SARAH MÖLLER

IL MIO CORPO (MICHELE PANNETTA)

«Sie wird unser Glücksbringer», verspricht Marco seinem Sohn Oscar. Behutsam zieht er an einem Seil, an dem eine Statue der heiligen Mutter Gottes kopfüber baumelt. Zusammen mit seinem Bruder sammelt Oscar auf den Abfallbergen an den Strassenrändern Altmetall, um es auf den sizilianischen Schrottplätzen zu verkaufen. Er ist fast noch ein Kind und der Vater nörgelt pausenlos an ihm herum. Glücklich scheint Oscar in jenen Momenten zu sein, in denen er freihändig mit dem Fahrrad die Strassen herunterfährt, die sich durch die spröde und unter der Sommerhitze ächzenden Landschaft schlängeln. In dieser Einöde lebt auch Stanley, ein junger Mann, der aus Nigeria geflüchtet ist und sich mit Gelegenheitsarbeiten knapp über Wasser hält.
 
In Il mio corpo erzählt Michele Pannetta die Geschichte von zwei auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen jungen Männern, welche die Hoffnung auf ein bisschen Glück verbindet – Glück, um die vom wirtschaftlichen Niedergang und der Massenarbeitslosigkeit geprägte Insel eines Tages verlassen zu können; Glück aber auch, um der emotionalen Kälte, die sie in ihrem Umfeld erleben, zu entfliehen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. «Du musst immer positiv denken», rät der Priester, der sich Stanleys annimmt und ihm schlechtbezahlte Jobs verschafft – ein Ratschlag, der in Anbetracht der bedrückenden Trost- und Perspektivlosigkeit, die Il mio corpo vermittelt, fast schon zynisch anmutet.
 
Der Dokumentarfilm, der das letzte Kapitel von Pannettas Sizilien-Trilogie bildet, lässt uns auf subtile, aber nicht minder eindringliche Weise am Leben von Oscar und Stanley teilhaben. Dies ist mitunter der unaufgeregten Kamera zu verdanken, welche die körperliche Präsenz der beiden Protagonisten einfängt, während sie wortkarg ihre monotonen, alltäglichen Arbeiten verrichten. In langen Einstellungen blicken wir Oscar und Stanley über die Schulter, wodurch der Film eine geradezu intime Nähe zu seinen Figuren schafft. Dieser Stil des Cinéma verité wird jedoch zunehmend gebrochen: Denn die Geschichten der beiden Schicksale kommen sich immer näher, bis Stanley und Oscar scheinbar zufällig in einem verlassenen Bergwerk aufeinandertreffen. Der fiktionalisierende Kniff mag zunächst etwas überraschend, wenn nicht gar irritierend wirken. Er macht uns allerdings darauf aufmerksam, dass hinter jeder Geschichte und hinter jeder Kamera auch ein Filmteam steht, das miterzählt, mitgestaltet und mitwirkt. Und so ist es gerade dieses Spiel mit den Möglichkeiten und Grenzen des dokumentarischen Genres, das Il mio corpo umso mehr als eigenwilligen und innovativen Film auszeichnet.
 
Zum Schluss fährt ein mit Schrott beladener Lieferwagen durch die dunkle Nacht davon – wohin, bleibt genauso ungewiss wie die Zukunft von Stanley und Oscar. Ob ihre flüchtige Begegnung ein bisschen Glück verheisst?
Sarah Möller
*1990, hat Germanistik und Filmwisseschaft in Zürich studiert und war bis 2018 Redaktionsmitglied der Denkbilder, dem Germanistikmagazin der Universität Zürich. Als Teil des vom Schweizer Nationalfonds geförderten Sinergia-Projekts The Power of Wonder arbeitet sie derzeit an ihrer Dissertation.
(Stand: 2021)
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