KATJA ZELLWEGER

À L’ÉCOLE DES PHILOSOPHES (FERNAND MELGAR)

SELECTION CINEMA

Philosophie ist der Versuch, sich mit Fragen und Beobachtung Aspekte der eigenen Existenz und Lebenswelt zu erklären. Doch den Fragen zur Integration, zum urteilsfreien Umgang mit geistiger und physischer Behinderung geht unsere individualisierte, auf Optimierung und Leistung getrimmte Gesellschaft aus dem Weg. Wenn überhaupt, dann wird das Existenzrecht von beeinträchtigten Menschen generell infrage gestellt – insbesondere in Zeiten pränataler Diagnostik. Die Frage, warum man so wenig behinderte Menschen in der Öffentlichkeit sieht und was das für «Betroffene» bedeutet, wird selten gestellt. Doch Regisseur Fernand Melgar stellt sie kommentarlos und nüchtern in seinem Dokumentarfilm À l’école des Philosophes. Darin begleitet er in seinem bevorzugten Stil des «cinéma direct» geistig und physisch beeinträchtigte Kinder, deren Lehrer und Eltern durch ihr erstes Jahr an einer Sonderschule. Diese heisst passenderweise Schule der Philosophen, was von ihrer Lage am Philosophenweg herrührt. Melgars beobachtender Blick hat ihm in früheren Projekten wie La forteresse und Vol spécial nicht nur Lob, sondern auch schon die Kritik eingebracht, sich zu wenig zu positionieren.

Doch der Schweizer Regisseur mit spanischem Hintergrund tunkt seine Filme weder in Schwarz-Weiss-Schemata noch kaut er einem Schlussfolgerungen vor oder stilisiert und romantisiert. Wertvolle Fragen und Erkenntnisse kristallisieren sich von selbst heraus. Etwa diese, dass es sich bei den jungen Schülern der Philosophenschule um Kinder handelt, die heiss geliebt werden und die Fortschritte machen können, wenn man ihren Bedürfnissen Platz gibt. Oder diejenige, dass die private Betreuung lange nicht nur von Müttern, sondern auch von Vätern intensiv vorgenommen wird. Aber auch die, dass die Eltern isoliert sind und Sätze sagen wie «Ich fühle mich nicht schuldig». Dass diese Aussage wie eine stolze Verteidigung klingt, ist besorgniserregend. Schliesslich stellt sich beim Zuschauen ein spezieller Effekt ein: Ist man zu Beginn schockiert ob der Brutalität, mit der die geistig behinderte Albiana ihre Mutter und kleine Schwester schlägt, oder erträgt man die Kreischgeräusche der zwei autistischen Jungen Léon und Louis kaum, so versteht man plötzlich deren Bedürfnisse. Und man freut sich mit den Knirpsen, wenn sie in ihr erstes Lager fahren, selbstständiger werden, sich auf die Schule freuen oder erste Worte sprechen. Das ist vor allem dem unglaublich geduldigen, liebevollen und verständnisvollen Umgang der Erwachsenen mit ihren Schützlingen zu verdanken. Aber auch einem Filmemacher, der pietätvoll auf effekthaschende Anfälle verzichtet, seine Protagonisten aber in zweifelnden und verzweifelten Momenten aufzeichnet – und sie Sachen aussprechen lässt wie «Man muss auch um den Verlust des erträumten Kindes trauern».

Katja Zellweger
*1986, Studium der Germanistik und Kunstgeschichte in Bern, arbeitet als Redaktorin der Berner Kulturagenda, 2014–2017 als Produktionsleitung und Teil der Programmationsgruppe im Schlachthaus Theater Bern tätig, davor wissenschaftliche Mitarbeit im Robert Walser-Zentrum Bern, Co-Gründung des «Dislike. Magazin für Unmutsbekundung», einem Format, das die Mannigfaltigkeit von Kritik zelebriert. Filmkritiken für filmexplorer.ch, Filmbulletin und Cineman im Rahmen der Critics Academy Locarno, in Bern vor allem im Kino Rex anzutreffen.
(Stand: 2021)

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