SELINA HANGARTNER

WHATEVER HAPPENED TO GOOD TASTE — CAMP ZWISCHEN SUBVERSION UND MASSENGESCHMACK

ESSAY

Alles in allem wird der kreative Akt nicht nur vom Künstler allein vollzogen; der Zuschauer bringt das Werk in Kontakt mit der äusseren Welt, indem er dessen innere Qualifikationen entziffert und interpretiert und damit seinen Beitrag zum kreativen Akt hinzufügt. Das wird noch deutlicher, wenn die Nachwelt ihr endgültiges Verdikt ausspricht und manchmal vergessene Künstler rehabilitiert.

Marcel Duchamp, Der kreative Akt

In seinem Aufsatz Der kreative Akt erkannte Marcel Duchamp 19571, dass die Zuschaueraktivität elementar für die Sinnkonstruktion eines jeden Kunstwerkes ist. Denn erst im Moment des Kontaktes – in der Interaktion zwischen Werk und Zuschauer – können Bedeutungen entstehen. Da sich Rezeptionsprozesse verschiedenartig vollziehen, eröffnet sich hier ein Spielraum. Die individuelle Art des Erlebens wird nämlich keineswegs vom Kunstwerk vollständig determiniert: Vorwissen, kultureller Kontext und Geschmack auf Seiten der Rezipienten beeinflussen die Lektüre. Verschiedene Erlebnisweisen ermöglichen den Betrachtern mannigfaltige Zugänge zu kulturellen Produktionen – und können so alternative Bedeutungen für das gleiche Werk realisieren.

Auf dieser Prämisse aufbauend zeichnet der vorliegende Aufsatz zwei Formen des Wandels nach. Zum einen wird die Verwandlung eines Werkes bzw. seines Sinngehalts durch einen ironischen Lektüremodus beschrieben. Da Susan Sontags Essay «Notes on Camp»2 die wohl vielseitigste Darstellung eines solchen Lektüremodus ist und damit die geeignete Grundlage bietet, um über diese – konzeptuell nur schwer greifbare – Form des Erlebens nachzudenken, bediene ich mich ihrer Idee. Die Camp-Rezeption basiert auf der Annahme, dass kulturelle Artefakte auch entgegen deren möglichen Intentionen durch eine ironisch-affirmative und ästhetizistische Haltung rezipiert werden können. So deutet das Camp-Erleben etwa das Banale ins Fantastische und das Übertriebene ins Leidenschaftliche um.

Filme, die auf diese Weise rezipiert und umgedeutet werden, bilden kein kohärentes Korpus – die Bandbreite reicht vom Musical bis zum Trash-Film, vom klassischen Melodrama bis zum Softporno. Bei den Motivvariationen des so betitelten ‹Grande-Dame-Guignol›-Genres, in denen die exzentrisch angelegten weiblichen Hauptfiguren stets in mysteriöse Geschehen verwickelt sind, drängt sich ein Abgleich mit dem Camp-Konzept auf: In What Ever Happened to Baby Jane? (Robert Aldrich, US 1962) und seinen Folgeproduktionen kehren zu viele Camp-Merkmale aus Sontags Aufsatz wieder, um nicht aus diesem Blickwinkel beleuchtet zu werden. An diesen Baby-Jane-Variationen von den Sechzigern bis in die Nullerjahre lässt sich auch der zweite Wandel festmachen, der in diesem Artikel ausgelegt wird: Da sich Publikumsgeschmack und filmische Präsentationsformen stetig entwickelten, war auch das Spannungsverhältnis zwischen Ironie, Camp und Massenkultur Wandlungen unterworfen. Konnte Camp einst als subversive Erlebnisweise gedeutet werden, ist es – so mein Argument – spätestens seit den Neunzigern als stereotypisierte Ästhetik und postmoderne Parodie im filmischen Mainstream angekommen.

Der gute schlechte Geschmack

Bereits wenige Jahre nach Duchamps Idee des Zuschauerbeitrags zum kreativen Akt eröffneten sich unter Intellektuellen Diskurse, die seine Erkenntnis bekräftigten. Im Geist der Sechzigerjahre wurden alternative Zugänge zur bildenden Kunst, zur Literatur oder zum Kino propagiert – die klare Grenzziehung zwischen «hoher» und «niedriger» Kunst galt als aufgehoben. Und dank ihrer potenziell subversiven Wirkung war Ironie das Register der Wahl, in der diese noch marginale Rezeptionskultur ihre Lektüre vollzog.

Vom selben Gestus getragen erschien 1964 mit Susan Sontags «Notes on Camp»2 ein Essay, das ein solches Modell einer alternativen Erlebnisweise lieferte. Camp ist das Kokettieren mit dem stilistischen Exzess, dem Manierismus und der Oberflächlichkeit kultureller Produktionen – die Lust an theatralischen und «übergeschnappten» Darbietungen. «Viele Beispiele für Camp sind Dinge, die, von einem ‹seriösen› Standpunkt aus betrachtet, entweder minderwertige Kunst oder Kitsch sind»3, schreibt Sontag. Camp als Erlebnisweise betont den Stil auf Kosten des Inhalts, was den Camp-Geschmack radikal von tradierten Vorstellungen guter Kunst absetzt. Artefakte werden nicht mehr entlang kulturkonservativer Massstäbe bewertet, stattdessen rücken in der Camp-Erlebniswelt artifizielle Qualitäten in den Vordergrund: «Camp erklärt, dass guter Geschmack nicht einfach guter Geschmack ist, ja, dass es einen guten Geschmack des schlechten Geschmacks gibt.»4 Camp scheint in seinem Gestus einer ironischen Vorliebe für Kitsch nahezustehen. Die Erlebnisweisen beziehen sich aber auf einen jeweils anderen Gegenstand: Entstammen kitschig empfundene Waren wie etwa Gartenzwerge der Massenproduktion, erfreut sich Camp als Erlebnisweise an pathetischem Kunstwillen, der aber gescheitert ist, oder an Leidenschaft, die ihren Zweck verfehlt.

Aufgrund dieser affirmativen Hinwendung zum Trickhaften und Banalen – dem Geniessen verfehlter Ernsthaftigkeit – wird dem Camp als Kunsterleben eine ironische Grundhaltung zugeschrieben.5 Im ästhetischen Zusammenhang entspricht Ironie oft nicht mehr ihrer klassischen rhetorischen Definition, wonach das genaue Gegenteil vom Gesagten gemeint ist. Hier wird sie breiter erfasst als eine Form der Uneigentlichkeit: Ironische Äusserungen sollen nicht mehr im wörtlichen Sinne, sondern indirekt – eben «uneigentlich» – und entlang eines verborgenen Sinngehalts verstanden werden.6 Im ironischen Kunsterleben ist diese Uneigentlichkeit in der Haltung der Zuschauer auszumachen: Ein kulturelles Produkt wird rezipiert, dessen illusionistischer Anspruch und unmittelbare Wirkung aber zugleich abgetan und bewusst durchbrochen. Die Camp-Zuschauer geniessen den Film nicht mehr aufgrund seiner narrativen und immersiven Leistungen, sondern indirekt als das Ergebnis seiner Produktionsbedingungen. «Es zeigt sich, dass die Erlebnisweise des Camp auf den doppelten Sinn anspricht, in dem sich einige Dinge begreifen lassen», so Sontag. «Gemeint ist […] der Unterschied zwischen dem Ding, sofern es etwas bedeutet, und dem Ding, sofern es reines Kunstprodukt ist.»7 Dabei ist die Camp-Rezeption kaum sarkastisch, sondern vollzieht sich stets in einem spielerischen Modus und schwankt im Verhältnis zum wahrgenommenen Produkt zwischen einer distanziert-amüsierten Haltung und Momenten des Lustvollen.8 Auch Daniel Kulle definiert Camp in diesem Sinne. Er legt den Begriff im Umfeld des Kultfilms an: «Eine ungebrochene, ‹naive› Verehrung von, sagen wir, Bette Davis oder John Wayne, ist zunächst einmal Kult. Die ironische Brechung der zwei Starfiguren und ihrer ästhetisierten medialen Darstellungen wäre Camp.»9 Verhält sich sowohl das Kult- als auch das Camp-Publikum affirmativ, markiert Ironie den Unterschied. Mit seiner Geste des «Durchschauens»10 eröffnet Camp eine Metaebene, auf der sich nicht nur einfache, «naive» Formen des Rezipierens vollziehen. Stattdessen stellt sich ein Wechselspiel zwischen Affirmation und Distanz ein, das Spielraum für Reflexionen schafft.

What Ever Happened to Baby Jane?

Im zeitlichen Umfeld von Sontags Artikel entstanden, besitzt What Ever Happened to Baby Jane? das Potenzial, von einem ironischen Publikum zum Camp-Erlebnis umgestaltet zu werden: Sontags Feststellung, dass es bei Camp «nicht um Schönheit […], sondern um den Grad der Kunstmässigkeit, der Stilisierung»11 geht, könnte ungeschriebener Leitgedanke von Robert Aldrichs Werk sein. Die beiden Hauptrollen sind mit Joan Crawford und Bette Davis besetzt – zwei Filmdiven, deren grosse Schauspielkarrieren 1962 bereits beendet erschienen. Während alternde Leinwandhelden wie Gary Cooper oder James Stewart immer noch Engagements in hochwertigen Produktionen finden konnten, war das Geschäft für die weiblichen Stars von einst zu dieser Zeit nämlich um einiges schwieriger geworden. Für Crawford und Davis, die hier gewillt waren, sich von einer ungewohnt hässlichen Seite zu zeigen, wurde Baby Jane mit seiner eindringlichen Inszenierung und der beinah schamlosen Offenlegung von Wut und Verzweiflung dennoch zum überraschenden Erfolg.

Davis spielt in Aldrichs Film «Baby» Jane Hudson, einen in die Jahre gekommenen einstigen Kinderstar. Sie kann ihre Vergangenheit als Vaudeville-Berühmtheit nicht ruhen lassen und pflegt in einer opulenten Hollywood-Villa ihre Schwester Blanche. Blanche (Crawford) sitzt seit einem Autounfall im Rollstuhl, wobei «Baby» Jane damals auf mysteriöse Weise ins Unfallgeschehen involviert war. Die Karambolage bedeutete das abrupte Ende für Blanches glanzvolle Karriere als Filmstar, obschon sie – im Gegensatz zu «Baby» Jane – zuvor Erfolge als ernsthafte Schauspielerin verbuchen konnte. Das Verhältnis der Schwestern war seit jeher von Schuldgefühl und Hass geprägt. Aus Eifersucht auf deren anhaltenden Star-Appeal und gelegentliche Fan-Briefe bringt Jane die hilflose Blanche immer mehr in Bedrängnis – bis zu einem Moment blinder Eskalation.

Der filmische Text wird in seiner Bedeutung wandelbar, je nachdem, in welchem Modus der Rezeption er betrachtet wird. Baby Jane lässt sowohl Spielraum für den ironischen Geschmack, kann aber auch «naiv» rezipiert werden – als ein spannungsgeladenes Melodrama mit Horrorelementen. Für diese Zuschauer funktionieren Stil und Ausstattung des Films lediglich als Folie, auf deren Hintergrund sich die Handlung entfaltet. Sie versuchen herauszufinden, wer nun damals den fatalen Autounfall verursacht hat, durch den Blanche in den Rollstuhl kam, und ob die alte Filmdiva die Folter ihrer jüngeren Schwester bis zum Ende des Films überlebt. Aldrichs Werk bildet aber auch eine regelrechte Wunderkiste an Camp-Momenten. Der Vaudeville-Kinderstar mit seinen quietschsüssen Zapfenlöckchen und den grotesk sexualisierten Manierismen, nicht altern wollende Stars, deren faltige Gesichter und plumpe Körper mindestens so zerfallen sind wie ihre einst prunkvolle Behausung, die exzentrischen Mütter und lebensgrossen Porzellanpüppchen sind ein Kuriosum des schlechten Geschmacks. Mit ironischer Lust am Übergeschnappten geniesst ein Camp-Publikum hier den hohen Grad an Kunstmässigkeit des Dekors und der filmischen Inszenierung, sowie die sentimental-nostalgische Manier, mit der immer wieder auf die klassische Hollywood-Periode angespielt wird – etwa dann, wenn ein Dreissigerjahre-Streifen Joan Crawfords über die diegetischen Mattscheiben flimmert.

Solche Szenen entfalten eine selbstreflexive Dimension, erinnern doch die gescheiterten Karrieren der Filmfiguren an die Realbiografie der beiden Darstellerinnen. Dieses Hintergrundwissen mag den Camp-Effekt noch steigern: Sie machen Baby Jane als artifizielles Produkt spürbar, zugleich wird die Tragik selbstreflexiv angelegter Momente dank den Parallelen zu Crawford und Davis noch erhöht. Auch mit ihren schauspielerischen Darbietungen legen die Diven ein Camp-Erlebnis nahe. Bette Davis wird von Sontag gar als eine der «grossen Meisterinnen des überzogenen, manierierten Stils»12 bezeichnet. Als «Baby» Jane reicht Davis’ Overacting ins Groteske, wobei ihr hysterisches Spiel zwar diegetisch motiviert ist, aber kaum mehr der Vorstellung einer realen Persönlichkeit entspricht – zu sehr ist die Gestik und Mimik jeder Natürlichkeit enthoben.

Der Camp-Effekt konstruiert sich aber nicht nur durch die alleinige Präsenz dieser Elemente. Genau wie Sunset Boulevard (Billy Wilder, US 1950) dies mit der Stummfilmperiode eine Dekade zuvor getan hatte, zeigt Baby Jane die Ästhetiken vergangener Tage in einer Zeit, in der diese schon längst asynchron und «démodé» wirkten. Das Vaudeville und das klassische Hollywood werden so ihrer Manieriertheit entblösst, was bei einem Camp-Publikum auch Gefühle der Sympathie und Nostalgie erzeugt. «Was ursprünglich banal war, kann im Laufe der Zeit phantastisch werden»,13 schreibt Sontag und unterstreicht damit die Liebe der Camp-Erlebnisweise gegenüber Vergangenem.

No Wire Hangers!

Der Erfolg von Baby Jane inspirierte – wie so oft in Hollywood – eine Reihe an B-Produktionen der Sechziger- und frühen Siebzigerjahren, die einer analogen Formel wie Baby Jane folgten: Filme wie Strait-Jacket (William Castle, USA 1964), Hush … Hush, Sweet Charlotte (Robert Aldrich, US 1964), Whoever Slew Auntie Roo (Curtis Harrington, GB 1971) und What Ever Happened to Aunt Alice? (Lee H. Katzin, US 1969) erinnern mit vergleichbarer Tonalität und ähnlichen narrativen Konstruktionen an den Vorgänger. Und in all diesen Filmen mimen weibliche Stars des klassischen Hollywoods wie Shelley Winters, Bette Davis, Debbie Reynolds oder Geraldine Page paranoid und psychotisch angelegte Hauptfiguren. Die Faszination mit den Baby-Jane-Figuren scheint aber auch nach den Sechziger- und Siebzigerjahren fortzubestehen: Variationen der Grandes Dames treten in Filmen wie Carrie (Brian de Palma, USA 1976), Friday the 13th (Sean S. Cunningham, US 1980), Wild at Heart (David Lynch, US 1990) und Misery (Rob Reiner, US 1990) erneut in Erscheinung – alle diese Filme bedienen sich des stereotypen Motivs der zuweilen hysterischen, zuweilen rachsüchtigen Frau.

Ähnliches zeigt auch Frank Perrys Mommie Dearest (US 1981), der zugleich eine Motivvariation und eine Art Metasicht auf die ‹Grande-Dame-Guignol›-Reihe bildet. Anders als seine Vorgänger erzählt der Film nicht mehr rein Fiktives, sondern wählt sich ein autobiografisches Buch von Joan Crawfords Adoptivtochter Christina zur Vorlage, womit die Verbindung zwischen dem Camp-Konzept und Mommie Dearest verdoppelt ist: Basiert die Geschichte einerseits auf dem Leben der Camp-Ikone und Baby-Jane-Darstellerin Crawford, sind Schauspiel, Narration und Dekor der Verfilmung einer Camp-Ästhetik zuzuordnen.

Mommie Dearest handelt vom prekären Verhältnis zwischen Mutter und Tochter und Crawfords radikalen Erziehungsmethoden. Mit den extravaganten Gebärden und dem permanenten Overacting, dessen sich Faye Dunaway in ihrer Rolle als Joan Crawford bedient, stellt sich die Filmfigur in die Baby-Jane-Tradition. Etwas zu ehrgeizig und «démesuré» wirkt hier der Versuch, Dunaway optisch in Crawford zu verwandeln. Dass ihr Gesicht erst nach fünf Minuten Laufzeit und mit grosser filmischer Geste der Kamera präsentiert wird, betont den verfehlten Ernst der Produktion. Der rosarote Satinbezug, der das Innendekor von Crawfords Villa und die Bildästhetik des gesamten Films dominiert, zeigt seinerseits den «unverschämten Ästhetizismus»14, den auch Sontag zum Camp-Merkmal macht. Etwas zu pathetisch und melodramatisch inszeniert, leidet die Kohärenz der Erzählung an einer fragmentarisch anmutenden Reihung sadistischer Wutausbrüche seitens der Crawford-Figur. Nicht von ungefähr wurde Mommie Dearest mit dem Negativpreis Golden Raspberry «ausgezeichnet», und Filmkritiker Roger Ebert quittierte seinen Filmbesuch damals mit der Aussage: «It made life miserable for me.»15

Als Mommie Dearest 1981 ins Kino gelangte, fand er aber dennoch sein Publikum: Die narrativen Lücken, die Figurenzeichnung ohne Tiefendimension und der hohe Grad an Kunstmässigkeit lockten die Zuschauer mit ironischer Freude am ‹Schlechten›. Um den Film bildete sich sogar ein regelrechtes Stammpublikum und in San Franciscos legendärem Castro Theatre sollen Fans mit Drahtkleiderbügeln und Waschpulver ausgestattet Filmvorführungen besucht haben, wobei sie die Schlüsselszenen mithilfe ihrer Requisiten imitierten. Und Sätze wie «No wire hangers, ever!», «Dammit, Perrino’s is my place» und «Tina, bring me the axe!», die Dunaway in ihrer Rolle als Joan Crawford derart theatralisch vorträgt, dass sie zur unfreiwilligen Lachnummer werden, sind in Comedy-Shows und Travestie-Auftritten unzählige Male parodiert und persifliert worden. Mit Ironie rezipiert, wandelt sich das überpathetische Melodrama Mommie Dearest also zu einem Kultklassiker und einer Komödie, die durch ihre episodenhafte, offene Struktur und den intendierten Ernst verfehlenden Sequenzen dem Publikum den Spielraum bieten, den Film im Sinne des eigenen Camp-Erlebnisses umzugestalten. Die ironische Haltung, die diese Umgestaltung ermöglicht, erscheint dabei nicht mehr so marginalisiert und privat, wie Sontag sie in Notes on Camp 1964 noch beschrieben hat. Mommie Dearest und das damit verbundene Camp-Ereignis wird in den Achtzigern zum geteilten Kultmoment.

Jeffrey Sconces Konzept der «paracinematic sensibility»16, das sich mit Camp einige zentrale Denkmotive teilt, zeichnet diese Entmarginalisierung ironischer Rezeptionshaltungen ebenfalls nach. Von Sconce auch als «neo-camp aesthetic» bezeichnet, basiert die «paracinematic sensibility» wie Camp auf einer ironischen Haltung. Im Geist der Trash-Manie der Neunzigerjahre stellt Sconces Konzept aber nicht mehr das Pompöse und Manierierte in den Vordergrund. Durch die «paracinematic sensibility» werden dem Amateurhaften und Fragmentarischen surreale Qualitäten zugesprochen. «Schundfilme» mit fabulösen Titeln wie Surf Nazis Must Die (Peter George, US 1987) oder Killer Klowns from Outer Space (Stephen Chiodo, US 1988) werden jenseits ihrer ostentativ ökonomischen Motivation dank dieser Erlebnisweise nach dem «so bad it’s good»-Prinzip als eigene Kunstform wahrgenommen.

In ihren Paratexten suggerieren die Trashfilm-Fans, dass sie eine subkulturelle Gegenbewegung zur vermeintlichen Elite bilden und sich mit ihrem Badfilm-Kanon gegen eine Hautevolee des guten Geschmacks stemmen. Sconce legt nahe, dass dieser «Geist der Selbstrechtfertigung»17, der auch bei Sontags Konzeptionierung von Camp 1964 so entscheidend war, hier aber nur noch scheinbar herrscht: Wie das mit Kleiderbügeln bewaffnete Stammpublikum von Mommie Dearest zeigt, war der ironische Blick auf kulturelle Artefakte in den Achtziger- und Neunzigerjahren schon längst nicht mehr so subversiv wie in den Sechzigern, wo er vornehmlich mit dem Kunsterleben unterdrückter Homosexueller in Verbindung gebracht wurde. Zur Kommerzialisierung des ironisch «schlechten» Geschmacks schreibt Sconce 1995:

In recent years, the paracinematic community has seen both the institutionalization and commercialization of their once renegade, neo-camp aesthetic. Although paracinematic taste may have its roots in the world of «low-brow» fan culture (fanzines, film conventions, memorabilia collections and so on), the paracinematic sensibility has recently begun to infiltrate the avant garde, the academy, and even the mass culture on which paracinema’s ironic reading strategies originally preyed.18

Obwohl sie suggerieren, gegenüber kulturkonservativen Werten subversiv zu sein, haben die Paracinema-Fans ihre Existenz als kulturelles Randphänomen und Nischenpublikum einbüssen müssen.

Die, Mommie, Die!

Camp als Erlebnisweise hat also spätestens in den Achtziger- und Neunzigerjahren seine Randposition aufgeben müssen. Mommie Dearest, der zunächst als ernstes Melodrama angelegt war, wurde nun, wo er ein Stammpublikum in seinen Bann gezogen hat, auch von offizieller Seite augenzwinkernd vermarktet – mit Slogans wie «Meet the biggest mother of them all!» oder «One thing is certain: You’ll never look at a wire hanger the same way again!». Mit einer kürzlich erschienen Special-Edition-DVD, die vollgepackt mit Extraminuten und Kommentaren etwa von Trashfilm-Regisseur John Waters daherkommt, werden auch Filmfans der Nullerjahre zur uneigentlichen Rezeption von Mommie Dearest bewogen. Diese Vermarktungsstrategien jüngeren Datums weisen darauf hin, dass Filme mit Camp-Ästhetik weiterhin über eine wachsende Anhängerschaft verfügen und sich der Trend zur Institutionalisierung und Kommerzialisierung des ironischen Geschmacks in den letzten Jahren noch verstärkt hat. Diese Allgegenwärtigkeit ironischer Rezeptionshaltungen zeichnet auch Konrad Paul Liessmann nach, wenn er über den dem Camp verwandten Kitsch 2007 schreibt:

Herz auf Schmerz zu reimen und dankbar gen Himmel blickende Engel zu malen signalisiert nicht Rückständigkeit, auch keinen Massenbetrug, sondern den fortschrittlichen und anspruchsvollen ästhetischen Geschmack unserer Tage. Wer gegen den Kitsch heute noch zu polemisieren wagte, machte sich nicht nur des Kulturpessimismus verdächtig, sondern generell des ästhetischen Banausentums. Denn nur dieses hat noch nicht begriffen, dass der schlechte Geschmack heute der eigentlich gute ist. Wer die Opposition von Kitsch und Kunst noch aufrechterhalten wollte, entlarvte sich damit als zumindest gestrig, wenn nicht vorgestrig.19

Der uneigentliche Blick ist zum kulturellen Gemeinplatz geworden. Wenn John Waters – der mit Pink Flamingos (US 1972) und Female Trouble (US 1974) die wohl subversivsten Camp- und Trash-Momente der Filmgeschichte geschaffen hat – im Jahr 2011 in Pop-Rapperin Nicki Minajs Videoclips auftritt, oder wenn Jeff Koons’ kitschig verzierten Skulpturen Erträge im sechsstelligen Bereich generieren, ist Camp auf ein kaufkräftiges Publikum gestossen. Dass zusammen mit dieser Kitsch-Ästhetik auch die theatralische Grande-Damerie in den Nullerjahren einen weiteren Schritt hin zur massentauglichen Ästhetik vollzogen hat, zeigt ein letztes Filmbeispiel aus der ‹Grande-Dame-Guignol›-Reihe: Die, Mommie, Die! (Mark Rucker, US 2003) bildet eine postmoderne Parodie der bekannten Formel. Im Gegensatz zu den vorangehenden Filmbeispielen erscheint Camp hier nun nicht mehr als ein Moment der Rezeption, sondern als eine dem Werk inhärente – und offensichtlich intendierte – Ästhetik.20 In diesem Fall ist das Ironische also keine Haltung, die das Kunsterleben bestimmt. Sie ist vielmehr durch den Film angelegt und muss von einem Publikum, das um die unfreiwilligen Camp-Momente der Filmgeschichte weiss, richtig dekodiert werden.

Die, Mommie, Die! spielt das ‹Grande-Dame-Guignol›-Genre von Beginn weg mit uneigentlichen Vorzeichen durch, da die Hauptfigur Angela Arden von Autor und Schauspieler Charles Busch in Drag-Verkleidung gemimt wird. Im Film wird die Geschichte einer Frau erzählt, die ihren Ehemann des Geldes wegen mit Arsen vergiftet. Ihre Kinder hegen bald den Verdacht, dass Angela auch am Mord ihrer Schwester vor einigen Jahren beteiligt war. Ist Die, Mommie, Die! dank luxuriöser Villa in einem Milieu angesiedelt, das an Mommie Dearest erinnert, parodieren andere Elemente des Plots – etwa der Mord an Ehemann und Zwillingsschwester – Baby Jane und die früheren ‹Grande-Dame-Guignol›-Variationen. Zwischenfälle in Rosengärten, verpasste Karriere-Chancen, handgreifliche Auseinandersetzungen mit Nachbarn oder Nachwuchs und dramatisierende Musikuntermalungen verweisen spielerisch auf die Vorgänger. Das permanente Overacting der Grandes Dames erfährt in dieser Adaption die deutlichste Ironisierung: Haben die gealterten Filmstars schon in den früheren ‹Grande-Dame-Guignol›-Filmen wie ihre eigene Parodie gewirkt, wird das Theatralische und Überzogene hier durch das Crossdressing zusätzlich ausgestellt – die Existenz der Diva wird als Spielen einer Rolle entlarvt. Der ominöse Plot-Twist am Ende des Films verhöhnt wiederum die überraschenden Wendungen fast aller Baby-Jane-Varianten. Stellt sich zum Schluss von Baby Jane heraus, dass nicht Jane damals den Unfall verursachte, sondern ihre Schwester Blanche, wird dieses Prinzip hier parodistisch überhöht: Gegen Ende von Die, Mommie, Die! wird nicht nur klar, dass Angelas Zwillingsschwester Barbara die eigentlich Überlebende ist, die aus Eifersucht auf die Karriere ihrer Schwester diese umgebracht hatte, auch der Gifttod von Angelas Ehemanns wird als eine Irreführung entlarvt, da dieser in der Täuschung seines Ablebens die Chance sah, seine Schuldenrückzahlungen bei der Mafia zu umgehen. Der Kitsch der Vorgänger findet sich hier im Dekor und den An wieder: Diamanten-Klunker, Morgenmäntel aus Voile oder Seide und rosarote Pelzmützen dominieren die Ausstattung der Figuren. Der Kino-Trailer von Die, Mommie, Die! legt seinerseits eine uneigentliche Lektüre nahe, wenn er – komplett im Stil der Vierziger- und Fünfzigerjahre gehalten – ironisch darauf verweist, dass der Film vollständig in Farbe gedreht ist und zudem den jungen Schauspieler Jason Priestley bekannt machen wird, obwohl Priestley zu dieser Zeit seine grössten Erfolge als Darsteller in der TV-Serie Beverly Hills, 90210 (US 1990–2000) bereits verbucht hatte.

Derartige Genre-Parodien funktionieren dank den unzähligen Varianten, die Figuren, Motive und Schlüsselszene der ‹Grande-Dame-Guignol›-Filme im kulturellen Gedächtnis verfestigt haben. Die, Mommie, Die! zeigt, dass sich nicht nur Genremuster, sondern auch subtile ästhetische Qualitäten und darauf aufbauende Rezeptionshaltungen in postmodernen Spielformen wiederfinden. Und da sich Camp bereits in massenkulturellen Sphären etabliert hat, wird es in den Darstellungen von Die, Mommie, Die! wohl nicht mehr nur von eingeschworenen Zuschauern, sondern auch von einem breiteren Publikum als Zitat erkannt. Ob die Camp-Ästhetik hier noch über die subversive Sprengkraft verfügt, die ihr einst als Kunsterleben zugeschrieben wurde, dürfte bezweifelt werden. Die Annahme, dass sich das Verhältnis zwischen Ironie, Camp und Massenkultur entscheidend verändert hat, scheint nun am Beispiel der Baby-Jane-Varianten von den Sechzigern bis zu den Nullerjahren, von Baby Jane bis Die, Mommie, Die! offensichtlich. So kann Sontags Feststellung von 1964, «es ist gut, weil es schrecklich ist»21, heute in der Tat als allgemeingültiger als je zuvor bezeichnet werden.

Marcel Duchamp, Der kreative Akt. Duchampagne brut (1957), übersetzt von Serge Stauffer, Hamburg 1992.

Susan Sontag, «Anmerkungen zu Camp» (1964), in: dies., Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, übersetzt von Mark W. Rien, Frankfurt am Main 1991, S. 322–341.

Sontag (wie Anm. 2), S. 325.

Sontag (wie Anm. 2), S. 340.

Obwohl Sontag 1964 noch nicht deutlich auf das Verhältnis zwischen Camp und Ironie zu sprechen kommt, wird dem Camp in beinah allen Beschreibungen danach eine ironische Haltung attestiert. So meint auch Richard Dyer in seiner oft zitierten Definition von Camp: «[Camp is] a characteristically gay way of handling the values, images and products of the dominant culture through irony, exaggeration, trivialisation, theatricalisation and an ambivalent making fun of and out of the serious and respectable», in: Richard Dyer, Heavenly Bodies. Film Stars and Society, New York 1986, S. 187.

Hans Jürgen Wulff beschreibt den Begriff der «Uneigentlichkeit»: Mit der ironischen Kommuni­kation sind Dinge nicht mehr eigentlich oder wörtlich z

Jörg Schweinitz, Film und Stereotyp. Eine Herausforderung für das Kino und die Filmtheorie. Zur Geschichte eines Mediendiskurses, Berlin 2006, S. 241.

Daniel Kulle, Ed Wood. Trash & Ironie, Bonn 2011, S. 24.

Schweinitz (wie Anm. 89), S. 241.

Sontag (wie Anm. 2), S. 324.

Sontag (wie Anm. 2), S. 327.

Sontag (wie Anm. 2), S. 333.

Sontag (wie Anm. 2), S. 331.

http://www.rogerebert.com/review..., aufgerufen am 23.7.2015.

Jeffrey Sconce, «‹Trashing› the Academy. Taste, Excess, and an Emerging Politics of Cinematic Style» (1995), in: Leo Braudy und Marshall Cohen (Hg.), Film Theory and Criticism. Introductory Readings, New York 2004, S. 534–553.

Sontag (wie Anm. 2), S. 339.

Sconce (wie Anm. 16), S. 535.

Konrad Paul Liessmann, «Kitsch! Oder Warum der schlechte Geschmack der eigentlich gute ist», in: Ute Dettmar und Thomas Küpper (Hg.), Kitsch. Texte und Theorien, Stuttgart 2007, S. 305.

Zu dieser Form des intendierten Camp meint Sontag: «Wahrscheinlich ist es immer von Nachteil, wenn man es darauf anlegt, campy zu sein» (wie Anm. 2, S. 330). Die Autorin bedauerte 1964 das fehlende Pathos, die mangelnde Naivität und Eigenliebe solcher bewusster Camp-Darstellungen. Die Frage, ob diese Aussage für die Camp-Ästhetik der postmodernen Zitatwelt auch gültig ist, muss künftigen Analysen überlassen werden. Ein verändertes Verhältnis liegt aber nahe, da Begriffe wie «Originalität» oder «Naivität» heute andere Geltungen haben als noch in den Sechzigern.

Sontag (wie Anm. 2), S. 341.

Selina Hangartner
Assistentin und Doktorandin
*1990, studierte Film-, Politik- und Publizistikwissenschaft. Als Assistentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin lehrt und arbeitet sie am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich. Derzeit schreibt sie eine Dissertation zum Thema Selbstinszenierungen des frühen Tonfilms.
(Stand: 2020)
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