffaello Mattarazzo, Michelangelo Antonioni, Mario Monicelli und auch erneut bei Visconti. Erst 1958 — Rosi war bereits 36 Jahre alt — kam sein erster eigener Film, La sfida, heraus. 1959 folgte sofort der zweite, I Magliari, 1961 dann der dritte, Salvatore Giuliano.

(Melo)Dramatischer Einstieg

Wenn wir weiter oben erklärt haben, dass Rosi in seinen Filmen stets auf die politische und soziale Wirklichkeit seines Landes Bezug nimmt, so gilt dies genau genommen eigentlich erst ab seinem dritten Film, Safvatore Giuliano. Die beiden ersten weisen noch weitgehend eine nur soziale Dimension auf; erst in Safvatore Giuliano verband Rosi mit der sozialen eine genuin politische Dimension. Zwar spielt La sfida bereits im Milieu der neapolitanischen Camorra, dem Pendant zur sizilianischen Mafia, aber anders als später in Salvatore Giuliano hat hier die Handlung noch keine politischen Implikationen und ist noch nicht die Rede von den unlauteren Beziehungen zwischen der illegalen kriminellen Macht und der legalen politischen Macht. Die Handlung spielt vielmehr hauptsächlich innerhalb der kriminellen Organisation selbst. Es ist die Geschichte eines Aufsteigers, eines Zigarettenschmugglers, der Eingang findet in den Führungskreis der Camorra, die den weit lukrativeren Gemüsemarkt kontrolliert; an einem bestimmten Punkt hält er aber eine getroffene Abmachung nicht ein und wird deshalb vom Boss der Vereinigung aus Rache persönlich ermordet.

Rosis zweiter Film, I Magliari, spielt in Deutschland, unter einer Gruppe von camorra-artig organisierten emigrierten Neapolitanern, die einen betrügerischen Handel mit Tuchstoffen minderer Qualität betreiben. Die Hauptfigur, Totonno, versucht aus der von Don Raffaele geleiteten Vereinigung auszusteigen und in Verbindung mit einem deutschen Kaufmann eine eigene Organisation aufzuziehen, scheitert aber damit. I Magliari greift auf seine Art das soziale Problem des Emigrantendaseins auf; die Darstellung Totonnos durch den exuberanten Alberto Sordi zieht den Film jedoch oft etwas zu stark ins Komische.

Stilistisch unterscheiden sich die beiden ersten Filme Rosis noch stark von Salvatore Giuliano und den folgenden Werken. Noch sind zum Beispiel in La sfida starke Einflüsse des amerikanischen Kriminalfilms, etwa von Dassin und Kazan, zu spüren. Wie schon dieser weist Rosis erster Film zwar ebenfalls auf eine soziale Problematik hin, ist dabei aber doch noch weit entfernt von der für die späteren Filme so bezeichnenden expliziten Anklage gegen die Macht und ihren Missbrauch. Vor allem aber unterscheiden sich La sfida und I Magliari von Salvatore Giuliano und den folgenden Filmen durch ein starkes melodramatisches Element, nämlich durch die in die Handlung eingebettete Liebesgeschichte. Diese entwickelt sich zum Beispiel in La sfida zwischen dem Aufsteiger und einem Mädchen aus der Nachbarschaft, das er heiraten will; es sind gerade auch die für diese Heirat eingegangenen Schulden, die ihn zu dem Geschäft antreiben, das ihn sein Leben kosten wird. Die Liebesbeziehung gibt so der Hauptfigur auch eine psychologische Motivation und eine private Seite, die Rosi in seinen weiteren Werken so weit wie möglich weglässt, um von seinen Figuren nur noch die öffentlich sichtbare oder die für ihr öffentliches, das heisst politisches Handeln relevante Seite zu zeigen. Die mit Salvatore Giuliano erfolgende Einbeziehung einer genuin politischen Dimension findet damit ihre Entsprechung auch in einem Wechsel in der Charakterisierung der Personen.

Dennoch sind, bei allem Unterschied zum späteren Schaffen, bereits in Rosis erstem Film La sfida einige Elemente gegeben, die auch im weiteren Werk zentral bleiben. Da ist einmal die geheime, illegale und kriminelle Organisation oder Macht, die keiner Kontrolle unterliegt, deren Handeln für die Aussenstehenden nicht einsichtig ist und die den, der sich ihr widersetzt, umbringt. Da ist sodann der Schauplatz, nämlich Neapel, und damit der Süden Italiens, Thema oder Hintergrund aller Filme Rosis. Und da findet sich weiter bereits hier Rosis Bezug zum wirklichen Leben Italiens und seine Reaktion auf diese Wirklichkeit, die ihm auch die Idee zum Film lieferte; Rosi war ausgegangen von einer Zeitungsmeldung über den Mord an einem Camorra-Boss, mit dem sich eine Frau für die Ermordung ihres eigenen Mannes gerächt hatte (bei dieser Frau handelte es sich übrigens um dieselbe «Puppa Maresca», die gegenwärtig in den Berichten über die neapolitanische Camorra als erklärte Gegnerin von Boss Raffaele Cutolo wieder von sich reden macht).

Die Macht — sichtbar und unsichtbar

1961 kam Rosis dritter Film Salvatore Giuliano heraus; mit ihm nahm nun Rosi explizit auch auf die politische Wirklichkeit Italiens Bezug. Deshalb, und weil dieser Film durch seine Komposition, durch seinen Aufbau als dokumentierte Recherche, gleichzeitig auch stilistisch Neuland betrat, beginnt für die meisten Liebhaber dieses Filmregisseurs der eigentliche Rosi erst mit Salvatore Giuliano. Auch nach der Auffassung von Rosi selbst bedeutete erst dieser dritte Film den Durchbruch zu seinem eigenen Stil:

Meine Methode — das heisst diese Balancebewegung zwischen der Realität und der Reflexion über diese Realität — habe ich erst mit Salvatore Giuliano wirklich beherrscht.3

Der 1950 ermordete sizilianische Bandit Giuliano wird nach dem Krieg zuerst Instrument der Separatisten (die für die politische Trennung der Insel vom italienischen Staat kämpfen) und dann der von der zeitweise erstarkenden bäuerlichen Linken verängstigten Grossgrundbesitzer und der Mafia. Als ihn auch diese fallen lassen, können er und seine Bande sich nicht länger halten.

Den Dreharbeiten — sie fanden an den Originalschauplätzen in Sizilien statt—war eine lange Periode der Recherche und des Sammelns einer reichen Dokumentation vorangegangen. Rosi wollte nur dokumentierte Fakten und Ereignisse darstellen, und er suchte die Phantasie so weit wie möglich auszuschalten.

Der Film beschäftigt sich nicht primär mit der Person Giulianos, sondern stellt vielmehr eine Untersuchung über die Hintergründe seines Lebens und seines Todes dar, eine Untersuchung über die Kräfte, die hinter ihm standen, mit ihm zusammenarbeiteten, ihn benutzten, aber zum Schluss auch fallen Hessen und seinen Verfolgern auslieferten. Die Suche nach der Wahrheit über Giulianos Tod führt zur Aufdeckung der unlauteren Beziehungen und der geheimen Kollaboration zwischen der illegalen, kriminellen Macht der Mafia einerseits und der legalen, politischen Macht des Staates und seiner Institutionen, im konkreten Fall Carabinieri und Polizei, andererseits. Beide diese Mächte versuchen jedoch, die Tatsache und die Art und Weise ihrer Kollaboration zu vertuschen. Damit wird aber die Kenntnis der vollen Wahrheit über die Hintergründe von Giulianos Tod verunmöglicht und bleibt verschlossen in der vom Bürger nicht einsehbaren und nicht kontrollierbaren Sphäre des innersten Kreises der Macht — auch wenn sich Rosi dafür entscheidet, die plausibelste Version dieses Todes im Film darzustellen. Die staatlichen Organe und Institutionen geraten in ein bedenkliches Zwielicht; sie, die der Öffentlichkeit Rechenschaft schuldig wären, arbeiten heimlich mit derjenigen kriminellen Macht zusammen, zu deren Verfolgung sie eigentlich verpflichtet wären.

Der Film beginnt mit der Auffindung der Leiche Giulianos; von dieser Szene aus setzt sich der Film in Bewegung. Wie in so manchem weiteren Film Rosis steht auch am Anfang von Salvatore Giuliano der Tod; der Tod eines Menschen, oder auch mehrerer Menschen (wie etwa beim Hauseinsturz zu Beginn von Le mani sulla città), lässt die Existenz von im Dunkeln wirkenden Mächten manifest werden und macht gleichzeitig auch die Bedrohlichkeit und Gefährlichkeit dieser Mächte sofort deutlich. Wenn so ihre Existenz auch manifest wird, so heisst dies nicht, dass sie selbst und ihr Wirken in Rosis Filmen damit auch klar erkennbar würden; vielmehr bleibt ihr Geheimnis, das einen wichtigen Teil ihrer Macht ausmacht, meist im letzten gewahrt, womit auch Rosis Suche nach der Wahrheit über die Hintergründe eines Todes nicht zu einem endgültigen Ergebnis gelangt — oder aber die gefundene Wahrheit wird hinterher vertuscht oder aufgrund eines zu wenig entwickelten Bewusstseins von denen, die eigentlich unter der Macht leiden, nicht aufgenommen.

Die Beziehung zwischen verschiedenen Machtgruppen, ihre Zusammenarbeit oder auch Konkurrenz in einer Sphäre des Heimlichen und Geheimen, einer Sphäre, die keiner Kontrolle unterliegt und in die die unmündige und unmündig gehaltene Bevölkerung keinen wirklichen Einblick hat, obwohl sie andererseits den Wirkungen ausgesetzt ist, welche aus den Entscheiden der Mächtigen entstehen — diese Thematik von Salvatore Giuliano finden wir auch in Rosis folgendem Film, dem 1963 herausgekommenen Le mani sulla città. Hier geht es jedoch nicht mehr um die Kollusion der offiziellen, politischen Macht mit einer kriminellen Macht wie der Mafia, sondern um die Kollusion von politischer und wirtschaftlicher Macht, eine Kollusion, wie sie sich zeigt am Beispiel der Bauspekulation in Neapel, ausgeübt von Einzelnen zum Schaden der Gesamtheit, zum Schaden der armen und vor allem der ärmsten Bevölkerungsgruppen.

Mit diesem Film tritt Rosi wieder etwas weg von der stärker dokumentarischen Art und der komplexen Komposition von Salvatore Giuliano. Le mani sulla città, dessen Aufbau wieder einer linearen Chronologie folgt, weist Elemente eines Thrillers auf, mit Augenblicken des suspense, die unterstützt werden durch die kongeniale Musik von Piero Piccioni. Le mani sulla città ist wohl das am strengsten durchkomponierte und das geschlossenste Werk Rosis, ja es ist vielleicht überhaupt sein eindrücklichster Film, nicht zuletzt auch wegen der von Rosi hier zum letzten Mal angewandten Möglichkeiten des Schwarz-Weiss-Films.

Anders als der Bandit Giuliano, der im Film fast nie sichtbar war, ist die Figur des Bauunternehmers und Politikers Nottola in Le mani sulla città stets präsent. Nottola dominiert den Film; dabei ist aber auch er nicht als Privatperson, sondern ausschliesslich als öffentliche Person gesehen, als Verkörperung bestimmter Verhältnisse.

Ich wollte keinen psychologischen Film machen, sondern einen Film über Ereignisse, in welchem ich Menschen vorstelle, die alle emblematisch, die alle Symbole sind.4

So verfolgt Rosi auch hier das erwähnte Prinzip des Verzichts auf die Darstellung des Privatlebens der Figuren seines Films:

Das Interesse, das ich in Mani sulla città, anders als in La sfida, am öffentlichen Leben der Personen nahm, kommt daher, dass nach meiner Meinung Menschen, die öffentlich wirken, nur in ihrer öffentlichen Funktion analysiert werden sollten, und nicht in ihrem Privatleben; ihr Privatleben kann übrigens leicht abgeleitet werden.5

Dies heisst nun aber nicht, dass Nottola in Le mani sulla città nur eine trockene Thesenfigur ist. Er wird vielmehr auch zu einem Symbol vitaler menschlicher Grundkräfte — und gerade von diesem Aspekt der Figur war auch Rosi selbst fasziniert:

Nottola, das ist eine Gestalt, die mich sehr interessiert und die ich liebe; mich interessiert und mir gefällt seine Vitalität, seine Kraft und seine Energie, die sich praktisch ausdrücken und verwirklichen müssen. Natürlich drücken sie sich schlecht aus, weil sie überhaupt nicht kontrolliert werden können. Es handelt sich um eine Kraft im Urzustand, die nicht von Kultur oder von moralischem Bewusstsein geleitet wird. Und da er nicht in einer Gesellschaft lebt, die ihn zwingt, sich auf positive Art auszudrücken, drückt er sich negativ aus. Dennoch sind es gerade diese vitalen Menschen, die etwas schaffen, etwas aufbauen. Man muss aber erkennen, wieweit es einer Gesellschaft gelingt, sie zu kontrollieren, darauf hinzuwirken, dass sie sich auf die richtige und nicht auf die falsche Art ausdrücken.6

Trotz Rosis Bewunderung für Nottola, die bis zur Identifikation geht, bleibt er sich der Ambivalenz dieser Figur, und damit seiner selbst, durchaus bewusst.

Tatsächlich hoffe ich, dass mein Publikum diese Dualität in mir spürt. Sie beweist, dass auch ich, wie alle Menschen, von der Kraft des Bösen versucht bin. Gleichzeitig akzeptiere ich, wie wahrscheinlich alle Künstler, die Möglichkeit eines letztendlich Guten. Aber das heisst nicht, dass ich meine Meinung über das Gute den andern aufzuzwingen suche.7

Die letztere Äusserung mag überraschend klingen für den, der Le mani sulla città, von dem ja hier die Rede ist, durchaus verstanden hat als emotional intensives Plädoyer für die Abschaffung der angeprangerten Missstände und für das Engagement zur Durchsetzung der guten Sache. Auch tönt diese Äusserung nicht gerade nach der dezidierten, militanten Stellungnahme eines Mannes, der im Besitz fester Gewissheiten und Ansichten ist und von dieser Basis aus die Realität in der Überzeugung kritisiert, zu wissen, wie sie aussehen müsste. Damit sind wir wieder bei der Frage angelangt, wie die Kategorie des politischen Regisseurs im Falle Rosis inhaltlich zu bestimmen ist und wie sich Rosi selbst in dieser Hinsicht definiert.

Es ist interessant, auch im Hinblick auf sein späteres Schaffen, zu dieser Frage Äusserungen von Rosi zu betrachten, die aus der Zeit nach der Fertigstellung von Salvatore Giuliano und Le mani sulla città stammen (1964-65), derjenigen beiden Filme also, die Rosis Ruf als politischer Regisseur beim Publikum hauptsächlich begründet haben. Diese Äusserungen lassen in Rosis Selbstauffassung als Regisseur Elemente erkennen, in deren Licht einiges von dem, was in den weiteren Werken zum Ausdruck kommt, verständlicher wird und durchaus auch im Sinne der Kontinuität aufgefasst werden kann; Rosis Äusserungen lassen erkennen, dass er in seiner Selbstauffassung als politischer Regisseur seit je eher zurückhaltend war und dagegen stets das spezifisch Künstlerische und damit zusammenhängend die emotionale Komponente seines Schaffens betonte.

«Die Sprache der Gefühle»

Angesprochen darauf, wieso er in Salvatore Giuliano und Le mani sulla città Themen wie Korruption, Machtmissbrauch und ähnliche aufgegriffen habe, antwortete Rosi:

Ich möchte keine Propagandawerke schaffen. Ich glaube, mein Interesse an diesen Dingen leitet sich von der Tatsache her, dass wir in Italien die Demokratie ziemlich spät erobert haben, dass diese Eroberung im Grunde noch andauert und somit jeder von uns an dieser Eroberung im täglichen Leben teilnimmt. Das heisst, ich muss diese Filme einfach deshalb machen, um teilzunehmen an der Entwicklung der Gesellschaft, in der ich lebe. Ich mache sie wahrscheinlich deshalb so, wie sie sind, um mein eigenes Verständnis, und das Verständnis der andern, von unserer Wirklichkeit zu vertiefen.8

Nicht die Veränderung, sondern das bessere Verständnis der Wirklichkeit, und zwar auch das bessere eigene Verständnis, bezeichnet Rosi hier als sein primäres Ziel. In den Zusammenhang dieses Bemühens um ein besseres Verständnis der Wirklichkeit gehört auch Rosis Methode, zur Vorbereitung seiner Filme über deren Thema eine ausführliche Dokumentation zusammenzutragen — ohne dass er deshalb jedoch seine Filme als eine Art politischer Dokumentarfilme verstanden wissen möchte:

Ich möchte meinen Stil dokumentiert, nicht dokumentarisch nennen. Ich mache einen grossen Unterschied zwischen Dokumentation und Dokumentarfilm. Ich verabscheue Dokumentarfilme; in meinem ganzen Leben habe ich keinen einzigen gemacht. Ohne verallgemeinern zu wollen, möchte ich doch sagen, dass es schwer ist, einem Dokumentarfilm menschliche Tiefe zu geben. Ich erstrebe einen Stil, der mich einer allgemeinen Wahrheit möglichst nahebringt, will aber darüber hinaus meine menschliche, meine künstlerische Wahrheit ausdrücken — so könnte man vielleicht sagen.

Rosi betrachtet seine Wahrheit nicht als die Wahrheit schlechthin:

Ich muss den Leuten verständlich machen, dass das, was ich zeige, eine Wahrheit ist, dass es andere geben kann. Was ich zu zeigen versuche, ist mein eigener innerer Kampf, um meine Wahrheit zu finden in den Dingen, die ich zeige. Ich muss vom Publikum erreichen, dass es an meinem Dialog mit der Wirklichkeit teilnimmt, an meiner Suche.

Tatsächlich geht es ja in Rosis Filmen nicht primär um die Darstellung der Wahrheit, sondern um die Suche nach ihr. Dargestellt wird oft der Prozess der Wahrheitssuche selbst, so zum Beispiel in den Gerichtsverhandlungen in Salvatore Giuliano oder in der Tätigkeit der Ermittlungskommission in Le mani sulla città; ebenso auch in den späteren Filmen wie zum Beispiel in II caso Mattei, wo in den Ermittlungen über die Hintergründe von Matteis Tod im Film sogar der Regisseur selbst, nämlich Rosi, als Recherchierer auftritt. Auch der Fahnder Siragusa in Lucky Luciano oder der Inspektor Rogas in Cadaveri eccellenti suchen nach der Wahrheit, stellvertretend für den Regisseur und für den Zuschauer.

Diese Suche nach der Wahrheit hat oft auch etwas von einem Versuch an sich, eine irrational erscheinende Wirklichkeit zu durchdringen. Darin kommt wohl auch ein persönlicher Zug von Rosi selbst zum Ausdruck:

Ich glaube, in mir selbst besteht ein Gegensatz, der nach einem Gleichgewicht zwischen dem Irrationalen und dem Rationalen verlangt. Ich glaube, ich versuche im Grunde immer, das Irrationale zu rationalisieren.

Rosi wünscht, dass an seiner Suche nach der Wahrheit auch der Zuschauer teilnimmt. Das Mittel aber, durch das die Teilnahme des Publikums an dieser Suche erreicht werden kann, ist nach seiner Meinung primär das Gefühl, und nicht etwa die distanzierte, rationale Analyse:

Der Weg des Films ist der Weg der Gefühle. Ein Film kann nicht der logischen Progression eines Essays folgen. Der erste Eindruck, der vom Bild herkommt, ist ein gefühlsmässiger. Alle Logik kann im Film durch das Mittel des Gefühls ausgedrückt werden. Aber es genügt nicht, beim Gefühl stehen zu bleiben. Man sollte es benutzen, um eine tiefere Bedeutung auszudrücken, um eine Teilnahme auf der Ebene der Logik zu bewirken. Ein Film sollte seinen Betrachtern helfen, ihr Urteil zu entwickeln.

Rosi hält es jedoch nicht für die vordringliche Aufgabe des Regisseurs, dem Zuschauer die zur Entwicklung seines Urteils notwendigen analytischen, rationalen Kriterien, Begriffe und Ideen im Film selbst mitzugeben:

Es gibt eine universale Sprache, die Sprache der Gefühle. Wir alle lieben, hassen, empfinden Freude, Hunger, Kälte oder Glück. Alle, vom Geringsten bis zum intellektuell Raffiniertesten, sprechen diese Sprache. Der Künstler drückt sich viel weniger bewusst aus, als die Kritiker meinen, und es ist durch das Mittel dieser Sprache der Gefühle, dass die Ideen oft vermittelt werden, ohne dass sie klar ausgedrückt werden müssen. Es ist auf diese Art, glaube ich, dass ein Künstler direkt zum Publikum spricht, unter der Bedingung, dass er wirklich seiner Epoche angehört.

Rosi vertraut in die Aussagekraft der Sprache der Gefühle und stuft dagegen die Ausformulierung von Ideen und Begriffen, auch politischen, durch den Regisseur selbst in der Bedeutung zurück, das heisst, er überlässt die Übersetzung in diese Sprache der Begriffe dem Zuschauer. Damit setzt er aber voraus, dass das gesunde Gefühlsempfinden ausreicht, um dem Zuschauer die Erkenntnis des (politisch) Richtigen und Falschen, des Guten und Schlechten zu erlauben — es versteckt sich hier bei Rosi ein vager Gefühlsmoralismus, den man zweifellos in der entsprechenden Tradition des italienischen Neorealismus sehen muss. Mit diesem Gefühlsmoralismus verbindet sich bei Rosi, wie im Neorealismus (zum Beispiel bei De Sica, aber auch beim frühen Fellini), oft ein vages, umfassendes Mitleid und eine Identifikation mit der Sache der Armen und der Unterdrückten, deren Lebenseinstellung gleichzeitig als unverfälscht und ursprünglich interpretiert wird.

Gerade aus Rosis meisterhafter Anwendung der Sprache der Gefühle stammt die mitreissende emotionale Intensität eines Filmes wie Le mani sulla città und seiner Anklage der gezeigten Missstände, stammt aber auch die Intensität der im Zuschauer erregten Gefühle der Empörung und des Wunsches nach einer Änderung, mit denen er das Kino verlässt. Demgegenüber werden in Le mani sulla città analytische politische Ideen und Begriffe von Rosi nur zurückhaltend verwendet und haben oft einen etwas allgemein humanitären und gefühlsmässig moralischen Charakter. Rosis Argumentation ist nicht primär politisch, sondern moralisch— eine Tatsache, die leicht übersehen wird. Hinsichtlich der politischen Argumentation in Rosis Filmen kann man feststellen: Rosi kämpft ganz allgemein gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung, aber nicht für ein präzises, ganz bestimmtes politisches Bewusstsein oder Konzept. (Einzig Tre fratelli muss in einem bestimmten Sinne als Ausnahme betrachtet werden, wie wir noch sehen werden.)

Das lange Verweilen bei dem Problem der «Sprache der Gefühle» würde sich erübrigen, wenn es sich bei Rosi nicht um einen Regisseur handelte, der in seinen Filmen eben genuin politische Tatsachen und Ereignisse aufgreift und zur Darstellung bringt. Gerade von daher nämlich drängt sich der Einwand auf, dass der erwähnte vage Gefühlsmoralismus, oder vielmehr das von diesem vorausgesetzte gesunde Gefühlsempfinden des Zuschauers, als Erkenntnisinstrument zwar ausreichen mag, wo die politische Wirklichkeit einfach gegliedert und leicht zu durchschauen ist und wo das Richtige und das Falsche, das Gute und das Schlechte leicht zu unterscheiden sind. Je komplexer jedoch diese Wirklichkeit ist oder wird, umso weniger ermöglichen gefühlsmässig-moralische Kriterien eine Orientierung und umso mehr wird sich der Verzicht auf die Verwendung von analytischen politischen Begriffen — oder der Mangel an solchen — als Schwierigkeit bemerkbar machen. Gerade von dieser Überlegung her wird einiges an Rosis weiterer Entwicklung begreifbar, umschreibt sie doch ein Problem, das in seinen Filmen aus den siebziger Jahren manifest werden wird. In diesen wird es für den Zuschauer, wie wohl auch für Rosi selbst, immer schwieriger oder gar unmöglich, die dargestellten komplexen Ereignisse und Zusammenhänge noch zu durchschauen und sich darin zu orientieren — die Konturen der Wirklichkeit werden immer schwerer erkennbar.

Kehren wir aber nochmals zurück zu den Äusserungen Rosis aus den Jahren 1964-65. Nicht die Veränderung der Wirklichkeit, sondern ihr besseres Verständnis bezeichnete Rosi als sein Hauptanliegen, wie wir bereits festgehalten haben.

Ich glaube nicht, dass ein Künstler mit dem erklärten Ziel schaffen sollte, die Gesellschaft zu verändern. Das kann leicht zu Werken führen, die nichts mit der Kunst zu tun haben. Ich möchte keine Manifeste drehen, aber ich versuche, daran zu denken, dass der Film die Sitten einer historischen Zeitperiode beeinflussen kann. Meine Art, zu sein, kann, wenn ich sie offen in einem Film ausdrücke, eine Bedeutung für andere haben, aber nur, wenn ich nicht bewusst versuche, sie andern aufzudrängen. Wenn mein Werk wirklich Teil von mir ist und mir folglich gleicht, dann wird mein Film, da ich selbst Teil eines gegebenen historischen Momentes bin, eine zeitgenössische Bedeutung haben.

Der Regisseur ist für Rosi vor allem ein Künstler. Der Künstler aber ist nach ihm nicht jemand, der, im Besitz fester Gewissheiten, die Wirklichkeit kritisch beurteilt und sagt, wie sie sein sollte. Der Künstler ist für ihn vielmehr jemand, der der Wirklichkeit und ihren Entwicklungen folgt, und der dem in der Wirklichkeit seiner Zeit Gegebenen zum Ausdruck verhilft; der Künstler ist sozusagen das sensibelste Reaktionsorgan seiner Epoche, das wie ein Medium auffängt, ausdrückt und bezeugt, was seine Zeit und die Gesellschaft, in der er lebt, bewegt (oder was doch zumindest die intellektuellen und künstlerischen Kreise, denen Rosi selbst zugehört, bewegt).

Eine solche Auffassung kommt unverändert auch in einer Äusserung Rosis aus einem aktuellen Interview zum Ausdruck, wo er ein Gespräch über die Entwicklungsmöglichkeiten des italienischen Südens an einem bestimmten Punkt mit der Erklärung unterbrach:

Ich bin kein Experte in Sachfragen. Ich bin einer, der Filme macht, der also an einem bestimmten Punkt gewisse Phänomene intuitiv erfasst und bezeugt; und ich kann damit Zeugnis geben von einem kollektiven Gefühl — das nebst dem auch ein individuelles Gefühl ist —, und nicht nur von einem kollektiven Gefühl, sondern auch von einer kollektiven Überzeugung.9

Die in der Gesellschaft verbreiteten Gefühle und Überzeugungen ändern sich aber hie und da, und auch dies müsste dann folglich bezeugt werden — und tatsächlich hat ja Rosis Filmschaffen durchaus diesen Zug des Reagierens auf die wechselnden und sich ändernden Gefühlszustände der Gesellschaft Italiens.

Über das Märchen zum Klassenkampf

Wenden wir uns nun aber nach der längeren Erörterung von Äusserungen Rosis aus früherer Zeit wieder der Entwicklung seines Werkes im Anschluss an den 1963 herausgekommenen Film Le mani sulla città zu. Auf diesen folgten zwei Filme, die von den meisten Kritikern allgemein als zu Rosis weniger starken Werken gehörend betrachtet werden, nämlich II momento della verità (1965) und C’era una volta (1967). Beide nehmen nicht mehr auf die konkrete politische Wirklichkeit Italiens Bezug. II momento della verità erzählt die Geschichte eines spanischen Bauernsohnes, der in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Barcelona zieht. Dort schlägt er sich als schlechtbezahlter Bauarbeiter durch, bis er die einzige ihm offenstehende Aufstiegsmöglichkeit ergreift und Stierkämpfer wird; er hat tatsächlich Erfolg, wird berühmt, fühlt sich aber immer mehr unbefriedigt und entfremdet durch den (auch ökonomischen) Zwang zum stets neuen Kampf in der Arena. Bevor er den Entschluss, auszusteigen, verwirklichen kann, findet er in der Arena den Tod. Der Film spielt zwar in Spanien, aber die Probleme, die er aufgreift — der Süden, die Emigration, die Armut, die Ausbeutung —, sind auch die Probleme Italiens.

Den Süden, wenn auch den Süden einer märchenhaften Vergangenheit, finden wir auch in C’era una volta wieder. Der Film basiert auf einer der Erzählungen der berühmten neapolitanischen Märchensammlung Lo cunto de li cunti des Giambattista Basile aus dem 17. Jahrhundert. Was aber nach der ursprünglichen Absicht an Elementen der volkstümlichen Kultur des Südens in den Film hätte eingehen sollen, fiel nach Aussage Rosis und seiner Mitarbeiter Raffaele La Capria und Tonino Guerra den Bedingungen und Auflagen einer Produktion zum Opfer, die vor allem darauf drängte, die Star-Besetzung mit Sophia Loren und Omar Sharif voll zur Geltung zu bringen.10

II momento della verità und C’era una volta besitzen im Vergleich zu den vorangegangenen Filmen eine geringere Spannung — trotz einigen sehr starken und sprechenden Sequenzen in II momento della verità —, und beide sind sie auch wieder entfernt von der direkten Auseinandersetzung mit der politischen Wirklichkeit Italiens. Eine Erklärung für diesen Wechsel kann man vielleicht aus dem ableiten, was wir vorhin über Rosis Filmschaffen gesagt haben; dass man es nämlich auch unter dem Aspekt der Reaktion auf die sich ändernden Gefühlszustände Italiens betrachten kann.

Salvatore Giuliano und Le mani sulla città waren entstanden in den Jahren, in welchen sich in Italien das Centro sinistra, die Regierungsbeteiligung der Sozialisten vorbereitet und durchgesetzt hatte. Es war eine Phase der Hoffnung auf Erneuerung und auf politische Reformen, eine Phase verstärkter Diskussion über politische Probleme. Die beiden Filme II momento della verità und vor allem C’era una volta dagegen entstanden in der Zeit der Ernüchterung und der ersten Enttäuschung über die Resultate dieses Centro sinistra, in einer «neuen Phase der kulturellen Depression», wie sie der italienische Filmkritiker Sandro Zambetti nennt.11

Entsprechend müsste sich dann aber auch die Explosion von 1968 mit ihrer Radikalität und ihrer gerade in Italien lang andauernden Umbruchsstimmung auf Rosis Schaffen ausgewirkt haben — und tatsächlich weist die Radikalität des 1970 herausgekommenen Films Uomini contro klar auf die Erschütterung jener Jahre hin.

Mit Uomini contro setzt sich die Reihe derjenigen Filme Rosis fort, die sich mit der Macht, ihren Mechanismen, ihrem Missbrauch und ihrer Pervertierung beschäftigen und sie anprangern. Der Film, der auf Emilio Lussus Buch «Un anno sull'altopiano» basiert, spielt während des Ersten Weltkriegs unter den italienischen Trappen an der italienisch-österreichischen Front. Das Problem der Macht wird hier zugespitzt zum Problem der militärischen Macht, aber nicht der Macht nach aussen, gegen den Feind, sondern der Macht nach innen resp. nach unten, der Macht eines Generals über die ihm Untergebenen, über die Soldaten, die er in menschenverachtender Weise trotz ungenügender Deckung immer wieder zum Angriff gegen einen vom Gegner besetzten Berg treibt. Leutnant Sassu, ein junger Bürgerlicher, der ursprünglich mit hohen Idealen freiwillig in den Krieg gezogen ist, verliert in den mörderischen Auseinandersetzungen seine Illusionen und erkennt das Unrecht, das den Soldaten widerfährt. Es sind dies meist Bauern aus dem Süden Italiens, da die Industriearbeiter Norditaliens grossenteils zur Kriegsproduktion freigestellt worden waren — Bauern, die kämpfen müssen in einem Krieg, in dem sie nichts Persönliches zu verteidigen haben und der zum Nutzen anderer geführt wird. Am Schluss des Films wird Leutnant Sassu aufgrund seiner Weigerung, ein Erschiessungskommando zu übernehmen, standrechtlich erschossen.

Das Problem des italienischen Südens und seiner Beziehung zum Norden, ein Generalthema Rosis, stellt sich hier sozusagen modellhaft im Schützengraben und wird dabei gleichzeitig zum Problem des Klassenkampfes.

Was mich interessierte, war vor allem, den Unterschied deutlich zu machen zwischen den Menschen, die den Krieg beschlossen hatten, und den Menschen, die ihn führen sollten. Auf der einen Seite die Macht, die Bourgeoisie, die ihre Klassenprivilegien verteidigte, auf der andern Seite eine Masse von Bauern, von denen man verlangte, sich mit einem abstrakten Ideal zu identifizieren. Es waren Bauern, die den Krieg mit derselben Schicksalsergebenheit erduldeten, mit der sie Naturkatastrophen hinnahmen.12

Die Radikalität des Films findet ihre Entsprechung in der Radikalität der Äusserungen, mit denen Rosi sein Werk begleitete, ohne dass er dabei jedoch seine Skepsis ganz aufgab:

Es gibt einen Krieg, den ich berechtigt finde, einen einzigen, aber er existiert: es ist der Krieg, den der Mensch führt, um sich selbst und die Strukturen, in denen er lebt, zu verändern. Es ist die Revolution. Dies gesagt, muss ich jedoch beifügen, dass eine Revolution zu gewinnen noch nichts Definitives heissen will.13

Dies ist vielleicht der Moment zu sagen, dass Rosi, was seine konkrete politische Haltung betrifft, sich immer als parteiunabhängigen Linken, der auf die Möglichkeiten einer reformistischen Politik baut, bezeichnet hat, auch wenn bei dem ihm eigenen «Pessimismus der Vernunft, Optimismus des Willens» (diese Formel von Gramsci akzeptiert auch Rosi für sich) sein Optimismus des Willens gerade in jenen Jahren nach 1968 manchmal durchaus von der Idee der Revolution angezogen wurde.14

Die Konturen verwischen sich

Im Film Uomini contro waren die Fronten eindeutig, die Macht hatte ihre klaren Konturen, und sie konnte eindeutig erkannt und verurteilt werden. Schon in dem 1972 herausgekommenen Film II caso Mattei sind die Konturen wieder verwischter, die klaren Aussagen von Uomini contro sind bereits wieder verflogen:

Dieser Film hat keine These, denn er will ein problematisches Werk über eine problematische Figur sein.15

Enrico Mattei, der 1962 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommene Chef der staatlichen italienischen Erdölgesellschaft, ist eine schillernde Figur, eine Mischung aus Gutherzigkeit und ungezügelter Machtambition, aus Populismus und Nationalismus, aus Gerissenheit und genial vorausschauenden Erkenntnissen, die sich etwa in seiner Solidarisierung mit den Drittwelt-Staaten im Kampf gegen die 01-Multis zeigen.

Rosis Thema der Beziehung zwischen dem Süden und dem Norden Italiens weitet sich in diesem Film aus in eine globale Dimension, wird zum Problem der Beziehung zwischen den Entwicklungsländern des Südens und den Industrieländern des Nordens (wobei Italien mit seinem Süden und seinem Norden sozusagen an beiden diesen Welten partizipiert). Aber auch das Thema der Macht und der Beziehung zwischen verschiedenen, teils legalen, teils illegalen Mächten gewinnt eine globale Dimension: Staaten, Öl-Multis, Mafia, französischer Geheimdienst, OAS, algerische Befreiungsfront FLN und andere Gruppen agieren, offen oder heimlich.

Weitet Rosi so das Problem der Macht in immer grössere Dimensionen aus, so untersucht er es gleichzeitig auch auf der Ebene immer höherer Repräsentanten der Macht. Diese beiden miteinander verbundenen Tendenzen setzen sich auch in dem 1973 herausgekommenen Lucky Luciano fort, dem Film über den obersten Boss der Cosa Nostra und über die sich um seine Person drehenden Beziehungen zwischen höchsten amerikanischen Politikern und mächtigsten Gangstern der westlichen Hemisphäre. Parallel zur Ausweitung des Problems der Macht wird in diesen Filmen aber das Funktionieren der Macht auch immer uneinsichtiger und entzieht sich immer mehr in eine nicht aufzudeckende Sphäre des Geheimnisses; entsprechend gelangt denn auch Rosis Wahrheitssuche immer weniger zu einem klaren Ergebnis, zu einer klaren Erkenntnis über die Hintergründe der Ereignisse, die er untersucht. Die Wahrheit wird immer schwerer auffindbar, das Geheimnis immer grösser. In einem Labyrinth der Macht, wo die Gründe und die Quellen von Ereignissen nicht mehr zu erkennen sind, wird die Suche nach der Wahrheit oft beinahe zu einer Art metaphysischen Suche. So ist es denn nur folgerichtig, wenn sich in dem Film Cadaveri eccellenti von 1975 die Macht beinahe entpersönlicht: Wer ist denn der wahre Drahtzieher des Komplotts, wenn selbst der oberste Staatsanwalt, der nach den Recherchen des Inspektors Rogas eigentlich zu dem Komplott gehören müsste, ebenfalls ermordet aufgefunden wird?

Im Verlauf der ihm übertragenen Ermittlungen über eine vom Süden des Landes ausgehende Mordserie gerät Inspektor Rogas auf die Spuren eines Komplotts, das einen Staatsstreich der Rechten vorbereitet und in das auch Vertreter der staatlichen Institutionen verwickelt sind. Er entdeckt, dass die Institutionen, denen auch er dient und an deren positive Ideale er geglaubt hat, nicht mehr die ihnen aufgetragene Aufgabe erfüllen, sondern ein Eigenleben führen und sich der Kontrolle durch den Bürger immer mehr entziehen. Wo sich aber die Konturen der Institutionen verwischen, verwischen sich auch die Konturen der Wirklichkeit, in der sich Rogas bewegt, immer mehr, werden immer fliessender und unfassbarer.

Rosis Entwicklung von Uomini contro bis hin zu Cadaveri eccellenti ist zweifellos wiederum auch als Reaktion auf die Änderungen in der politisch-sozialen Lage Italiens und im Gefühlszustand des Landes zu betrachten. Der Film Cadaveri eccellenti selbst, wie auch das ihm zugrunde liegende Buch Leonardo Sciascias («II contesto»), ist einerseits vor dem Hintergrund der zahlreichen Staatsstreichversuche und -plane vor allem der Rechten zu sehen, die Italien in der ersten Hälfte der siebziger Jahre verunsicherten, andererseits drückt er aber auch die Orientierungsschwierigkeiten aus, die sich aus der immer verworreneren und alternativloseren politischen und gesellschaftlichen Lage Italiens vor allem für einen Intellektuellen der Linken ergaben.

Cadaveri eccellenti stellt in Rosis Werk einen Umbruch dar. Mit diesem Film beginnt die explizite Abwendung vom «cinema di denuncia», dem Kino der Denunziation, der Anklage — eine Abwendung, die in den folgenden Filmen Cristo si è fermato a Eboli und Tre fratelli in ihrer Konsequenz hoch verstärkt zum Ausdruck kommen sollte. Zu Cadaveri eccellenti bemerkte Rosi:

Es genügt tatsächlich nicht, den Leuten zu sagen: Wir leben in einem Augenblick der sozialen Desintegration, wo die Institutionen des Staates verdorben sind und ihre Glaubwürdigkeit verloren haben. Ich glaube, wir befinden uns in einem Moment, wo die Denunziation, die Anklage, nicht mehr genügt. Sie konnte vielleicht genügen, als ich Giuliano oder Mani sulla città machte; damals erschien uns die Wirklichkeit ganz anders, die Fronten waren klarer. Heute ist die Wirklichkeit komplexer, die Positionen sind viel bedingter, viele Dinge sind geschehen, vor allem innerhalb der grossen linken Massenparteien der westlichen Welt. Ich wollte mich in diese so wenig klare Wirklichkeit einfügen, indem ich meine ganze Beunruhigung, alle meine Zweifel, aber auch die paar Gewissheiten, die ich habe, ausdrücke.16

Wir befinden uns in einem Augenblick des Übergangs zwischen den alten revolutionären Modellen und den neuen Modellen, die wir noch suchen.17

Hat Rosi in seinem weiteren Schaffen diese Modelle gefunden? Wo ging er sie suchen? Die Antwort liegt in den Filmen Cristo si è fermato a Eboli und Tre fratelli — und es kann uns nach all dem bisher Gesagten, und insbesondere nach dem, was wir über Rosis Verhältnis zu der «Sprache der Gefühle» gesagt haben, nicht ganz erstaunen, dass diese Antwort stark geprägt ist durch seine gefühlsmässig-moralische Argumentations- und Reaktionsweise, dass Rosi angesichts der Verworrenheit der Zeit nicht so sehr auf rationale und analytische Argumente und Begriffe, sondern vor allem auf Werte und Vorstellungen von gefühlsmässigem Appellcharakter rekurriert.

Tiefinnerer Süden

In seinem Buch über Francesco Rosi hat der französische Filmkritiker Michel Ciment bereits 1977 in seiner Beurteilung von Cadaveri eccellenti auf die zunehmend grössere Bedeutung des Geheimnisses und des Unformulierten in Rosis Schaffen hingewiesen sowie darauf, dass Rosi in seinen Filmen dem Schweigen und der Innerlichkeit einen stets grösseren Raum lasse. Ciment bewies damit eine grosse Feinfühligkeit und auch Voraussicht, wurde doch diese von ihm festgestellte Tendenz durch die beiden folgenden Filme in eindrücklicher Weise bestätigt.

Hatte Rosi in seinen vorangegangenen Filmen das Problem der Macht in immer globalerer Dimension und auf immer höherer Ebene der Personen verfolgt, bis die Macht in Cadaveri eccellenti beinahe nicht mehr greifbar und identifizierbar war, so findet demgegenüber in dem 1979 herausgekommenen Film Cristo si è fermato a Eboli eine eigentliche Implosion statt, eine Verlagerung des Schwerpunktes des Films auf die intime Dimension eines einzelnen Menschen, nämlich des in ein Dorf in der Lucania, im Süden Italiens, verbannten Malers und Antifaschisten Carlo Levi. Levi ist sozusagen der Erzähler des Films, seine Sicht der Ereignisse wird auch weitgehend zur Sicht des Zuschauers, Levis Optik bestimmt zum grossen Teil die Optik der Kamera; war die Kamera in früheren Filmen Rosis meist ein Instrument des auktorialen Erzählens, so wird sie hier zum Instrument des quasi personalen Erzählens: sie sieht Levi, oder sie sieht, was Levi sieht.

Vorzeichen für diese intimere Dimension kann man in einigen Figuren vorangegangener Filme erkennen, vor allem in der Figur des Inspektors Rogas, der versucht, in der stets unübersichtlicheren Wirklichkeit die Orientierung zu finden, und der infolge der dabei erlebten Verunsicherung immer mehr auf sich selbst zurückgeworfen und isoliert wird.

Dabei hielt Rosi aber auch bei Rogas weiterhin das Prinzip ein, das Privatleben seiner Figuren so weit wie möglich auszuklammern und nur ihre öffentliche Seite oder die für ihr öffentliches Wirken relevante Seite zu zeigen. Dieses Prinzip durchbricht er jedoch mit Cristo si è fermato a Eboli und später auch mit Tre fratelli. Der Verbannte Carlo Levi und die drei Brüder am Totenbett ihrer Mutter werden alle auch in ihren privaten, psychologischen Zügen und in ihren persönlichen, individuellen Erfahrungswelten gezeigt. Dies ist eines der Elemente, die den neuen Ton dieser jüngsten Filme Rosis ausmachen; gerade daraus entsteht zum Beispiel der intimere, verhaltene und auch melancholische Grundton dieser Filme (ein Grundton, der übrigens auch unterstrichen wird durch die gewandelte, sich nunmehr an spätromantische Vorbilder anlehnende Musik—wie immer von Piero Piccioni).

Die Aufmerksamkeit für die privaten Züge der Figuren bedeutet aber bei Rosi keineswegs das Ausschliessen der Probleme der Umwelt. Die Gefühle und die Betroffenheit der Figuren sind zwar persönlich und individuell, aber was sie betroffen macht ist weiterhin die Problematik der Gesellschaft, in der sie leben — eine Problematik, auf die Rosi auch in diesen beiden jüngsten Filmen weiterhin Bezug nimmt. Dies, auch wenn der Film Cristo si è fermato a Eboli, auf den wir damit wieder zurückkommen wollen, zur Zeit des Faschismus und nicht in der Gegenwart spielt; gerade unter dem Eindruck der aktuellen Krise entschloss sich Rosi zur Verfilmung des berühmten Buches von Carlo Levi aus dem Jahre 1945 (wobei Rosi dieses Filmprojekt bereits zurzeit von Salvatore Giuliano schon ins Auge gefasst hatte):

Sein Verständnis der Probleme ist derart, dass es mir geschienen hat, in einer Epoche, wo wir in der Folge von tragischen Ereignissen dreissig Jahre italienischen Lebens in Frage stellen, sei der Augenblick gekommen, das Buch auf die Leinwand zu bringen. Die Südfrage ist heute tatsächlich die wahre nationale Frage. Dieses Projekt aufzugreifen, entspricht für mich dem bescheidenen Ehrgeiz, weiterhin in der Geschichte meines Landes präsent zu sein.18

Das Thema des italienischen Südens war in der einen oder andern Form in Rosis Filmen schon immer präsent. Die breite, anonyme Bevölkerung des Südens bildete dabei aber meist eher den Hintergrund und stand nicht im Zentrum der Filme. In Cristo si è fermato a Eboli dagegen stehen gerade diese Bevölkerung und ihre Kultur im Zentrum der Aufmerksamkeit Levis und damit Rosis.

Die Kultur des Südens — und besonders zur Zeit des Faschismus! — ist geprägt durch Armut, Unterentwicklung, Rückständigkeit und Unterdrückung. Im Mittelpunkt des Films stehen jedoch nicht die Kritik und die Anprangerung solcher Missstände, die Anklage also; wie auch, nebenbei gesagt, das Problem der Macht nicht mehr im Mittelpunkt steht. Vielmehr gewinnt diese Kultur des Südens für Rosi noch eine andere Bedeutung, nämlich die eines bisher unverstandenen kulturellen Universums. Im Mittelpunkt des Films steht denn auch die Begegnung des Verbannten Levi mit dieser Kultur des Südens, seine Begegnung mit der archaischen Welt der Bauern der Lucania. Der Film erzählt eine Liebesgeschichte zwischen einem Menschen und einer Kultur (dies eine Definition von Ciment, der Rosi zustimmt19). Nach Rosis Aussage ist Levi ein Mann, «..., der ausgegangen ist von einer Kultur, die die Rationalität vertritt, und der beginnt, berührt zu werden von einer Kultur des Irrationalen.»20

Diese Kultur des Irrationalen, des Nicht-Rationalen, übt eine grosse Anziehung aus, der nicht nur Levi, sondern ganz offensichtlich auch Rosi selbst untersteht. Die faszinierte, liebende Zuneigung zu dieser Kultur des Irrationalen, zu dieser dem modernen Bewusstsein so fernstehenden archaischen Kultur des Südens ist — sprechen wir es aus! — auch eine Art nostalgische Zuneigung. Es ist eine Zuneigung, die gewisse negative, rückständige Elemente dieser Kultur nicht als Hindernis für eine Veränderung, für eine Überwindung der Armut und der Unterdrückung interpretiert und kritisiert, sondern gerade ihre archaische Andersartigkeit liebt.

Wenn wir von hier aus zurückblicken, so können wir erkennen, dass Rosi die traditionelle Kultur des Südens, die Kultur der breiten, anonymen Bevölkerung des Südens, bereits in seinen früheren Filmen nicht kritisiert, sondern sie stets als eine andersartige, in sich geschlossene Welt betrachtet hat, als eine Welt, deren Elemente man nur akzeptierend verstehen, nicht aber verurteilen kann — als eine Welt archaischer Werte und Verhaltensweisen, wie sie zur Darstellung kommen zum Beispiel in der Totenklage von Giulianos Mutter an seiner Leiche, dargestellt übrigens von der tatsächlichen Mutter Giulianos, oder beim Auflauf der Frauen von Montelepre, die gegen den Abtransport ihrer Männer nach Palermo protestieren. Auch der Bandit Giuliano war für Rosi im Grunde Ausdruck dieser archaischen Welt; damit ist er für Rosi moralisch nicht verurteilbar, es kommt ihm keine persönliche Schuld zu, und seine Person wie auch seine Taten können keiner individualisierenden Kritik unterzogen werden. Rosi sagte damals zu dem Film:

Mein wirkliches Thema ist ein unglückliches, unterdrücktes, irregeleitetes und aufrührerisches Land. Ich will Giuliano weder verherrlichen noch verdammen. Ich will zeigen, dass er die Frucht seiner Erde war, der sozialen und politischen Bedingungen der vierziger Jahre.21

Kritisiert, oder zumindest der Lächerlichkeit preisgegeben, werden in Salvatore Giuliano dagegen die aus dem Norden stammenden Personen, vor allem die Repräsentanten der Zentralmacht — Vertreter des abstrakten Staates und der rationalen Kultur des Nordens —, die dem Volk und der Kultur dieses Siziliens verständnislos und borniert gegenüberstehen. Wie ein Eisverkäufer auf der Piazza von Castelvetrano einem zur Leiche Giulianos herbeigeeilten Journalisten sagt, nachdem er erfahren hat, dass dieser aus Rom gekommen ist: «Was wisst denn ihr von Sizilien!» In diesem Sinne war Rosis Verhältnis zum Volk und zur Kultur des Südens nie ein kritisches, sondern stets eines des Verstehens und Akzeptieren des Bestehenden, und dieses in Cristo si è fermato a Eboli voll zum Tragen kommende «ethnologische» Verhältnis zur Kultur des Südens war im Grunde in seinem Werk seit je angelegt.

Das «Volk» und sein Bewusstsein

In seinen Filmen stellt Rosi das einfache Volk des Südens meist als eine Art Kollektivsubjekt dar, als eine passive, anonyme Masse von Menschen, die nicht mit individuellen Zügen gezeichnet sind, unterdrückt, unmündig und in Unmündigkeit gehalten, ohne wirkliche Erkenntnis dessen, was sich über ihren Köpfen in der Sphäre der Macht abspielt (auf welcher Ebene die eigentliche Handlung abläuft). Es ist eine Masse von Menschen, die weder als Ganzes noch als einzelne Lern- und Erkenntnisprozesse durchleben; so sind es zum Beispiel auch in Uomini contro ja nicht die Soldaten, die Bauern aus dem Süden, die einen Lemprozess durchleben, sondern es ist der junge, bürgerliche Leutnant Sassu, der das Unrecht erkennt — während die Bauern, wie Rosi sagt, den Krieg mit derselben Schicksalsergebenheit erdulden, mit der sie Naturkatastrophen hinnehmen. Dadurch verbleibt aber das Volk des Südens in einem Bewusstseinszustand, der mit eine Bedingung seiner Subalternität, seiner Unterdrückung, seiner Armut und seiner Rückständigkeit ist. Im Bewusstsein, ja in der Kultur des Südens insgesamt, sind Verhaltensweisen vorgeprägt, die einen Wandel der Verhältnisse verunmöglichen und die zudem ihrerseits die auch von Rosi verurteilten negativen Erscheinungen der süditalienischen Wirklichkeit, wie etwa die Mafia, mittragen und ermöglichen — ohne dass jedoch Rosi dieses Bewusstsein des Volkes des Südens, oder zumindest bestimmte Elemente desselben, wirklich explizit kritisieren und verurteilen würde, und ohne dass er diesen Zusammenhang überhaupt problematisiert.

In Anlehnung an das, was wir weiter oben im Hinblick auf die politische Argumentation in Rosis Filmen gesagt haben, gilt es, hier einen Punkt festzuhalten, der für alle seine Filme, auch für Cristo si è fermato a Eboli, zutrifft: Rosi kämpft gegen die Unterdrückung des Volkes, aber nicht für ein neues, modernes Bewusstsein des Volkes. — Wir sprechen hier absichtlich nur vom «Volk» im allgemeinen, denn das Volk des Südens ist bei Rosi das Volk schlechthin; ein anderes als das Volk des Südens kommt in seinen Filmen fast nie zur Darstellung.22

An diese Überlegungen lassen sich eine Reihe weiterer Fragen anknüpfen; zum Beispiel: Wie kann sich die Lage des Volkes im Süden ändern, wenn sich sein Bewusstsein nicht ändert? Wie und woher kann der Bevölkerung des Südens oder einzelnen aus ihr ein neues Bewusstsein erstehen? Oder als allgemeinere Fragen: Wie kann die Unterdrückung enden, wenn sich das Bewusstsein nicht ändert? Und wie ändert sich das Bewusstsein, oder wie sollte es sich ändern, wenn die Unterdrückung endet oder sich lockert? Wir wollen nicht auf alle diese Fragen eingehen, sondern nur auf die letzte. Mit dieser letzten Frage nämlich ist eine Schwachstelle in Rosis bisheriger, oben herausgearbeiteter Haltung berührt, eine Schwachstelle, der sich auch Rosi selbst bewusstgeworden ist — und der Film Tre fratelli (1981) stellt den Versuch zu ihrer Überwindung dar.

Versuchen wir, noch klarer zu machen, wie dies gemeint ist: Was mit den Überlegungen über das Bewusstsein des Volkes wie des einzelnen angesprochen wird, ist die Frage nach der Mündigkeit des Bürgers, nach seinem Selbstbewusstsein und nach seinem Bewusstsein der eigenen Verantwortung sowohl für sein eigenes Leben wie auch, und vor allem, für die Gesellschaft, in der er lebt. Gerade diese Frage nach der Mündigkeit des Bürgers aber beschäftigt Rosi in Tre fratelli vordringlich — bezogen nicht nur auf den Süden, sondern auf ganz Italien —, und sie beschäftigt ihn auch, und vielleicht noch mehr als im Film, in seinen Äusserungen über dieses Werk (wie wir im Folgenden noch sehen werden). Dabei hat sich aber sein Blickwinkel gegenüber seiner früheren Haltung geändert, und zwar wohl auch deshalb, weil sich ihm die Erkenntnis der genannten Schwachstelle aufgedrängt hat.

Es ist, als habe Rosis frühere Anklage gegen die Macht und deren Missbrauch im Grunde stets implizit auf der Hoffnung beruht, dass das Volk, dass der einzelne Staatsbürger, befreit von der Unterdrückung und Bevormundung durch die Macht, sozusagen automatisch eine aktive, positive Rolle im Leben seines Landes spielen werde — als gelte es nur, diese seine Potentialität von den Fesseln zu befreien —, während Rosi heute dagegen erkennt, dass der erhoffte verantwortliche und mündige Bürger die ihm zugedachte Rolle nicht ausfüllt (dies die erwähnte Schwachstelle). Ging Rosi früher von der Ansicht aus, dass die Macht den einzelnen unterdrücke und ihn hindere, ein mündiger Bürger zu sein, so beklagt er jetzt dagegen, dass der Bürger heute zwar seine Rechte und die Freiheit zur Teilnahme am öffentlichen Leben besitze, dass er aber diese Rechte und diese Freiheit nicht in verantwortlicher Weise wahrnehme.

In seinem letzten Film Tre fratelli ist Rosis Besorgnis über dieses mangelnde Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Gemeinschaft, das er beim heutigen Italiener feststellt, stark spürbar. Auf diese Besorgnis ist wohl zum Teil auch die melancholische, ja leicht resignative Grundstimmung des Filmes zurückzuführen (zum andern Teil ist diese aber zweifellos auch Ausdruck einer bei Rosi schon immer gegebenen und wahrscheinlich spezifisch süditalienischen Melancholie). Wie in einer Gegenbewegung dazu will Rosi jedoch mit Tre fratelli gleichzeitig auch einen moralischen Appell an den Zuschauer richten, diese seine Verantwortung wahrzunehmen — einen Appell, den er durch die Orientierung an fundamentalen, existentiellen Werten und Gewissheiten gefühlsmässig zu untermauern sucht. Damit verbindet Rosi, zum ersten Mal in einem seiner Filme, ein explizites Plädoyer für die Demokratie als derjenigen Staatsform, die die Freiheit und Verantwortung des Individuums erst ermöglicht.

Die Welt des Vaters

Der Süden Italiens kehrt auch in Tre fratelli als Thema wieder; der Süden ist die Welt des Vaters, in die die drei Brüder zurückkehren, um am Totenbett ihrer Mutter zu trauern. Die Rückkehr der drei Brüder in den Süden gewinnt dabei — wie wir schon zu Beginn dieses Aufsatzes erwähnt haben — die Bedeutung einer Rückkehr in eine archaische bäuerliche Kultur, mit ihren existentiellen Werten und Gewissheiten, welche Rosi der Orientierungskrise der Gegenwart scheint entgegenstellen zu wollen. So geht es hier nicht mehr um den Gegensatz zwischen einer Kultur der Rationalität und einer Kultur des Irrationalen, sondern um den Gegensatz zwischen einer Welt der in die Krise geratenen Werte und Gewissheiten, nämlich der italienischen Gegenwart, und einer Welt, in der gewisse Werte und Gewissheiten noch immer symbolisch verankert sind, und aus der sie wohl nach Rosis Hoffnung auch noch immer geschöpft werden können. Die italienische Gegenwart ist in Tre fratelli die Welt, in der die drei Brüder leben; es ist das heutige Italien mit seinen politischen und sozialen Krisen, den unsicheren Lebensbedingungen, dem Terrorismus.

Von Tre fratelli sind wir zu Beginn ausgegangen, bei Tre fratelli sind wir nun wieder angelangt. Unser Versuch, Rosis Schaffen von den Anfängen bis zu diesem seinem letzten Film zu verfolgen, um im Vergleich das Neue wie das sich Gleichbleibende erkennen zu können, sollte gezeigt haben, dass das Werk dieses Regisseurs bei aller Entwicklung gleichzeitig auch von einer grossen Kontinuität gekennzeichnet ist. Und es sollte sich auch gezeigt haben, dass diese Entwicklung nur vor dem Hintergrund der Veränderungen im Leben Italiens ganz verstanden werden kann.

An diesem Punkt angelangt, wollen wir nun im folgenden nochmals Rosi selbst zu Wort kommen lassen, indem wir Auszüge aus einem aktuellen Interview wiedergeben, das der Autor im November 1981 in Rom mit Francesco Rosi führte. Diese Äusserungen Rosis wollen wir nur durch lose Kommentare (oder durch die Interviewfragen) verbinden, zum einen, weil einige davon aufgrund all des bisher Gesagten für sich selbst sprechen, zum andern, weil damit vielleicht eine auch auf die Zukunft hin offene Interpretation gewahrt werden kann, die Rosis Werk als work in progress durchaus zukommt.

Francesco Rosi, im November 1981

Die Absage an das «Kino der Anklage», die Rosi bereits im Zusammenhang mit Cadaveri eccellenti aussprach, hat sich mit Tre fratelli noch weiter verstärkt:

Mir persönlich — aber ich glaube, dies ist heute ein verbreitetes Gefühl bei vielen Intellektuellen und auch Nicht-Intellektuellen —, mir persönlich genügt heute die ‹cultura della denuncia›, die Kultur der Anklage nicht mehr. Ich fühle heute das Bedürfnis, alle meine intellektuellen und moralischen Kräfte zu sammeln, nicht nur, um zu zeigen, was bei den andern nicht funktioniert, sondern auch, um zu verstehen zu suchen, was in mir nicht funktioniert hat, und

Aus einem Interview des Autors mit Francesco Rosi im November 1981 in Rom.

Michel Ciment, Le dossier Rosi, cinema et politique; Paris 1976 (éd. Stock), S.68.

ebd., S. 84.

ebd., S. 99.

Interview von Michel Ciment, Goffredo Fofi und Paolo Gobetti, in: Positif, no. 69, Paris, mai 1965, S. 14 (dasselbe auch in; Ciment, op. cit., S. 102; auf Deutsch in: Filmstudio 47,1. Okt. 1965, S. 20).

ebd., S. llf. (Ciment, S. 100; Filmstudio 47, S. 17f.).

Interview von Gideon Bachmann in: Cinéma 65, Paris, no. 97, juin 1965, S. 86 (deutsch in: Film, Nr. 2/65, Felber bei Hannover, Feb. 1965 - der zitierte Passus fehlt jedoch).

Die folgenden Rosi-Zitate stammen alle aus den schon erwähnten Interviews in Positif, no. 69; Cinema, no. 97 und in Ciment, op. cit. sowie aus: Ulrich Gregor (Hg.), Wie sie filmen, Fünfzehn Gespräche mit Regisseuren der Gegenwart. Siegbert Mohn Verlag, Gütersloh 1966, S. 2431T.; Interviewer war Gregor selbst.

Interview des Autors, siehe oben.

siehe dazu vor allem die Interviews mit den beiden genannten Mitarbeitern bei: Jean-A. Gili, Francesco Rosi, cinema et pouvoir; ed. du cerf, 1976.

Sandro Zambetti, Francesco Rosi; il castoro cinema 31/32, luglio/agosto 1976, La Nuova Italia, Firenze 1976, S. 71.

zitiert bei Gili, S. 72.

ebd., S. 86.

siehe Rosis kurze Aussage dazu bei Zambetti, op. cit., S. 5.

aus einem Interview der italienischen Zeitung «Avanti!», zitiert in den Verleihunterlagen der UNITALIA-film zum Erscheinen des Films.

Positif 181,1976, S.29.

ebd., S. 31.

Interview mit Michel Ciment in: Positif 215, février 1979, S. 25.

ebd., S. 30.

ebd., S. 31.

zitiert bei Gili, op. cit., S. 37.

siehe in diesem Zusammenhang auch Rosis Antwort auf die Frage, wieso er nie einen Film über norditalienische Industriearbeiter, anstatt über süditalienische Bauern, drehe, bei Ciment, op. cit., S. 123.

Paul Huber
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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