CLAUDE LICHTENSTEIN

MENDELSOHNS «UNIVERSUM» AM KURFÜRSTENDAMM

ESSAY

«Haltgemacht. . . Du sollst hinein ins Leben, zum Film, an die Kasse», so beschreibt Erich Mendelsohn die Signale, die von der Eingangszone des «Universum»-Kinos ausgehen sollen.1 Ohne Illusion schreibt dagegen Siegfried Kracauer in seinem 1929 erschienenen Buch «Die Angestellten»: «Nichts kennzeichnet so dieses Leben, das nur in eingeschränktem Sinn Leben heissen darf, als die Art und Weise, in der ihm das Höhere erscheint. Es ist ihm nicht Gehalt, sondern Glanz. Es ergibt sich ihm nicht durch Sammlung, sondern durch Zerstreuung.»2 Und er beschreibt die «Asyle für Obdachlose» -den «Titania-Palast», das «Atrium», das «Haus Vaterland». Hier gilt: begibt man sich hinter deren Fassadenpracht, ist man woanders. Zwar macht ein Kino allein noch keine Feierabend-Welt. Einen Film ansehen zu wollen ist etwas anderes, als sich vom Verführungszauber eines ganzen Vergnügungspalastes durch die Innenarchitekturen einer in Namengebung und durch Wandgemälde beschworenen Gegenwelt treiben zu lassen. Trotzdem ist der absichtsvolle Pomp grosser Lichtspielhäuser der Zwanzigerjahre aus denselben stilistischen Quellen gespeist. Die Zeit des «Kintopp», dessen Kino in ausgeräumten Ladenlokalen mit einigen Sitzbänken stattgefunden hatte, lag bereits ein Vierteljahrhundert zurück. «Noch ist die Ästhetik des Kino trotz der zahlreichen darüber geschriebenen Bücher nicht umrissen worden» ist die Meinung des Jahres 19263. Wenig später wäre dieser Satz vielleicht nicht geschrieben worden; Mendelsohn hatte mit dem «Universum» einen entscheidenden Beitrag geleistet.

Der städtebauliche Zusammenhang, in dem dieses Grosskino der Ufa4 zu sehen ist, wird auf der Modellaufnahme deutlich. Vorn rechts, am Kurfürstendamm, das «Universum», links das «Kabarett der Komikern; dazwischen führt eine Ladenstrasse in die Tiefe des grossen Grundstücks, dessen vordere Hälfte im Bild sichtbar ist, bis zum «Apartment-Hotel» (Kleinwohnungen mit zentraler Küche im Untergeschoss) und unter diesem hinweg. Im rückwärtigen Teil waren weitere Wohnbauten geplant, die zum Teil von Mendelsohn gebaut wurden. Die «Woga» (Wohnbaugenossenschafts-AG) als Bauherrin forderte aus Rentabilitätsgründen fünfgeschossige Wohnbauten; deshalb war für Kino und Kabarett, also die «wichtigen» Bauten am Kurfürstendamm, nur mehr eine geringe Bauhöhe erlaubt. Die Lösung, welche durch Mendelsohns Atelier erarbeitet wurde, hat sogleich viel Bewunderung erfahren, obwohl sie mit ihrer Durchmischung der Funktionen sich in Opposition stellte zur schon stark befürworteten Theorie der Nutzungsentflechtung. Die Herausforderung, wie ein wichtiges Gebäude am Kurfürstendamm aussehen muss, wenn die umstehende Bebauung viel höher ist, hat hier zu einem Resultat geführt, das die Zäsur dieser zu Bedeutung gekommenen Flanierachse in architektonische Qualität und Prestige umzusetzen in der Lage war: die «Ufa» hatte sich zur bevorstehenden Einführung des Tonfilms einen entsprechenden Rahmen geben lassen.

Mendelsohn charakterisiert das Ergebnis seiner Arbeit wie folgt:

Lichtspieltheater der Ufa für 1800 Personen. Äusserer Aufbau aus der Grundrissdisposition entwickelt. Vorgebauter zweigeschossiger Ladenkranz. Eingangs- und Kassenhalle, Zuschauerhaus mit leicht geneigtem, nach hinten sich verjüngenden Schildkrötendach, Aufzugsschacht der Bildleinwand, Entlüftungsschlot mit schmalem, zum Kurfürstendamm vorgezogenen Reklameturm. Bewusster Verzicht auf architektonische Verkleidung. Neuer, eindeutiger Kino-Typ.5

Der Kinosaal selber war neuartig und ungewohnt in seiner Absicht, die üblichen Anleihen beim Theater zu vermeiden. Sind dort Parkettbestuhlung und Ränge in möglichst grosse Nähe zum dreidimensionalen Geschehen gebracht, verlangt die Projektionsfläche des Kinos eine andere Anordnung. Das «Universum» weist - und das war ein kinotechnisches Novum - einen ausgeprägt langgestreckten Saal auf. Nicht die grösste Nähe zur Leinwand ist im Kino erstrebens-wünschenswert, sondern eher ein entfernterer Platz, um die parallaktischen Verzerrungen zu vermindern. Aus diesem Grund ist dieser Saal auch, gemessen an seiner Länge, weniger stark in die Höhe entwickelt als das ältere Grosskino; die Sehstrahlen des Zuschauers auf dem Rang (Balkon) sollen möglichst wenig von der Projektionsachse abweichen. «Konzentration des Zuschauers auf die Bildfläche nach Art einer photographischen Kamera» nennt Mendelsohn den Sachverhalt6. Die Hufeisenform des Saals wurde aus den Erfordernissen der Akustik abgeleitet, die nun allerdings nicht auf die Sprechstimme des Theaters, sondern auf den Lautsprecherton abgestimmt ist. Mendelsohns Ideenskizze zu diesem Raum zeigt allerdings, dass seine angestrebte, den Besucher umfangende und bergende Muschelform in die Nähe der festlichen Besonderheit des Theaters gerät. Doch künstlerische Absicht und technische Aktualität verbanden sich hier im Jahr 1928 wirklich zum Neuartigen, und das «Universum» hätte vermutlich auch als solcher Innenraumeinbau in einem bestehenden Gebäudeblock Berühmtheit erlangt.

Die vorgeschriebene Beschränkung der Baumasse am Kurfürstendamm gebot jedoch geradezu, die Funktion «Kino» durch die äusserliche baukörperliche Erscheinung mitzuteilen, und Mendelsohn hat diese Botschaft hier vermutlich als erster zu formulieren versucht. Wenn Mendelsohn aber das Stichwort «bewusster Verzicht auf architektonische Verkleidung» gibt, belehrt uns der Grundriss doch eines andern. Das «Wesentliche» des Kinos (der Saal) ist nämlich von einer Menge anderer Räume umgeben, insbesondere von einem Ladenkranz, der mit dem Kino funktionell nichts zu tun hat, aber doch mit der weiten Rundung gegen den Kurfürstendamm das Typische dieses Bauwerks ausmacht. Dass diese Läden niedriger sind als der dahinterliegende Kino-Teil, bestätigt zwar Mendelsohns Behauptung, der äussere Aufbau sei aus dem Grundriss entwickelt. Doch die Plausibilität des Grundrisses seinerseits wurde vom bedeutenden dänischen Kritiker Steen Eiler Rasmussen bezweifelt:

Sieht man dieses Gebäude als Einzelwerk, als einen von Mendelsohn geschaffenen, grossen, plastischen Körper, so wirkt es stark und eindrucksvoll. Betrachtet man es aber als einen Teil des Kurfürstendammes, so wirkt es weniger gut. (...) Die Lösung passt nicht zu der fröhlichen Promenade, steht vielmehr wie ein Monument im Wege. (...) Diese grossen Formen scheinen mehr eine Laune des Künstlers als eine Forderung der Aufgabe zu sein. (...) Erstaunlich sind die zwei aneinander-geketteten Hufeisenräume, Foyer und Saal. . .7

Mit dieser Kritik, die nicht die allgemeine Auffassung wiedergibt8, trifft Rasmussen tatsächlich einen wichtigen Punkt. Das Äussere des «Universum» ist nicht aus der «Funktion» heraus beweisbar, wenn diese das blosse «Funktionieren» meint. Und die Bauaufgabe «Kino» als Komplex von Eingang, Erschliessung und Saal ist eine verhältnismässig «offene» Aufgabe. Die Frage ist erlaubt: wie kommt Mendelsohn hier zu der weiten Rundung - und suggeriert diese nicht die Vermutung, die Leinwand müsse (als das «Eigentliche» des Kinos) hinter ihr liegen, während sie doch am entgegengesetzten Ende des Baus sich befindet?

Eine erste Antwort: das Thema der Rundung, vor allem des Halbrunds, ist ein zentrales Thema für Mendelsohn gewesen, das er in allen denkbaren Massstäben (vom Radius einiger Zentimeter bis -zig Meter) durchgespielt hat. Sie war ein ideales Mittel, um die Bauten in sich zu zentrieren, zu stabilisieren. In sich ruhende, zum Kräfteausgleich gelangte Baukörper - das war die Vision schon des jungen Mendelsohn gewesen, die er als Soldat an der russischen Front in Tausenden von Skizzen, zwischen 1914 und 1917, sich geschaffen hatte. Ich vermute aber, vom «Universum» führe ein noch direkterer Zusammenhang ins Jahr 1914 zurück. Denn eine Skizze aus diesem Jahr, die ein «Atelier für Photo und Film» darstellt, zeigt eine überraschende Ähnlichkeit mit dem anderthalb Jahrzehnte später gebauten Kino. Eine sicherlich dazugehörige Grundrissskizze, auch 1914 entstanden, mit der Bezeichnung «Film-Gesellschaft», konkretisiert diese Ähnlichkeit9. Der Grundriss zeigt das eigentliche Studio, als «Oberlichtsaal» bezeichnet (dessen angedeutete Deckenträger übrigens verblüffend den konvergierenden Leuchtrippen des «Universum» gleichen), welcher umgeben ist von einem Kranz von Verwaltungs- und Requisitenräumen, in der Mittelachse durch das - auch in der Ansicht hervorgehobene -Eingangsportal erschlossen. Im Sinn Mendelsohnscher Absichten zeigt dieser frühe Entwurf, zu welchem Gebilde die verschiedenen Funktionen eines Studios hindrängen, wenn der Architekt diese Formungskräfte zu spüren vermag. Zurück zum «Universum»: könnte hier die «Offenheit» der Bauaufgabe den Architekten dazu gebracht haben, die Form eines Lichtspielhauses der von ihm früher gefundenen Form eines Studios anzugleichen, d.h. bei der Film-Reproduktion an dessen Produktion zu erinnern? Allerdings, Mendelsohn dadurch eine der «Ufa» untergejubelte Absicht einer «Entzauberung» des Kinos zu unterstellen, ist nur schon deshalb falsch, weil sie unnötig gewesen wäre. Denn die technische und mediale Perfektion des Tonfilms übte bereits eine so stark «Realitätserzeugende» Wirkung aus, dass die forcierte Einstimmung des Besuchers durch exotischen Bildzauber hinfällig geworden war. Die Filmindustrie von 1929 gab sich gelassen als Illusionsfabrik zu erkennen. Ein Vergleich zwischen der etwas lächerlichen Hochflorstimmung des Foyers vom «Haus Vaterland» (das Kracauer namentlich beschreibt) und der kühlen Grosszügigkeit des «Universum»-Foyers zeigt, dass auch die «Neue Sachlichkeit» binnen kurzem salonfähig geworden war. Immerhin, im «Universum»-Foyer, zwischen den gelblichen Bodenfliesen und dem leuchtendblauen Deckenring gibt es «viel blankes Metall»10.

Das «Universum» markiert eine Wende in Mendelsohns Schaffen. War er bis dahin ein Meister von dramatischbewegter Architektur mit oft futuristischem Gesicht (Einstein-Turm, Mosse-Haus), wird er nachher sachlich, rational (Schocken-Warenhaus Chemnitz, Columbushaus). Der Umschlag erfolgte während der Arbeit am «Universum»-Kino. Die Fassadenzeichnung weist noch ausgeprägt horizontal gelagerte Fensterschlitze aus, die das Gebäude umspannen. Der kalkulierte Schattenwurf ihrer Sprossen wäre auf die Innenausstattung des Saals abgestimmt, die «Stromlinienform» dieses Umrisses ein pathetischer Aufruf an die Passanten gewesen. In der Bauausführung erhielt der Ladenkranz aber eine Endlosfolge von hochrechteckigen einfachen Fenstern, einerseits eben, und mit Sicherheit, ein Ausdruck der «Neuen Sachlichkeit». Doch nur das? Über den Innenraum des Kinos, dessen Formensprache sich in der Befensterung der Fassade ursprünglich hätte abzeichnen sollen, schreibt Mendelsohn in einem Brief: «Ich komme - 11 Uhr abends -von der ersten Beleuchtungsprobe im Kino zurück. Die Lichtdecke ist herrlich, und ich glaube, wir bekommen das rote Mahagoni mit zarten blauen und gelben Tönen der Rangrückwand sehr streng und duftig zusammen . . .»11 Wenn die Fassade nun also nicht schnittig und herrlich (im Spiel von Licht und Schatten) realisiert worden ist, sind sicher finanzielle Gründe dafür vorhanden. Und doch bleibt hier die Frage, ob nicht ein Architekt von so hochentwickelter Formbewusstheit sich den Scherz erlaubte, mit der «Neuen Sachlichkeit) zu spielen, insofern nämlich, als dieses lange Fensterband über ununterbrochenem Brüstungsband als ein Filmstreifen zu lesen ist, der aus der Tiefe der Ladenstrasse zum Kurfürstendamm hin auftaucht, um anderseits wieder zu verschwinden.

Doch selbst wenn dies nicht gemeint sein sollte, ist dieser Bau mehr als ein historisch bedeutsames Stück neuzeitlicher Architektur, nämlich ein treffendes Symbol für den Doppelcharakter des Films, für seine Fähigkeit, selbst ein geschärftes Bewusstsein um die Gestelltheit der vorgeführten Welt während der Vorführung abzulösen durch den Glauben an die illusionierte Lebendigkeit.12

Erich Mendelsohn, zitiert nach H. Schnedler: Kaufhäuser, in: Berlin und seine Bauten VIII A, S. 119; dortiger Hinweis falsch.

Siegfried Kracauer: «Die Angestellten», Frankfurt 1971, S.91.

Paul Zucker: «Theater und Lichtspielhäusern, Berlin 1926, S.129.

«Ufa»: «Universum-Film AG», gegr. 1917, Filmverleih und -produktionsfirma; in der Umgebung Berlins damals grösstes Filmaufnahmestudio der Welt.

E. Mendelsohn: «Das Gesamtschaffen des Architekten», Berlin 1930, S.229.

Op. cit. S.232.

S. E. Rasmussen, in: «Neuzeitliche Baukunst in Berlin» (Wasmuths Monatshefte für Baukunst und Städtebau, Bd. 13,1928, S. 537).

H. Johannes: «Neues Bauen in Berlin», Berlin 1931, S. 26, schreibt: «Überraschend, wie ein bewegter Jahrmarkt, eine lockere Improvisation, den noch gestrafft von jungem, grossstädtischen Rhythmus, schiebt sich zwischen die steifen Prachtfassaden des Kurfürstendammes diese eigenwillige Gebäudeplastik, die sich vom Kabarett über Lichtspielhaus und Ladenstrasse zum Appartement-Wohnblock steigert...».

Abgebildet in: B. Zevi: E. Mendelsohn; Opera completa, Milano 1970, S.14, 15.

Gesamtschaffen, Op. cit. S. 231.

E. Mendelsohn: «Briefe eines Architekten», München 1961, Brief vom 31. Juli 1928 an seine Frau.

In dieser Beschreibung darf leider nicht verschwiegen werden, dass das «Universum» zerstört worden ist. Gegenwärtig wird an jener Stelle das Theater der «Schaubühne» gebaut. Das Kino ist dabei bis auf einige Bauteile abgebrochen worden. Es soll in seiner äusseren Form wiederhergestellt werden. Dass dies die tatsächliche Zerstörung nicht rückgängig machen kann, sollte durch meinen Beitrag gezeigt worden sein.

Claude Lichtenstein
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]