PAUL BADER

EIN KINO, DAS LÄUFT

ESSAY

Auch so eine Kino-Gewohnheit: Wenn mir jemand sagt, er gehe ins Kino, kann ich genau voraussagen, was er tun wird. Er wird sich auf den Weg machen, wird ein bestimmtes, stabiles Gebäude ansteuern, wird dort einen Saal betreten und warten, bis der Vorhang - Relikt aus dem Theater - die Leinwand freigeben wird fürs bewegte Geschehen. Das ist zur Selbstverständlichkeit geworden, man hat längst vergessen, dass das Kino ursprünglich ein höchst mobiles Schaubudenvergnügen war und erst etwa in der Zeit von 1900 bis 1912 sesshaft geworden ist.

Das mobile Kino, das den Leuten sozusagen nachläuft, das von Ort zu Ort zieht: Darüber kann man nachlesen, es gibt Dokumente dazu, Bilder und Rekonstruktionen, und in Museen kann man Relikte der Kino-Kinderzeit bewundern. Dass einem aber auf der Strasse ein solches Kino entgegenspaziert, auf Rädern und gestossen vom dazugehörigen Operateur, das passiert einem nicht jeden Tag. Dem Filmemacher Sebastian C. Schroeder ist es zugestossen: natürlich nicht hier und heute, sondern 1972 in Kabul, der Hauptstadt Afghanistans.

Ich kann mir vorstellen, dass es Schroeder heiss oder kalt über den Rücken gelaufen ist, als er da plötzlich die Wurzeln seines eigenen Tuns lebendig vor Augen hatte, und es kann ihn keine Sekunde der Überlegung gekostet haben, als er beschloss, seine moderne Apparatur auf dieses Stück wandelnder Kino-Archäologie zu richten. Was dabei herausgekommen ist, ist ein Farbfilm von vier Minuten Dauer mit dem schlichten Titel «Cinema», der die ganze Faszination des Kinos, des Zauberspiels mit Licht und Schatten, an den Zuschauer weiterreicht.

Also: Der Mann kommt mit seinem Kino daher und bleibt irgendwo auf einem Platz stehen. Die Architektur des «Etablissements» ist von einleuchtender Einfachheit: kubischer Kasten, rot und blau bemalt, wie gesagt auf Rädern. Die Vorstellung findet im Innern des Kastens statt, die Zuschauer stehen ausserhalb: Durch Sehschlitze schaut man auf die «Leinwand». Als der Mann mit seinem Kino anhält, drängen sich gleich Neugierige ums Lichttheater herum, vor allem Kinder, Jungen. Kinder sind die dankbarsten Zuschauer bei Zauberkunststücken, manche Pioniere des Films waren Zauberer, hier wird mit Licht und Schatten gezaubert, und viele von denen, welche die ersten bewegten Bilder sahen, hielten sie für Hexerei: mögliche Assoziationen zu «Cinema».

Schroeder dokumentiert: den technischen Vorgang, die Bewegung, die er auslöst: im Kasten und darum herum. Während auf der Leinwand noch nichts läuft, drängen sich Hände an die Sehschlitze, selbstverständlich wird auch das «Eintritte-Geld kassiert (umgerechnet 5 Rappen). Der Operateur legt den Film ein - Schroeders Kamera beobachtet das ganz genau -: die Schleifen im Zelluloid, die Transporträder, die in die Perforation greifen, die Fixierung vor dem Projektionsfenster. Dann die beiden entscheidenden Vorgänge. Der Operateur holt sich über einen Spiegel die Lichtquelle heran: die Sonne (erster Vorgang). Er dreht an der Kurbel, die den Film transportiert (zweiter Vorgang).

Nun bewegt sich die Welt im Schattenspiel. Man sieht ins Innere des Kinos, wo sich auf der Projektionswand zwei Männer duellieren: eines der ältesten Motive der Filmgeschichte. Der Film im Kasten dauert insgesamt dreieinhalb Minuten. Die Filmspulen drehen sich, man hört ihr Geräusch.

Man befindet sich in Kabul, so ziemlich in der Jetzt-Zeit: Die Kleider der Leute zeugen davon, ihre Sprache, deren Klang man hört, und die einheimische Musik, die Schroeder seinem Film als einzigen Kommentar unterlegt. Schroeder zu seinem Film: «Afghanistan ... hat 12 Millionen Einwohner und 12 Kinos. Eines davon sehen Sie in diesem Film».

Die Vorstellung ist zu Ende. So, wie der Mann mit seinem Kino am Anfang auf den Zuschauer zugekommen ist, geht er jetzt wieder von ihm weg. Die Begegnung war gegenseitig: Schroeder hat sich von diesem Ur-Kino packen lassen, und die Leute, die er aufs Zelluloid aufgenommen hat, spüren wohl ebenfalls, wie sich da zwei Kinos begegnen. Während das Kasten-Kino von seinem Operateur zum nächsten Schau-Platz weggeschoben wird, tritt ein Afghani ins Bild und scheucht mit seinen Gesten die störenden Herumsteher aus dem Blickfeld: Das wirkt wie ein Gruss über mehr als ein halbes Jahrhundert Kinogeschichte hinweg.

Soll man sich noch mehr zu diesem Film denken? Schroeder «nötigt» einen dazu. Die erste Einstellung zeigt ein Auge in Nahaufnahme. Die Erfindung des Kinos beruht auf zahlreichen, höchst genialen technischen Erfindungen. Die zwei wichtigsten Voraussetzungen allerdings konnten nicht erfunden werden: das Auge und das Licht. Diese beiden sind denn auch immer dabei: das Auge und die Sonne - oder jedenfalls eine Imitation von ihr.

Cinema. P, Idee, R und K: Sebastian C. Schroeder; 16 mm, Farbe, 4 Minuten. T: Jean-Charles Blanc.

Paul Bader
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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