Ein Ringen um die eigene Geschichte «30. Mai, 1980. Die Kampagne gegen die Gewährung eines 61-Mio.-Kredits für ein renoviertes und erweitertes Opernhaus erreicht einen Höhepunkt: Mit dem Slogan ‹Wir sind die Kulturleichen der Stadt› stellen sich um 19 Uhr 30 hundertfünfzig Personen vor das Opernhaus, um die Aufmerksamkeit der Besucher auf die Probleme der Jungen zu lenken. Diese kleine Gruppe und das Erscheinen von etwa dreissig Polizisten in Kampfausrüstung genügen, um eine Krawallnacht auszulösen...» So steht es in einer Chronik der Jugend-Unruhen in Zürich. Was vor dem Opernhaus ein äusserliches Zeichen setzte und eine lange Reihe von harten, öffentlichen Auseinandersetzungen auslöste, begann nicht erst am 30.Mai. Hier drang an die Oberfläche, was vielschichtig schon lange schwelte: ein breites, speziell von den Jugendlichen getragenes Unbehagen gegenüber der offiziellen städtischen Kultur-Politik. Die Überraschung und Verwirrung in der Bevölkerung über die gewalttätige, radikale Konfrontation zwischen Staat und Demonstranten war gross, und dementsprechend übertrieben fielen die Reaktionen der Regierung und Polizei aus. Die bürgerliche Politik manövrierte sich in eine Situation, deren Kennzeichen die allgemeine Desorientierung und die Widersprüchlichkeit der Weisungen und Handlungen waren und sind. Der Aufstand der Jugendlichen wird konkret für ein autonomes Jugendzentrum geführt, doch führt er darüber hinaus. Hier finden für einmal diejenigen ihre Sprache, die in der offiziellen Öffentlichkeit sprachlos bleiben, die weder in den Schulen, noch am Arbeitsplatz ihre Bedürfnisse umsetzen können, die in eine fremde Welt hineinwachsen müssen, die andere für sie bereitgestellt haben und auf die sie nur reagieren können. Der Widerstand der Jugendlichen ist deshalb gegen das Ganze gerichtet und geprägt durch das Suchen nach eigenen, authentischen Ausdrucksmöglichkeiten. Die Tatsache, dass in dem Aufstand das gesamte Spektrum sozialer Konflikte und Probleme unverhüllt zum Ausdruck kommt, erschwert eine eindeutige Einschätzung der Bewegung und eine bedingungslose Solidarität - es gilt zu differenzieren. Die Bewegung selbst hat Schwierigkeiten und wird gespalten. Drogen, Alkohol, Aggressionen und Kriminalität gehören ebenso zur Realität, wie kreative Phantasie und politisch bewusste Verweigerung. Es ist notwendig, sich gerade auch mit der sinnlosen Destruktivität auseinanderzusetzen und sie als Symptom einer umfassenderen, systematischen Zerstörung zu begreifen. Dabei geht es um die Frage nach den Positionen, d. h. um die Frage letztlich, aus welcher sozialen und politischen Position eine Meinung, eine Handlung vertreten wird. Diese Frage führt zur Diskussion über die konkreten Machtverhältnisse und nicht nur über Moral- und Sinnvorstellungen! Der Kampf der Jugend erschöpft sich nicht in den Strassenaktionen. Was hier stattfindet, ist ein Ringen um die eigene Geschichte, um eine Zukunft, die aus den persönlichen Erfahrungen und Bedürfnissen wächst. Es ist der Kampf einer Generation im Exil: Jetzt verlangt die Innenwelt wirklich zu werden, und man ist nicht mehr bereit, sich einer fremden Realität zu beugen und in Melancholie und Anpassung zu fliehen. Authentisches Leben bricht durch gegen verwaltetes, gegen die Sprach- und Bildschichten auch, die sich darübergelegt haben. In der letzten CINEMA-Nummer (2/80) haben Martin Schaub und Bernhard Giger Fragen an den Schweizer Film gestellt. Einstimmig wurde dabei festgestellt, dass, der Tendenz nach, dem etablierten Kino- und Fernsehfilm Phantasie und Utopie fehlen, und die Furcht vor der Fiktion und die Angst, die Konventionen zu durchbrechen, die Bilder kennzeichnen. Es ist erstaunlich (oder doch nicht?), dass, spricht man über den Schweizer Film, Fragen über Form und Inhalt und Finanzprobleme diskutiert werden, die Fragen über die Tendenz, d. h. den Standort des Autors, sein Verhältnis zu seiner individuellen und der gesellschaftlichen Realität und der Funktionsbestimmung seines Schaffens generell tabu sind. Wie schnell arrangieren sich viele doch mit den Gegebenheiten und fragen sich höchstens, welche Variationen innerhalb dieser Verhältnisse möglich sind. Es ist erschreckend zu sehen, wie sich die kommerziell erfolgreichen Filmer bis ins letzte umstellen können, je nachdem in welcher Situation sie schaffen und wer der Auftraggeber ist. Sehr schnell finden dann auch Publikum und ein grosser Teil der Kritik einiges noch interessant, bemerkenswert, gelungen im Ansatz, von der Themenwahl her recht engagiert, usw. Würde man es wagen, grundsätzlicher zu fragen, müsste man feststellen, dass vieles ängstlich, phantasielos und teils reaktionär ist. Ein kreatives Filmschaffen soll ja nicht der bestehenden Misere immer neue Spielmöglichkeiten abgewinnen, die Verhältnisse immer neu nur inszenieren und arrangieren, und so einzig reagieren, ohne nur in einem Punkt über die Zustände hinauszuführen. Vielmehr muss Kreativität die Suche nach Positionen und Einstellungen mitbeinhalten, von denen aus man die Zustände verändern kann. D. h. aber, dass man nicht nur von diesen Zuständen spricht, oder sie abbildet, sondern dass man von den Erfahrungen mit ihnen ausgeht, in ihnen handelt. Der politische Interventionsfilm mit all seinen nicht klar umrissenen Varianten stellt eine Möglichkeit dar, Filmschaffen als soziales Handeln zu begreifen. Die Video-Animatoren und Aktivisten, die im vorliegenden Heft zu Wort kommen, haben einige Ansätze praktisch erprobt und Erfahrungen gesammelt. Sie verstehen ihre Arbeit mit Bildern als unmittelbaren Teil eines sozialen, politischen und kulturellen Entwicklungsprozesses. Aus diesem Selbstverständnis werden Standorte und Funktion der Medienarbeit bestimmt, der Versuch zu einer kontinuierlichen Praxis unternommen und die Bilder in ihrer politischen und ästhetischen Qualität reflektiert. Die Zürcher Video-Beispiele weisen auf wichtige Probleme engagierter Filmarbeit hin: - Was geschieht mit dem Material, das aufgenommen wurde, und wie können Einsatz und Vermittlung gezielt und kontinuierlich aufgebaut werden? Welche Rolle übernimmt die Filmarbeit in der politischen Bewegung? Ist es möglich (wenn ja, wie), mit den Bildern bei den Beteiligten mehr als eine Bestätigung zu bewirken? Wie kann eine Ästhetik des Widerstands entwickelt werden, die sowohl im einzelnen Bild, wie auch in der Filmkomposition über die konventionelle Fernsehdramaturgie hinausführt? Diese Diskussion wird ansatzweise geführt und muss radikaler noch weitergetrieben werden - das vorliegende Heft möchte einen Beitrag dazu liefern. Wir sprechen hier nicht nur über Bilder, sondern auch von und über Positionen, von denen aus Bilder gemacht werden. Die Jugendbewegung in Zürich hat nicht nur auf die Probleme der Jungen aufmerksam gemacht. Sie hat eine Situation aufgebrochen, in der sich viele, allzu viele bequem eingenistet haben, und sie hat weiter gezeigt, welches Klima hier herrscht: Entlassungen und Berufsverbote an Universitäten, Schulen und in den Medien; Rufmorde, Hetzjagden; Inseratenboykott der Presse gegenüber und entsprechende Weisungen von leitenden Stellen aus an die Redaktoren und Journalisten ... Im Aufbruch der Jungen formuliert sich der Wille nach Realisierung der Person in der Suche nach einer Sprache, einem Denken und Handeln - subjektiv und ganzheitlich. «Das Denken scheint mir jetzt einfach eine Art Verhalten, und zwar ein gesellschaftliches Verhalten. An ihm nimmt der ganze Körper mit allen Sinnen teil», sagt der Schauspieler in Brechts Messingkauf: Ein Denken, das die Video-Arbeit tragen muss! Es geht sowohl für die Jungen, wie für die Filmer und uns um die Frage der Position und nicht der Anschauung - die Entscheidung fordern die Verhältnisse. Jörg Huber CHRONOLOGIE DER WICHTIGSTEN EREIGNISSE 1977 Die Bevölkerung Zürichs stimmt für die Umwandlung der «Roten Fabrik» (ein leerstehendes Fabrikgebäude, das der Stadt gehört) in ein Kulturzentrum. 1977/79 Nur während kurzer Zeit im Jahr wird die Fabrik für kulturelle Aktivitäten genutzt. Die Räumlichkeiten sind ans Opernhaus, an Geschäftsleute und an einige Künstler vermietet. Dezember 1979 Gründung der Bewegung «Rock als Revolte». 12. März 1980 Gründung der «Aktionsgruppe Rote Fabrik», zu der «Rock als Revolte», «Freaks am Friitig», Jungsozialisten und Unorganisierte gehören. 30. Mai 1980 Die Kampagne gegen die Gewährung eines 61-Mio.-Kredites für die Renovation des Opernhauses erreicht ihren Höhepunkt. Demo, Strassenschlachten. 31. Mai 1980 Zweite Krawall-Nacht. Strassenschlachten, Plünderungen, Verhaftungen. 1. Juni 1980 Die Jugendlichen fordern die leerstehende Fabrik an der Limmatstrasse als autonomes Jugendzentrum. 4. Juni 1980 Der Video-Film der Ethnologen wird an einer von dreitausend Personen besuchten W im Volkshaus gezeigt. Anschliessend öffentliche Auseinandersetzung mit Stadtpräsident Sigmund Widmer (Sigi) und Stadträtin Emilie Lieberherr (Emilie). 6. Juni 1980 Erziehungsdirektor Gilgen verbietet die Aufführung des Videofilms der Ethnologen und verlangt die Konfiszierung. 8. Juni 1980 Der Opernhaus-Kredit wird von einer knappen Mehrheit der Stimmbürger angenommen. 9. Juni 1980 Grosse Manifestation in der Universität gegen das Verbot des Ethnologen-Films. 18. Juni 1980 Mehrere hundert Jugendliche versammeln sich vor dem Rathaus, um den Gemeinderat zu einer Diskussion aufzufordern. Sit-in vor dem Rathaus. Polizeieinsatz. 21. Juni 1980 Gegen 10 000 Personen (jeden Alters und verschiedenster Berufsgattungen) demonstrieren gegen die Politik des Stadtrates und für ein autonomes Jugendzentrum. 29. Juni 1980 Einweihung des Jugendzentrums an der Limmatstrasse. Als Trägerschaft hat sich die SP zur Verfügung gestellt. 2. Juli 1980 Das Buch «Die Zürcher Unruhe» erscheint (orte-Verlag). Die Telebühne-Sendung zum Thema Widerstand gegen die Staatsgewalt platzt, weil Jugendliche die Diskussion zu einem Happening umfunktionieren. 15. Juli 1980 Ch-Magazin-Sendung mit «Herr und Frau Müller» erregt die Gemüter. Ende Juli/Anfang August Massive Vorwürfe des Stadtrates an bestimmte Medien: die Information sei tendenziös, die Berichterstattung ergreife zu einseitig Partei für die Jugendlichen. 9. August 1980 Demonstration der Medienschaffenden gegen die Angriffe der Regierung und für Presse- und Meinungsfreiheit. 21. August 1980 Die Hochschulkommission beschliesst den Lehrauftrag am Ethnologischen Seminar, Heinz Nigg, zu entziehen. Lehrbeauftragter der «Projektgruppe Community Medien». 4. September 1980 Razzia im Jugendhaus. Auf Beschluss des Stadtrates wird das Jugendhaus geschlossen. Anschliessend gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei. 4. September 1980 An der Kantonsschule Wiedikon/Zürich werden drei langjährige Hilfslehrer im Zusammenhang mit den Jugendunruhen entlassen. 5/6. September 1980 Demonstrationen, Polizeieinsätze und Sachbeschädigungen gehen weiter. Neue Taktik der Jugendlichen: in kleinen Gruppen agieren sie dezentralisiert in der ganzen Stadt – «Stadtindianer». 8. September 1980 Zürcher Kantonsrat bewilligt einen Kredit von vorerst 170000 Fr. für neue Wasserwerferfahrzeuge der Polizei. (Quelle: «Die Zürcher Unruhe», orte-Verlag, Zürich, 2. Aufl., Fr. 14.-)
CINEMA #26/3
RUHESTÖRUNG