KARL SAURER

DURCHBROCHENES SCHWEIGEN — DAS HÖCHSTE GUT EINER FRAU IST IHR SCHWEIGEN VON GERTRUD PINKUS

CH-FENSTER

Die Faszination und Lebendigkeit mancher Dokumentarfilme ist weniger der Gestaltungskraft von Regisseur und Aufnahmeteam als dem Erzähltalent und der Lust zur (Selbst-) Darstellung der filmisch porträtierten Personen zuzuschreiben. Zuhören lallt offenbar leichter als beobachten oder Bilder (er)finden: Bilder, die für sich sprechen, starke Bilder, die mit den Tönen in ein spannendes Verhältnis von Kongruenz oder Konkurrenz treten können. Dies ist nicht nur ein ästhetisches Problem. Zumindest so schwer wie die Verarmung der Bildsprache wiegt die indirekte sozialpolitische Selektion: Wer nicht reden kann oder reden mag, wird nicht gefilmt!

Gertrud Pinkus macht da eine Ausnahme. Die erste grosse Dokumentararbeit der Filmemacherin aus Zürich, die seit Jahren in Frankfurt lebt und arbeitet, handelt von Menschen die glauben, dass sie nichts zu sagen hätten: Von Frauen, denen früh und gründlich eingeredet wurde, dass «das höchste Gut einer Frau ihr Schweigen» sei. Frauen aus dem Süden Italiens, die auch in der Fremde - in der wirtschaftlich begründeten Emigration - die Chancen zur Selbsterkenntnis und zur Durchsetzung eigener Bedürfnisse kaum nutzen konnten, die das Aus-Sprechen eröffnen kann.

Als Gertrud Pinkus, aus nachbarlich-alltäglichen Begegnungen in ihrem Frankfurter Quartier beeindruckt von der «Lebendigkeit und Offenheit» der ausländischen Mitbewohnerinnen, am «Schicksal» einer vor lauter Depressionen tabletten- und alkoholsüchtig gewordenen Nachbarin erfahren musste, dass sie diese so «aufgeschlossen und immer guter Dinge» erscheinende Frau «gekannt hatte, ohne sie wirklich zu kennen», war sie vorerst «fassungslos». Doch sie liess es nicht bei der Einsicht bewenden, dass uns «unsere Gardinen mehr trennten als die stärksten Mauern», sondern machte sich mit Tonband und Kamera auf, «um die Gründe zu erfahren, die zu diesem Elend führten». Und sie unternahm diese Recherche nicht allein aus subjektiver Betroffenheit, sondern um die «Ursachen weiter zu erzählen».

Wer «privates» Leid öffentlich macht, übernimmt Verantwortung. Verantwortung für die Menschen, deren Vertrauen dem Filmemacher den «Rohstoff» für seine kreative Tätigkeit liefert; aber auch Verantwortung für Bilder und Töne, denen zu trauen ist.

Mit sanfter Beharrlichkeit hat es Gertrud Pinkus geschafft, das «Gebot des Schweigens» aufzubrechen und Frauen zu bewegen, ihr Geschichten aus einem zermürbenden Alltag anzuvertrauen, die sie zumindest auf Tonband festhalten durfte.

Eine dieser unspektakulär-bewegenden Geschichten - die weithin exemplarisch ist für die Erfahrungen vieler Frauen - bildet die Basis eines Films, der weder vom Bemühen um rigorose Authentizität noch von falscher Scheu geprägt ist.

Die ohne Hast erzählende Stimme der Maria M. führt durch den Film und lenkt den Fluss der Bilder und Szenen. Die lockere Verknüpfung und der gleichmässige Rhythmus erinnern an Perlen eines Rosenkranzes, die in bedächtigem Intervall durch die Finger gleiten.

Was das Erzähltemperament anbelangt, reiht sich Gertrud Pinkus damit trotz süditalienischer und bundesdeutscher Schauplätze durchaus in helvetische Traditionen ein. Eher auf Neuland gewagt hat sie sich dagegen mit ihrem Ansatz, dokumentarisches Tonmaterial mit inszenierten Szenen zu verbinden. Dieses Konzept erweist sich immer dann als besonders tragfähig, wenn sich das Gesagte und das Gezeigte ergänzen, und wenn die Rollenträger - die von ebenso sachverständigen wie bewusst agierenden Laien verkörpert werden - in betont freiem und intensivem Spiel geradezu aufleben. Manchmal kommen sich allerdings Erzählung und Inszenierung ins Gehege (etwa bei der Szene in der Bank, wo sich Off-Schilderung und rekonstruiertes Spiel störend überlappen). Wenn «Bildergeschichten» zu blossen Belegen oder Illustrationen von «Wortgeschichten» degradiert werden, kann sich der Zuschauer schnell gegängelt oder gelangweilt vorkommen. Auch in der (Aus-)Wahl der Einstellungen ist eine gewisse Neigung zur «Beleg-Dramaturgie» unübersehbar: Wenn etwa beim Spaziergang der Frau, die ihrem Mann aus der süditalienisch-ländlichen Heimat ins grossstädtische Frankfurt gefolgt ist, die Kamera in Wiederholung zeigt, dass die Emigrantin wirklich durch eine von buntem Treiben erfüllte Fussgänger-Unterführung schlendert, wäre es interessanter zu erfahren, was die Neuangekommene in der grossen fremden Stadt sieht und wie sie es sieht. (Dass die Szenen im heimatlich-sonnigen Dorf in Farbe und die im Betontristen Frankfurt in Schwarz-Weiss gedreht wurden, hat allerdings weniger mit herber Symbolik als mit ökonomischen und produktionstechnischen Gründen zu tun.) Diese kritisierten Details mindern allerdings die Bedeutung dieses innovative Akzente setzenden Erstlingsfilms nur geringfügig.

So bilden etwa die pointierte Einarbeitung des wiederholt eingesetzten «Traum-Motivs» - in einem Frankfurter Warenhaus ersteht die Emigrantin eine Art Blume mit Blüten aus Filigran-zarten Metallfedern - und der kluge Verzicht auf den inflationären Gebrauch von (Stimmungs-)Musik klare dramaturgische Pluspunkte dieser Filmarbeit, die anschaulich und eindrücklich auf verschwiegene oder übersehene Lebenserfahrungen aufmerksam macht. Auf Leben, das eher als routinemässiges Über-Leben denn als befreiendes Auf-Leben erscheint.

Der Film endet so traurig und bitter wie die (vorläufige?) Geschichte der Maria M.

Die Filmemacherin will es dabei nicht belassen. Sie will den Film - der die Männer mindestens so viel angeht wie die Frauen - auf Veranstaltungen zeigen. Sie will nach den Vorführungen den Frauen zuhören, die ihr Schweigen gebrochen haben und denen, die dabei sind, es zu brechen oder es gerne brechen würden. Sie will diese Erfahrungen und Ideen aufzeichnen: als effektives Ende des Films und Aufforderung zum lebendigen Diskurs.

Ich gestatte mir dazu eine Anmerkung. Ich möchte Gertrud Pinkus ermutigen, einerseits zu den Bildern und Tönen der vorliegenden 85-minütigen Arbeit mehr Zutrauen zu haben und andererseits die Wirkung von filmisch dokumentierten Statements, die nicht in einen Lebenszusammenhang eingebettet sind, nicht zu überschätzen.

Das höchste Gut einer Frau ist ihr Schweigen: P: Schweiz/ BRD 1980, Gertrud Pinkus und Filmkollektiv Zürich AG; R: Gertrud Pinkus; K: Elio Bisignani, Hans Stürm, Gertrud Pinkus; M: Otto Beatus; Ton: Margit Eschenbach, Josef Dillinger; Licht: André Pinkus; Mit: Maria Tucci-Lagamba, Giuseppe Tucci, Mauricio Caruso, Angelo Caruso, Marinella Tucci, Robert Lagamba. 16 mm, Farbe, schwarz-weiss, 85 Minuten

Karl Saurer
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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