RICHARD DINDO

DIE ARBEIT MIT BILDERN UND DIE ARBEIT DER BILDER — ZWEI TEXTE VON RICHARD DINDO

CH-FENSTER

Die theoretische Reflexion über die Möglichkeiten des dokumentarischen Filmbilds und das Wesen der Montage bricht bei Richard Dindo nie ab. Sie findet statt bei der Planung der Filme, während der Dreharbeiten und dem Schnitt, bei und nach den Vorführungen. Richard Dindo ist auch einer der wenigen Filmemacher, die sich mit der Kritik auseinandersetzen. (Die meisten seiner Kollegen, will uns scheinen, steuern bei ihrer Lektüre unserer Reflexionen über ihre Filme geradewegs auf den Schlussabschnitt zu, in dem wir uns in der Regel zu einem Gesamturteil oder gar allenfalls zu einer Empfehlung aufraffen. Eine «gute Kritik» ist für sie eine, die ihren Film lobt.)

Nach den Aufführungen von Max Frisch, Journal I—III wurde in der Kritik oft von «Verdoppelung» gesprochen (Film und Roman), auch von «unadäquaten Bildern» (des Films im Vergleich mit dem Roman). Und Jörg Huber kam im CINEMA 1/81 zum Schluss, Dindos Film illustriere Gedanken.

Richard Dindo nimmt in seinem ersten Text die Diskussion mit Jörg Hubers Interpretation seines Films auf. Er formuliert noch einmal (und noch einmal anders), welche Gedanken seine Bilderarbeit leiteten.

Der zweite Text ist der erste Entwurf zu einem neuen Film, der noch im Stadium der Vorarbeiten (Interviews und Finanzierungssondierungen, Dokumentation) ist, und der - wenn alles gut geht - Ende 1982 fertiggestellt werden soll.

Wir danken Richard Dindo für seinen Diskussionsbeitrag und den Einblick in seine neuen Pläne. (sb.)

Die sogenannte «Illustration von Gedanken» im Film Max Frisch, Journal I-III

Journal I-III ist keine Romanverfilmung, sondern ein Porträt des Schriftstellers als Lektüre einer autobiografischen Erzählung. Der Gegenstand des Filmes ist demzufolge der Text, die Sprache des Autors.

Es ging nie darum, die Sprache des Schriftstellers in Bilder «umzusetzen», sondern ihr einen Ort zu geben im Film.

Aus dem Werk des Autors sind Texte zitiert die einen autobiografischen Hintergrund haben oder Reflexionen sind über das Schreiben an und für sich. Der Film führt dem Zuschauer die Gedankenarbeit des Autors vor, seinen Umgang mit der Sprache.

Der Film ist eine Annäherung an die Existenz des Schriftstellers über die Sprache. Alles was man über ihn erfährt, wird von ihm selber gesagt.

Der Film stellt damit aber neue Zusammenhänge her. Die Bilder des Films fügen dem Text des Autors etwas Neues hinzu: den realen Ort, die realen Personen. Der Film zeigt die Örtlichkeiten des Autors nicht wie man Marienbildchen hinterlegt, sondern um damit eine Trauerarbeit zu machen, jene, die der Autor schon mit seiner Sprache macht und die von den Bildern verdoppelt wird. Die Bilder drücken keine Ideen aus, alle Ideen kommen über die Sprache des Autors in den Film. Die Bilder weisen auf nichts hin, sie zeigen nur, was es zu sehen gibt.

Alles Demonstrative ist aus ihnen verbannt.

Der Autor selber beschreibt, was er gesehen hat, als «Erinnerungsfilm». Sein Schreiben ist immer wieder visualisierte Erfahrung. Er beschreibt seinen Blick, den er auf die Dinge wirft: «Ich möchte beschreiben können, was alles ich sehe.»

Der Film macht eine Arbeit mit den Bildern des Autors. Der Autor beschreibt, was er sieht, der Film zeigt es. Der Film versucht den Blick des Autors zu reproduzieren. Er entsteht «unter den Augen» des Autors, dessen Text der «innere Monolog» dazu ist. Der Film ist deshalb ein Porträt des Autors «von innen heraus», er versucht den Autor zu verstehen über seine Sprache.

Die Fragestellung war nicht: wer ist der Autor?, sondern wie entsteht seine Literatur?

Der Dokumentarfilm stellt sich immer «in den Dienst der Sache.» Er versucht Bilder zu finden, die seinen Gegenstand richtig, d.h. ihm entsprechend, darstellen. Die Filmbilder erscheinen hier wie die «äussere Bewegung» zur Sprache des Autors, die die «innere Bewegung» wäre.

Es ist gleichzeitiges Sehen und Hören auf zwei verschiedenen Ebenen. Der Autor erzählt eine Reise, und der Film zeigt die Bilder dieser Reise.

Die Sprache des Autors und die Bilder des Films reden auf zwei verschiedene Weisen von derselben Sache, die sich als nicht mehr dieselbe herausstellt. Der gleiche Satz zum gleichen Bild sagt nicht dasselbe aus. Die Sprache wird durch die Bilder erhellt und die Bilder durch die Sprache.

Warum ist es illustrativ, wenn der Film eine Holztreppe zeigt, die der Autor beschreibt, und über die einmal jemand gegangen ist?

Der Autor beschreibt nicht nur eine Holztreppe, er erzählt eine Geschichte dazu.

Das Bild der Holztreppe im Film ist das Bild zu dieser Geschichte. Jörg Hubers Formel «Illustration von Gedanken» ist schon widersinnig an und für sich, weil Gedanken gar nicht illustriert werden können. Gedanken können bis auf weiteres nur mit Sprache ausgedrückt werden. Gerade weil der Film nicht Gedanken illustrieren kann, muss er sich damit begnügen, das zu zeigen, was zeigbar ist. Die Sprache des Autors als Fiktion deckt somit die Grenze des Bildes als Dokument auf.

Der Film leistet mit seinen Bildern eine andere Art von Arbeit, als sie der Autor mit seiner Sprache erbringt.

Der Film ist die Begegnung dieser zwei Arbeiten.

Er wendet sich an einen Zuschauer, der sehen will, wovon im Text des Autors die Rede ist.

Gerade weil der Autor in seinem Buch den Anspruch stellt, für einmal keine Geschichten zu erfinden, sondern zu sagen, was in seinem Leben wirklich geschehen ist, war es interessant, dieses Wirkliche von neuem zu hinterfragen und zu relativieren durch Gegenüberstellung mi dem realen Ort und den realen Personen. Diese Arbeit konnte nur von einem Film geleistet werden. Indem man das Bild sieht, über das der Autor schreibt, versteht der Zuschauer besser welche Arbeit der Schriftsteller mit der Sprache macht.

Der Film ist die Hinterfragung dieses Anspruches: Was ist wirklich? Was ist Fiktion?

Damit reproduziert der Film auf seiner eigenen Ebene die Darstellungsproblematik des Schriftstellers.

Er macht diese damit für den Zuschauer objektiv durchschaubar. Die Bilder des Filmes sind Spuren, die zeigen, was es zu zeigen gab, ohne der abzubildenden Sache irgendetwas hinzuzufügen. Die einzige wirkliche Illustration im Film ist der vom Autor selber gedrehte Super-8-Film, dessen Inhalt er im Buch auch effektiv beschreibt.

Wenn der Film ein Haus zeigt in dem der Autor mit einer Frau gelebt hat, was man im Off, über die Sprache des Autors, erfährt, hat das Bild nicht einen Gedanken illustriert, sondern auf eine andere Weise einen Ort memorisiert. Der Film macht mit den Orten des Autors eine Bildarbeit, denn der Autor ist ein Schriftsteller des Ortes. Die Filmbilder sind Definitionen von Örtlichkeiten. Jedes Filmbild mach die Wirklichkeit immer zu einem Ort. Der Dokumentarfilm zeigt damit aber auch die Grenzen des Abbildbaren. Die Begegnung mit der Sprache des Autors wird zur Definition dieser Grenze.

Die Verbindung zwischen der Sprache des Autors und den Bildern des Films wird zur Frage: was ist dokumentarische, was ist fiktionelle Darstellung?

Illustrativ wäre gewesen, beim Zitat «Gestern auf der Fahrt hierher haben sie wenig geredet. Lynn am Steuer, während er sich mit der Landkarte beschäftigt. Rücktritt von Bundeskanzler Brandt, hier kein Thema, das über mehrere Meilen reicht» eine Fotografie von Bundeskanzler Brandt hineinzuschneiden. Stattdessen zeigt der Film ein ununterbrochenes Travelling, während man im Ton den «inneren Monolog» des Autors hört, der unter anderem von dieser Reise redet, die das Filmbild reproduziert. Es ist aber nicht einfach eine Landschaft von Montauk zu sehen, sondern ein Blick durch das Autofenster.

Das Bild ist «unter den Augen» des Autors gefilmt (der Film ist ja eine Lektüre), es gibt da nichts zu erfinden, sondern die richtigen Bilder zu suchen, die dem Gegenstand des Filmes entsprechen.

Wenn es beim Travelling auf der Rückfahrt nach New York im Off heisst «Man sieht bereits die grauen Umrisse von Manhatten...», sieht man im Bild nicht etwa die grauen Umrisse von Manhatten; die kommen erst später, wenn im Ton schon wieder von etwas anderem die Rede ist. Der Text ruft nie das Bild, was illustrativ gewesen wäre, sondern Text und Bild existieren nebeneinander, manchmal verlaufen sie parallel zueinander, manchmal überschneiden sie sich. Es gibt da ein präzises System von Beziehungen zwischen den Bildern und den Texten, ein System von Berührungen und Verschiebungen, von Asynchronitäten, Assoziationen und Wiederholungen, die den Film, als Lektüre des Buches, zu einem neuen Gegenstand der Lektüre machen.

Lesen heisst den Gegenstand rekonstruieren. Der Film wiederholt in seiner äusseren Struktur die «innere Bewegung» des Buches. Er geht davon aus, dass ein Text immer wieder neu gelesen werden muss, dass ein Text nie zu Ende gelesen ist. Er versucht, aus dem Lesen eine endlose Arbeit zu machen.

Die Bilder haben an und für sich keinen Sinn, sie zeigen nur Orte und Menschen an Orten. Sie bekommen ihren Sinn erst in der Montage, durch die komplexe und präzise Verbindung mit dem Text des Autors. Die Montage zeigt, dass die Wirklichkeit nur einen Sinn hat durch Darstellungsarbeit. Die Bilder erhalten ihre Bedeutung erst innerhalb einer Struktur von Darstellung, in einem System von Koordinaten, wo alles auf alles verweist und ineinander verwoben ist.

Es geschieht etwas im Laufe der Zeit, die der Film braucht, um sich, vor den Augen des Zuschauers, selber zu konstituieren. Von einem bestimmten Augenblick an wird der Film Erinnerung an sich selbst. Gerade indem mit den Bildern eine Arbeit gemacht wird, entziehen sie sich dem vermeintlich illustrativen Charakter. Es liegt am Zuschauer diese Arbeit zu sehen als einen Herstellungsprozess.

Der Filmemacher selber definiert seinen Standort durch den Blick, den er auf die Dinge wirft und durch die Zusammenhänge, die er mit der Montage herstellt. Er braucht sich selber nicht darzustellen, im Sinne von «Ich bin derjenige, der einen Blick auf die Dinge wirft, etc.»

Jedes Bild ist die Definition eines Blickes. Filme machen heisst Standorte bestimmen. Der Ort der Kamera ist die Markierung eines Standortes. Bilder sind Dokumente einer Präsenz: jemand ist hier gewesen und hat ein Bild hinterlassen.

Film ist Erinnerungsarbeit mit Bildern.

Mit Bildern kann man nichts zeigen, was nicht schon gesehen wurde. Filmbilder können nichts erfinden, sie können nur sichtbar machen, was in der Realität schon vorhanden ist. Das ist ihre objektive Limite, die die Sprache nicht kennt. Max Frisch, Journal I—III ist unter anderem auch eine Reflexion über diese Limite.

Der Film macht keine «Analyse» des Autors, es ist der Zuschauer, der einen analytischen Blick auf ihn werfen muss, denn die Analyse ist die Darstellung selber, deren unsichtbarer Organisator der Filmemacher ist.

Der Film illustriert nicht, er zeigt nach und nach Bilder, die zusammengehören und die gesamthaft gesehen ein Bild des Autors ergeben, so wie bei einem Puzzle nach und nach etwas sichtbar wird durch Bilder, die, zusammengelegt, sich berühren und in fortschreitender Entwicklung ein Bild ergeben von Berührungspunkt zu Berührungspunkt. Das Porträt des Autors, als Lektüre seiner autobiografischen Erzählung, ist nicht die Definition eines Bildes, sondern die Summe dieser Berührungspunkte.

Es bleibt dem Zuschauer überlassen, was er in jedem einzelnen Bild sehen will und ob seine eigene Blickarbeit imstande ist, die Bilder mit etwas auszufüllen, nämlich mit seiner eigenen Vorstellungskraft.

Der Film versucht, dem Zuschauer Lust zu geben, den Autor neu zu lesen, Lust zum Lesen überhaupt.

Richard Dindo, Mai 81

Das Max Haufler-Projekt

Max Haufler, Filmemacher und Schauspieler (1910-1965), hat den Roman «Der Stumme» (von Otto F. Walter) verfilmen wollen. Im Juni 1965 hat er sich umgebracht.

Warum?

Wieso wollte er den Roman von Walter verfilmen?

Hat er sich umgebracht, weil er diesen Film nicht machen konnte? Es muss in seinem Leben etwas gegeben haben, was in diesem Roman dargestellt ist. Wenn er den Film nicht gemacht hat, dann vielleicht, weil er über das, was im Roman dargestellt ist und sein eigenes Leben betrifft, nie hinweggekommen ist. Er muss im Roman seine eigene «Schicksalsneurose» dargestellt gesehen haben.

Diesen Film machen hätte also geheissen, über seinen eigenen Schatten springen, «das» Problem lösen. Er muss an diesem Projekt gescheitert sein, weil er an seinem eigenen Leben gescheitert ist.

Diese Romanverfilmung konnte nur ein Projekt bleiben. Als Projekt hat es ihn noch eine Zeitlang am Leben gehalten. Sein Tod muss das Eingeständnis gewesen sein, dass er diesen Film nicht mehr drehen wird, weil etwas anderes in ihm stärker geworden ist als sein eigenes Leben, und dieses andere ist eben gerade das, was im Roman dargestellt ist und was Haufler erst auf sein Projekt gebracht hat.

Gab es bei Haufler so etwas wie ein «Syndrom des Misserfolges»? Es waren jedenfalls sicher nicht nur die sogenannten gesellschaftlichen Verhältnisse, der «steinige Boden» usw., die ihn von der Realisierung seines Projektes abgehalten haben, sondern etwas in ihm selbst. Er war sich selber der Grund für die Nicht-Realisierung des Filmes.

Unser Projekt: den Film an seiner Stelle drehen. So wie er ihn vielleicht gemacht hätte, uns dabei unablässig fragend, was ihn an diesem Roman so bewegt haben muss und warum er den Film schliesslich nicht gemacht hat.

Unser Projekt: ein Porträt von Haufler in Form einer Romanverfilmung, deren Gegenstand aber nicht so sehr der Roman selber wäre, sondern der uneingelöste Traum, den Haufler davon hatte und der ihn schliesslich nicht davon abhalten konnte, in den Tod zu gehen.

Eine «Analyse» von Haufler’s Leben in Form einer fragmentarischen Verfilmung eines Romanes, der das «Geheimnis» seines Lebens enthält.

Die Analyse als filmische Darstellung.

Wer war Max Haufler?

Seine Mutter hat ihren Mann, den Glasmaler Haufler, früh verlassen und ist mit den Kindern ins Tessin gezogen, wo sie in der Umgebung einer theosophischen Sekte lebten. Der kleine Max soll durch das freie Leben in der Natur geprägt worden sein und sich mit den Tieren gut verstanden haben. Mit 12 Jahren soll er aber einen ersten Selbstmordversuch gemacht haben.

Nachdem er in den ersten Jahren Privatunterricht bekommen hat, geht er schliesslich in eine öffentliche Schule. Zieht später, 17jährig, nach Basel, wo sein Vater zurückgeblieben ist.

Dieser, ein cholerischer und rachsüchtiger Mann, will seinen eigenen Sohn nicht empfangen und verweist ihn des Hauses. Ereignis, das den jungen Haufler zweifellos traumatisch verfolgt haben muss.

Er beginnt bald zu trinken, verbringt Wochen im Bett ohne aufzustehen. Malt seine ersten Bilder als Landschaftsmaler. Hat Ausstellungen da und dort. Seine Melancholie soll er hinter einer Art von schwarzem Humor versteckt haben. Neben seiner grossen Güte und Grosszügigkeit, soll er von Existenzängsten geplagt worden sein. Perioden grosser, komödiantischer Ausgelassenheit («Festbruder»), folgen Augenblicke tiefster Niedergeschlagenheit und Verzweiflung.

Geht nach Paris, um Malunterricht zu nehmen, hört aber nach seiner Rückkehr in die Schweiz aus unerklärlichen Gründen von einem Tag auf den andern mit dem Malen auf.

Que s’est-il passé?

Macht Cabaret mit Alfred Rasser im Freundeskreis.

Heiratet 1931, hat zwei Kinder, Janet, die später Schauspielerin werden wird, und Ivar. Trennt sich einige Jahre später von seiner Frau und lebt von da an mit der Schauspielerin Walburga Gmür zusammen, während die Kinder eine Zeit im Waisenhaus verbringen.

Spielt 1936 zum ersten Mal eine Nebenrolle in einem schweizerischen Heimatfilm (S’Vreneli am Thunersee).

Hat den Wunsch, selber Filme zu machen.

Dreht seinen ersten Spielfilm im bei uns ungewöhnlichen Alter von 26 Jahren (1938), Farinet, nach dem Roman von C. F. Ramuz. Die Dreharbeiten in den Walliser Alpen sollen mühselig und aufwendig gewesen sein. Haufler, der in Paris die Filme von Jean Renoir und Jean Vigo gesehen hat, dreht in natürlichen Dekors und lässt sich vom «poetischen Realismus» der Franzosen inspirieren. Dreht damit dem traditionellen, deutschen und österreichischen Heimatfilm ganz den Rücken. Hat aber Mühe mit den Schauspielern, darunter Jean-Louis Barrault, der nur spielt, wenn er täglich seinen Lohn ausbezahlt bekommt. Die Dreharbeiten werden durch die Kriegsmobilmachung in Frankreich unterbrochen und müssen später in Pariser Studios zu Ende geführt werden. Trotz alledem wird der Film in der Schweiz ein guter Erfolg, obwohl er dem Produzenten (Vaucher) keinen Rappen einbringt. Zu guter letzt wird bei einem Bombenangriff auf Paris auch noch das Negativ des Filmes zerstört.

Trotz der «naiven», etwas holprigen Handschrift Haufler’s, vielleicht gerade deshalb, unterscheidet sich der Film wie gesagt vom sogenannten «Heimatfilm». Man spürt die Erfahrungen des Malers in seinen Bildern und den Willen des Regisseurs, das zu sein, was man zwanzig Jahre später einen «Autor» nennen wird.

Dann dreht er eine Komödie, Brotarbeit, Emil, me mues halt rede mitenand (1941). Folgen eine Reihe von dokumentarischen Auftragsfilmen, darunter «Venezianische Rhapsodie».

Arbeitet mit Freunden weiter an Drehbüchern, tritt aber immer wieder aus unerklärlichen Gründen im letzten Moment zurück. Wird Schauspieler. Spielt in praktisch allen schweizerischen Heimatfilmen Haupt- und Nebenrollen. Ist auch hier, wie schon beim Filmen, Autodidakt in allem -und was man ein «Naturtalent» zu nennen pflegt. Will auf Anraten von Freunden Opernsänger werden. Macht wieder Cabaret (Cabaret Federal).

Spielt in vielen deutschen und österreichischen Fernsehfilmen. Schreibt weiterhin an Drehbüchern, die nicht realisiert werden. Wird nach Hollywood gerufen, wo er vor allem bei Orson Welles, Der Prozess (1962), die Rolle des Onkels von K. spielt. Soll eine grosse Bewunderung für Orson Welles gehabt haben, der ihm als Prototyp des «Filmschöpfers» vorgekommen sein muss. Denn Haufler wird sich selber immer als Autor verstanden haben.

Wollte wegkommen von der Brotarbeit; Kunst machen. Hollywood muss ihn fasziniert haben. Wird hier aber auch wieder einmal mit schmerzhaftem Gefühl an seine eigenen Grenzen gestossen sein. Auch soll er hier eine unglückliche Liebe mit einer Frau erlebt haben, die vielleicht Jeanne Moreau war. Jedenfalls kommt er in die Schweiz zurück und vegetiert immer mehr.

Tritt im letzten Moment von Regieaufträgen zurück, manchmal sogar nachdem er schon einen Vertrag unterschrieben hat.

Ist er ein letztes Mal an einer unerreichbaren, unvergleichlichen Vaterfigur gescheitert (Orson Welles)? Ist er in Hollywood auf seine Kleinheit zurückgeworfen worden, in die Zwangsjacke der schweizerischen Enge? Oder war es etwas anderes?

Seine Tendenz zur Depression und die Neigung zum Festen lösen sich in immer kürzeren und wilderen Abständen ab. Soll weitere Selbstmordversuche unternommen haben. Schreibt mehrere Exposé zum Spielfilmprojekt Der Stumme. Wird sich seinem Tode im Bewusstsein genähert haben, dass er diesen Film - und damit keinen anderen Film mehr -niemals wird realisieren können.

Hat 1955 seinen letzten eigenen (Auftrags-) Film gedreht Soll die Schauspielerei, den Brotberuf, in Wirklichkeit gehasst haben. Wie wahrscheinlich auch die Auftragsfilme, die ihn von Grösserem abgehalten haben.

Aber eben: an das Grössere wagte er sich schon seit geraumen Jahren nicht mehr heran. Gefangen wie er war in seiner «Schicksalsneurose», in seiner immer grösseren Angst, Schwermut, Depressionen.

Letzter Film in der Schweiz, als Schauspieler, Geld und Geist von Franz Schnyder (1964).

Dann Morituri von Bernhard Wicki (in Hollywood).

Und schliesslich Abschied für Klara Paschke von Peter Lilienthal für den Sender Freies Berlin (1965).

Dann erhängt er sich in einem Kasten seiner Zürcher Wohnung im Juni 1965.

Der Regisseur Franz Schnyder soll der Letzte gewesen sein, der mit ihm gesprochen hat.

(Alle Angaben In diesem Text stützen sich auf die Arbeit von Herve Dumont, publiziert in der Filmzeitschrift «Travelling», Nr. 50, herausgegeben von der Cinémathèque Suisse, Lausanne.)

Unser Projekt

Wir verfilmen Sequenzen aus dem Buch, indem wir mit einem Schauspieler, der den Stummen spielt auf eine Baustelle im Jura gehen. Wir drehen mit dem Schauspieler Probeaufnahmen zu einem Spielfilm, der schliesslich nicht gedreht werden wird.

Wir filmen «fiktionelle» Bilder mit dem Schauspieler in Situationen, die jene des Stummen aus dem Buch sind und «dokumentarische» Aufnahmen mit den Arbeitern, die hier leben und arbeiten.

Im Roman geht es, wie man weiss, um einen jungen Mann, der auf die Baustelle kommt, um seinen Vater zu suchen mit dem er nach vielen Jahren der Trennung wieder eine Beziehung anknüpfen will. Der junge Mann ist stumm wegen Gewalttätigkeiten des Vaters der Mutter gegenüber. Der Vater erkennt den Sohn nicht mehr, da er die Familie früh verlassen hat. Der Stumme kommt hieher, um seine Sprache wieder zu finden - oder um seinen Vater umzubringen oder aus irgendeinem anderen Grunde, der mit all dem zusammenhängen muss.

Es ist leicht zu sehen, warum Haufler sich für diesen Stoff interessierte. Es ist die alte, ödipale Geschichte von der Suche des Sohnes nach dem Vater. Er kommt nicht aus seiner Kindheit heraus, bevor er von seinem Vater anerkannt worden ist. Bis es soweit ist, geht es nur noch abwärts mit ihm. Zudem ist er noch stumm, er hat also einen doppelten Grund, seine eigene Sprache zu suchen, die ihm aus Verschulden des Vaters abhandengekommen ist.

Der Vater ist überhaupt an allem schuld.

Der Stumme muss eine Trauerarbeit machen.

Sein Problem ist: wie kommt er zum Reden?

Das Problem des Buches, des Filmes ist: wie bringt man einen Stummen zum Reden? Was ist Stummheit überhaupt?

Es ist der alte Kern, wie Sartre, Flaubert zitierend, schrieb, «der alte Kern, der immer durchscheint, den niemand kennt, die tiefe, immer verborgene Wunde.»

Ohne den Vater bleibt der Stumme wurzellos, baut sein Leben auf Sand, stürzt immer wieder ein und versinkt. Er muss den Vater zur Rechenschaft ziehen, von ihm geliebt werden oder ihn umbringen.

Er muss aber auch reden können, um ihm gegenüber treten zu können. Er muss mit der Sprache den Traum verwirklichen, der ihn am Leben erhält. Es ist eine Frage von Leben und Tod.

Der vaterlose Sohn bleibt Autodidakt seiner eigenen Gefühle, Autodidakt in allem. Er muss alles selber lernen, sich alles selber aneignen. Er ist darin gleichzeitig schwach und stark. Schwach, weil er allein ist und stark, weil er es tun muss, weil er keine andere Wahl hat. Er ist in allem wie wild entschlossen, beisst die Zähne zusammen, und er ist gleichzeitig unendlich gefährdet, immer in Gefahr, alles zu verlieren, weil er nichts wirklich hat, denn was er sucht, hat er schon verloren.

Wir verfilmen nicht den ganzen Roman, unser Projekt ist keine Romanverfilmung im üblichen Sinn. Wir machen ein Porträt von Haufler, in dem wir an seiner Stelle den von ihm nicht eingelösten Traum von einem Film realisieren. Wir verfilmen aus dem Buch nur Fragmente, Probeaufnahmen mit dem Schauspieler, der den Stummen spielt.

Wir verfilmen signifikante Gesten, reduzieren den Roman auf einige cinematographische Elemente:

– die Ankunft des Stummen auf dem Lastwagen, wie er den Hut verliert, wie der Hut vom Wind weggetragen wird, wie er dem Hut nachschaut

– wie er sich eine Zigarette anzündet

– wie er sich das Schaufeln und Pickeln erklären lässt

– wie er unter den Arbeitern seinen Vater sucht

– wie er überhaupt immer um sich schaut

– wie er im Bett liegt und auf Geräusche horcht, etc.

Wir filmen seine Blicke auf die Arbeiter, die Bäume, die Tiere, den Wind, den Regen, den Schnee.

Wir filmen ihn, wie er lernt, Gesten zu machen: die Gesten des Stummen aus dem Buch; die Gesten des Schauspielers, der den Stummen spielt.

Dabei zeigen wir immer wieder die gleichen Sequenzen auf verschiedene Weisen gefilmt, manchmal gleich hintereinander, manchmal in Abständen wiederholt, im Sinne: der Schauspieler zeigt, wie er als Stummer eine Zigarette anzündet.

Man sieht immer wieder die Ankunft des Stummen auf dem Lastwagen, wie der Hut wegfliegt, wie er dem Hut nachschaut - mit immer neuen Bildern.

Wir filmen keine Theater-Dialoge, keine funktionellen Handlungsabläufe, sondern auf «das Wesentliche» reduzierte Gesten, Studienaufnahmen in immer neuen Versionen.

Und zu all diesen Bildern, die sich auf eine präzise, gleichzeitig lyrische und analytische Weise durch den ganzen Film hindurchziehen, erzählen wir im Off die Geschichte des Romans, so wie ihn Haufler gelesen haben muss: als seine eigene Geschichte.

Wir suchen unter den Arbeitern mögliche Darsteller für unseren Film: Wer könnte den Vater spielen, wer diese, wer jene Figur aus dem Roman?

Wir kommentieren unsere eigenen Bilder als Suche auf dem Weg zu einem Film.

Wir zeigen mit dokumentarischen Bildern den Alltag der Arbeiter, holen dann aber einzelne Arbeiter plötzlich mit «fiktiven» Bildern aus der Gruppe heraus, lassen sie Gesten machen, wie sie im Buch beschrieben sind: Wein trinken, eine Sprengung vorbereiten, lassen, u.a.

Wir machen dabei aber keine Schauspieler aus den Arbeitern und keine Arbeiter aus Schauspielern.

Parallel zu unseren fiktionellen und dokumentarischen Studienaufnahmen zum Roman, filmen wir eine Enquete über Haufler, indem wir mit Leuten reden, die ihn gekannt haben (Schauspieler, Film-Regisseure, Produzenten, Jugendfreunde, Verwandte, z.B. Lukas Ammann, Max Dora, Leopold Lindtberg, Bernhard Wicki, Franz Schnyder, Fred Tanner, Hans Trammer, Orson Welles) und fragen: wer er war, warum er den «Stummen» verfilmen wollte, wieso er nicht dazu gekommen ist, warum er sich umgebracht hat?

Und als dritten Teil unseres Filmes stellen wir uns ein Porträt seiner Tochter vor, der Schauspielerin Janet Haufler, die in ihrer Wohnung wie auf einer Bühne - oder auf einer Bühne wie in ihrer Wohnung - monologische Szenen spielt, die direkt oder indirekt mit ihrem Vater und mit der Thematik unseres Filmes zusammenhängen:

– Monologe aus Theaterstücken oder selber Geschriebenes oder Improvisiertes

– Briefe von und an ihren Vater

– ein Lied singend oder tanzend

– sich für eine Rolle schminkend, dabei von ihrem Vater redend

– Männerkleider probierend, die jene ihres Vaters sein könnten und die am Boden liegen wie die Asche des Phönix

– mit einer Puppe spielend, die ihre Tochter sein könnte oder sie selber als Tochter ihres Vaters

– auf dem Nachttisch Fotografien von ihrem Vater ordnend

– seine Stimme von einem Tonband hörend wie er im Hörspiel von Weyrauch nach dem Roman «Der Stumme» die Rolle des Vaters spricht;

– etc.

Und das alles gespielt wie vor realen oder imaginären Zuschauern, die ihr sozusagen aus dem Theater in die Wohnung nachgelaufen sind und ihr durch das Fenster zuschauen: sie allein - mit ihrem Vater, der da ist und doch nicht da ist, und sie, die seine Tochter ist und eine Schauspielerin und bei der man manchmal nicht mehr weiss, ob siejetzteine Schauspielerin spielt, die seine Tochter ist oder ob sie seine Tochter ist, die als Schauspielerin seine Tochter spielt - oder beides zusammen.

Und immer wieder geht sie ins Kino, wo wir ihr Filme vorführen in denen ihr Vater spielte: sie als Schauspielerin und Tochter, die ihren Vater auf der Leinwand sieht als Schauspieler. Und auch hier zeigen wir immer wieder die gleichen Szenen (jene aus Geld und Geist zum Beispiel, wo er von einer Leiter stürzt und tot liegen bleibt). Wir unterwandern die «découpage» der Filme, indem wir Haufler sozusagen aus den Filmen herausvergrössern, eine eigentliche Studie seines Abbildes machen und dem Zuschauer eine Definition davon geben was Cocteau mit dem berühmten Satz gemeint haben muss, als er sagte, der Film zeige den Tod an der Arbeit.

Unser Projekt besteht also zuletzt aus drei Filmen:

– aus einer fragmentarischen Romanverfilmung

– aus einer Enquête

– und aus einem Porträt der Tochter als Schauspielerin.

Die Idee ist, in der Montage diese drei Filme ineinander zu stricken, von einem zum andern zu springen, sie sich gegenseitig berühren zu lassen, sie vorwärts zu treiben, sodass ein Film in den andern wachsen würde und so durch die Entwicklung der Wiederholungen und die Wiederholung der Entwicklungen sich laufend Rückkoppelungen und Erinnerungseffekte ergäben.

Jeder Film hätte seine Eigenart und wäre für sich immer sofort erkennbar:

– die farbigen Bilder mit dem Stummen und den Arbeitern auf der Baustelle im Jura in Regen und Schnee

– die farbigen Bilder im künstlichen Licht mit der Tochter als Schauspielerin auf der Bühne ihrer Wohnung

– die schwarz-weissen (bläulich-grauen), evtl. mit Video gefilmten Bilder der Enquete.

Während zu Beginn des Filmes noch viel gesprochen wird, werden vor allem die Bilder der Romanverfilmung mit der Zeit immer stummer, man würde immer mehr nur noch die Geräusche (den Wind, den Regen, die Alarmsignale, die Schreie, die Stimmen der Arbeiter, die Explosionen) hören, und diese Geräusche würden immer mehr in die Nachtszenen mit Janet Haufler hinübergehen, während sich die Stimmen der Enquete immer mehr mit der Romanfilmung und dem Kommentar vermischen werden.

Der ganze Film würde nach und nach selber verstummen, wie wenn er für einen kurzen Augenblick eine Öffnung (auf das Leben und den Tod von Haufler) gemacht hätte, die sich am Ende wieder schliessen würde.

Durch das immer wieder neue Aufnehmen der einzelnen Filme, durch das ständige Wiederholen und Weiterentwickeln der einzelnen Teile, ergäbe sich der Effekt einer unaufhaltsamen Umkreisung und Annäherung an Haufler, als Filmemacher und Schauspieler, sodass man sagen könnte, die eigentliche, versteckte Absicht des Filmes sei es, einen Toten zum Reden zu bringen.

Es geht in letzter Instanz um das Schicksal des Künstlers (als Filmemacher) in unserem Land, um die Unmöglichkeit hier Träume zu verwirklichen, um die Enge, die Depressionen, die Monotonie, die innere und äussere Eingeschlossenheit, um die fehlende Sprache, das Zurückdämmen der Gefühle, aber auch um eine Darstellung von Geschichte und Ökonomie des Schweizer Films in den 30er und 40er Jahren.

Und filmisch gesehen handelt es sich um ein Projekt, das sich als Forschung versteht, als ein Hinübergehen auf ein neues Gelände, als eine Weiterentwicklung einer bestimmten Auffassung von Film, die versucht, ausgehend vom Dokumentarfilm, einen neuen Typus von Fiktion zu erfinden.

Richard Dindo, März 1981

Richard Dindo
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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