FRIEDERIKE KRETZEN

NOCH EIN BISSCHEN BLEIBEN

ESSAY

Wir treten ein, der schmale Flur ins Dunkle, durch den Spiegel. Bald steigen sie aus der Dunkelheit auf, sie sitzen in einem Auto, ihre Worte fliegen im Rhythmus der Strassenlampen über sie hinweg. Sie fahren gen Süden und haben den Norden verloren. Sie suchen die Liebe. Die dreht die Zeit um, wie der Tod. Sie sind in einem Film. Ein Film ist ein Kampfplatz. Liebe, Hass, Gewalt, Tod. Ja. Gefühle. Sie fahren in der Nacht. Sie schauen uns an. Während sie fahren, kommen wir ihnen entgegen. Sie sprechen. Wir sehen sie sprechen, Wörter steigen aus ihren Kehlen auf wie aus der Unterwelt, kommen aus ihrem Mund und wandern über ihre Köpfe zurück in die Entfernung, die sie hinter sich lassen.

Unsere Augen sinken zu Boden und folgen von da aus den Bildern, den Schatten, die sich in rasendem Tempo auf der Leinwand ablösen. Die Liebenden sind ans Meer gekommen, sie wollen am Meer leben und glücklich werden. Sie sind es und bleiben es nicht. Sie sind ein Film und nicht einfach Liebende. Sie sind die Liebenden der Filme. Wie in einer grossen Ebene.

Dann muss die Geschichte weitergehen. Der Mann schreibt Tagebuch, er ist romantisch, träumt von dem, was zwischen den Wörtern geschieht. Die Frau langweilt sich. Sie will leben. Er schreibt. Sie tanzt um ihn herum, wenn er liest. Bei ihnen am Meer wohnt ein junger Fuchs. Der tappt ihnen durch die Teller, knabbert die Bücher an, die auf dem Tisch in der Sonne liegen. Es nützt alles nichts. Sonst wird der Film langweilig oder findet kein Ende. Sie rufen sich in einem letzten Moment des gegenseitigen Erkennens zu, nun sei Schluss mit der Liebe, jetzt müsse mal wieder was passieren. Dann Action. Verfolgungsjagden, Schiessereien, Flucht. Aus den Bäumen fallen Gitternetze auf das Auto der Waffenhändler, die sich wie Tiger darin verfangen, das Auto explodiert, das Geld verbrennt. Sie müssen sofort fliehen. Am Ende sind sie tot. Beide.

Wir trauen unseren Augen nicht. Verging so die Zeit? Was hatten sie gesagt, die beiden im Film, wie lauteten noch ihre Worte? Bewaffnet die Ahnen und Urahnen, bewaffnet die Toten. Und lasst sie beweisen, dass heute heute ist?

Da waren wir, als wir wieder auf der Strasse standen, die letzten Menschen geworden. Am Himmel über uns stand: Fortsetzung folgt.

Im Film, heisst es, würden wir dem Tod bei der Arbeit zuschauen. Wie aber arbeitet der Tod? Der den Sinn unterbricht, die Wege wegreisst, die Menschen von sich und den anderen trennt. Der Tod, von dem es doch, solange wir leben, nichts zu wissen gibt. Solange wir dem Leben mit seinen unendlich vielen Protagonisten, Wesen, Gestalten angehören, die gleichzeitig an viele unterschiedliche und weit zurückliegende Epochen rühren. Proust nennt sie - zu denen auch wir gehören - «wesende Riesen der Zeit». Die wir manchmal, gegen Abend, wenn der Tag sich rundet und mit ihm die Erde, auf Strassen, Plätzen, inmitten von Menschengruppen auftauchen sehen können. Hochragende Konturen, helle Schatten, wie sie schwebend dem ausgehenden Licht entgegenziehen, begleitet von einem Heben und Senken, das die Zwischenräume beatmet. Nous sommes embarqué, flüstern sie uns zu wie der Wind. Und sind doch nichts als blühende Fantasien, in denen sich das Licht erfüllt, das nie so dicht und unwirklich scheint wie in der Stunde zwischen Wolf und Mond. Jener Stunde des Tages, in der nichts bleibt, wie es ist, in der sich alles verwandelt und nichts verschwindet. Das ist die Stunde des Kinos. In der wir, wenn wir hellhörig und durchlässig genug sind, in Bildern durchs dunkle Licht gleiten, wo die Kräfte wachen, die uns sehen machen, was es nicht gibt, die uns hören lassen, was nicht spricht.

Es war mitten im Winter, Nacht, noch immer leichter Schneefall, Véronique am Fenster, schaut auf den verwilderten Garten. Kahl die Äste und Zweige des alten Pflaumenbaums, der mit Natascha von Haus zu Haus zieht. Dahinter hohe Tannen, die Strassenkreuzung im orangefarbenen Licht, wie das der belgischen Autobahnen, die von Geistern befahren werden. Die blaue Leuchtreklame der Raiffeisenbank dringt als Schriftzeichen eines verlorenen Volkes aus der Nacht. Véronique ist im Haus eines Toten zu Besuch. Viele Jahre lang haben sich hier die alten Schauspielerinnen, Freundinnen seit der Zeit des Studiums, getroffen, jedes Jahr ein paar Tage, hatten wie verrückt gesprochen und die Zeit einzuholen versucht. Bis Wilhelm, der Mann von Natascha, im Sommer starb.

Am frühen Abend hatten sie Esther zum Zug gebracht. Hatten sich im Café der Schachspieler am Marktplatz, nicht weit vom Bahnhof, an die grossen, erleuchteten Fenster gesetzt, etwas gegessen und bald schon fielen die ersten zarten Flocken von Schnee, hauchdünne Plättchen, segelnde Botschaften vom Vergehen, vom Fallen und Träumen.

Sie hatten das Gefühl von einer weiten Reise, in der etwas zu ihnen zurückgekommen war, das sie lange nicht hatten wahrhaben können. Sie waren in etwas eingetreten, das leer geblieben war, vakant, überlagert vom Wunsch, dass sie verzauberte Schwestern seien und alles anders gewesen wäre. Ihnen wurde immer deutlicher, sie konnten nicht anders, als zu sehen, dass sie sich getäuscht hatten. Nun hielten sie still, folgten dem Schnee und suchten nach Fassung. Die Schachspieler am Nebentisch spielten eine weitere Runde, tranken schwarzen Tee, assen Kuchen. Nach jedem Spiel gingen sie zum Rauchen auf die Strasse, liessen ihre Zigaretten zwischen den Schneeflocken aufglühen. Eine Familie mit zwei Hunden und einer Tante sagte immer wieder, das lasse sie sich nicht gefallen. Dabei gingen ihnen die Hunde durch, nach denen sie aufgeregt riefen. Die Kellnerin sagte, ihre Kollegin sei krank, sie habe den ganzen Tag durchgearbeitet, und Natascha und Véronique sassen da, wie sie es seit bald vierzig Jahren immer wieder taten. Am Nachmittag war es zum Streit gekommen, Esther und Véronique. Sie hatten, wie immer, wenn sie im Haus von Natascha als alte Beschwörerinnen der Zeit zusammenkamen, einen Spaziergang rund um den grossen See gemacht. Der lag ausgefranst in der sanft gewellten Landschaft, auf den Hügeln in der Ferne Burgen und Klöster. Von den Wasserschildkröten, die wie urtümliche Echsen ihre Köpfe sehen liessen, während sie sich leicht durchs Wasser bewegten, war zu dieser Zeit im Jahr nichts mehr zu sehen. Auf halbem Weg um den See befand sich ein kleiner Flugplatz, daneben ein Café, in dem sie vor einem Jahr noch mit Wilhelm Kaffee getrunken hatten. Die Wirtin fragte Natascha, wo sie gewesen sei, sie habe sie lange nicht mehr gesehen. Und Wilhelm, dabei schaute sie zu Boden, ja, sie wisse, es tue ihr leid, sagte sie. Als wir unsere Umrundung des Sees fortsetzten, sagte Edith, sie könne ihren kleinen Nichten keine Märchen vorlesen, die seien zu grausam. Die Kleinen hätten schon genug Schweres zu ertragen, das wolle sie nicht noch durch grausame Märchen vermehren. Punkt, Ende der Rede, und sie liess sich durch nichts umstimmen. Nicht davon, dass die Märchen eine lange Arbeit der Wünsche seien, dass sie uns das Leben näherbringen, indem sie auf Distanz bleiben, während wir in den Modus ihres Erzählens eintreten: Und dann, und dann, und ohne Ende die Fortschreibung aller Kraft der Wünsche: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

War das nicht die Beharrlichkeit des Seins, die sich uns da zu erzählen weitergab? Sorgten die Märchen nicht für jene Gerechtigkeit, bei der es darauf ankam, zu ermessen, was wirklich war? Und dass das grausam war, hatten wir das nicht gerade erlebt?

Nein, sagte Esther. Zog sich in sich zurück, grimmig, schwieg, zeigte uns die kalte Schulter. Wir haben noch Kuchen gekauft, Kaffee getrunken, sie zur Bahn gebracht, gewunken in alter Vertrautheit, dann war sie fort. Going back for good, nicht im Guten weggehen, sondern für immer.

Später, in der Nacht, als Véronique durchs Fenster über Nataschas Garten hinweg in die Nacht schaute, wurde sie sich gewiss, dass sie da war, und dass sie würde gehen können. Nicht wie Esther für immer, sondern im Guten.

Im Haus eines Toten waren ihr mit einem Mal alle Häuser gegenwärtig, die sie geliebt hatte, aus denen sie geblickt hatte, immer mit dem Traum, gehen zu können, ohne sich zu verlieren. Hier wurde sie sich gewahr, das Haus verlassen zu können, das Haus dieses Toten und all der anderen, die sie gekannt hatte, von denen sie sich nicht hatte trennen können. Ihr Blick schaute oder reiste vielmehr in ein Aussen ihres Sehens und wurde von dort aus sichtbar, sah sich sehen. Und was wie eine Entgrenzung, ein sich Hinaus- und Hinaufschwingen in etwas Ungewisses schien, war die Übersiedlung in ein fernes Gebiet ihrer selbst. Véronique fühlte sich gleichzeitig und in gleicher Gültigkeit mit all denen da, die gelebt hatten wie sie.

Ein andauernder Sommernachtstraum, mitten im Winter. Die Jahre lange vorbei. Der Saal über der alten Gaststube mit Bühne, die Vorhänge aus Staub. Im Morgengrauen stehen ein paar Leute im Kreis auf einer Dorfstrasse und überlegen, welchen Weg sie einschlagen sollen. Der Morgen ist nicht der des vorhergehenden Tags. Sie sind durch die Spiegel gegangen. Sie wollen nicht mehr nach Hause gehen, stehen nun da, zögern und brechen dann in verschiedene Richtungen auf. Hinter ihnen ein leerer Platz, wo sie gestanden haben. Bei ihnen ein verlassenes Gefühl. Das sie zunächst für ein Gefühl von Verlassenheit halten. Doch es ist ein verlassenes Gefühl. Das haben sie und es wird sie nie verlassen.

Das ist noch lange kein Film. Nur eine Szene am Anfang und das verlassene Gefühl eines Sommernachtstraums. Irgendjemand hatte damals gefilmt. Schwankende Bilder, die schneller liefen als alles, was sie aufnehmen konnten. Die Spielenden merkten kaum etwas davon. Es war ihre letzte Vorstellung. Sie würden noch einmal zusammen den Traum der Darsteller vom weiteren Land spielen. Ihre Kräfte: die schwachen Mittel, der Mangel, das Fehlen, mit dem sie in den Kampf ziehen wollen gegen die grossen Mächte. Erst später vermissten sie, was sie damals nicht interessierte. Wo waren ihre Stämme, Völker und Bilder, wo ihre Kinder, die Herz-Ass-Karten, wo die Schneeballschlachten, der Wahnsinn, die Momente verdichteter Zeit? Wo war der Film von damals, der sie barg?

Die Spieler am Abend jenes Tages, der nicht der war, der dem Morgen vorausging, hatten im Saal eines alten Dorfgasthofs gespielt. Dort wurde in ihrer Kindheit zu Weihnachten Peterchens Mondfahrt gespielt. Eine Reise, die auf unsagbare Weise mit der Geburt des Christuskinds zusammenhing. Die alten Wege der Wünsche, die sich zu Sternen und Planeten aufmachten, Unternehmungen von Lunatics, die sie kannten, so lange sie klein waren, hatten sie auf solchen Bühnen kennengelernt, studiert, zu sich genommen. Mit dem Mond, Planet der Filmer, fing auch die Reise der Bilder an. Die sich manchmal wie Züge bewegen. Und wie Fenster von Häusern, wenn die Züge vor ihnen vorbeifahren.

Sie hatten Löwen, Handwerker, Esel, Thisbe gespielt, sie waren Wände, die flüsterten, Kannibalen, die sangen, Linden drohten zu stürzen, Baggerführer traten auf, Grosswildjäger, Tarzan und Jane, es gab einen Geist, einen Vampir, Thyramus war da, andere Liebende, Verzauberte, Indianer. Eine lange Nacht des Theaters war das geworden, das sich vergessen hatte, um vor sich hin zu träumen und immer wieder auf die Welt zu kommen. Aufgenommen von einem Film, der anders sah als alles, was sie sich erträumten.

Das war der Film, den Natascha, Esther und Véronique am Abend, bevor Esther weggefahren war, angeschaut hatten. Ein verwackelter Videofilm, der aus dem Nichts aufgetaucht war, von der Nacht eines langen Sommernachtstraums. Einem Traum von ihnen, den sie über viele Jahre weiter vor sich hin geträumt hatten. Von dem, was sie einmal waren, von dem, was sie in all den Jahren hofften, gewesen zu sein, und der noch immer nicht aufgehört hatte, ihnen bevorzustehen.

Die Bilder zuckten, flackerten, fielen aus, wurden schwarz. Alles sehr undeutlich, dann manchmal ganz scharfe Einstellungen, die mittendrin abbrachen:

Wir in der Garderobe, im kleinen Gang hinter der Bühne, wie wir vor unseren Auftritten warteten. Unsere Kostüme, wie wir herumgehen, auf der Bühne singen, Auf- und Abgänge, Esther, die die Wand spielt, Véronique spielt Thisbe, sie ruft Thyramus, da bricht der Film ab, geht weiter bei Tarzan, Jane, die auch von Esther gespielt wird. Natascha ist ein Löwe, ihre Eltern waren Steine, der Vampir tritt auf und gehört gar nicht ins Stück. Camille spielt ihn trotzdem, ihre Lebensrolle. Und immer Beifall. Gegen ihren Vampir kommen wir nicht an, auch jetzt nicht. Esther tanzt mit den anderen Kannibalen, sie singen von einem Aufstand. Natascha sagt, Véronique, das bist ja du. Nein, sage ich, das kann nicht ich sein. Doch, du hattest so lange Haare. Nein, ich erinnere mich, es war Esther. Helmudo spielt den Baggerführer, erzählt, wie ihm wieder einer den Papierkorb in seinem Zimmer angesteckt hat, das ganze Zimmer brannte und er dann zum Bahnhof gefahren und unter die nächste Lok gelegt. Vom alten Lokfahrer gerade noch rechtzeitig aufgegabelt, dann weitergelebt. Nein, das konnte nicht sein, Abdul, der uns herumkommandiert. Der verzauberte Esel fehlt, schwarz, kurz noch flackert ein Grosswildjäger auf, wieder Abdul. Schaut doch, wie sie sich alle vordrängen, wie laut und achtlos. Alles, was wir immer gefürchtet hatten.

Aber meine Lieben, sagte Natascha, das sind doch wir. Erkennt ihr euch nicht, erkennen wir uns nicht wieder? Wo sind die aus dem Film jetzt? Sind sie noch hier?

Friederike Kretzen
1956 in Leverkusen geboren, Soziologin, Dramaturgin. Lebt seit 1983 als freie Autorin in Basel. Neben der schriftstellerischen Arbeit als Dozentin für Theorie und Schreiben an der ETH Zürich, der HGKZ und dem Literaturinstitut in Biel tätig. Titel der zuletzt erschienenen Bücher: Natascha, Veronique und Paul, Handbuch der Ratlosigkeit (Mitherausgeberin), und Schule der Indienfahrer. www.kretzen.info
(Stand: 2020)
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