THOMAS HUNZIKER

LA NUIT DE L’OURS (SAMUEL GUILLAUME, FRÉDÉRIC GUILLAUME)

SELECTION CINEMA

Hoch oben über den grauen Häuserschluchten, auf dem Dach eines Hochhauses, da steht ein idyllisches kleines Chalet mit hübschem Garten. Um 19 Uhr beginnt für den Bewohner der Arbeitstag. Es ist ein Bär, der langsam das Haus in Betrieb nimmt. Auf dem Boden der Realität geht derweil der Tag zu Ende, und einsame Gestalten schleichen durch die unheimliche Stadt. Während die Türen geschlossen werden, bleiben einige draussen, müssen sich einen Platz suchen, auf einer Bank oder unter einem Karton.

Doch der Scheinwerfer des Bären findet die Ausgeschlossenen, lockt sie in sein Haus, den Rückzugsort für die kuriosen Figuren. Er kocht für sie, wäscht ihre Kleider. Und sie beginnen von ihrem Leben zu erzählen. Der Junge, dessen Eltern ständig streiten. Der ehemalige Unternehmer, der nicht nur Firma, sondern auch seine Familie verloren hat. Die Drogensüchtige, die immer tiefer in ihre Abhängigkeit stürzte. Sie alle finden Schutz und eine warme Mahlzeit im Haus des Bären. Bis der Tag wieder anbricht.

Nach dem teuren Stop-Motion-Film Max & Co (CH 2007) und dem sehr kurzen Streich La fondue crée la bonne humeur (CH 2011) haben sich die Brüder Sam und Fred Guillaume mit ihrem 21-minütigen Animationsfilm La nuit de l’ours auf ein neues Feld begeben. Der Film ist zum 20-Jahr-Jubiläum der Notschlafstelle La Tuile in Fribourg entstanden. Die Stimmen der Figuren stammen von Menschen, die eine Nacht dort verbracht haben. Die Wirklichkeit dringt dadurch in diesem Animationsfilm ein. La nuit de l’ours steht somit in der neuen Tradition von Filmen wie Waltz with Bashir (Ari Folman, IL 2008) oder auch Chrigi (Anja Kofmel, CH 2009), welche die Genres Animation und Dokumentation vermischen.

Für La nuit de l’ours hat sich diese Möglichkeit aufgedrängt, weil dadurch die porträtierten Personen anonym auftreten können. Einfühlsam haben Sam und Fred Guillaume die realen Aussagen in die Szenen eingebaut. Der Animationsfilm lebt denn auch von einem leicht verfremdeten Naturalismus. Neben hand- und computeranimierten Elementen ent­hält er nämlich zahlreiche Fotos von wirklichen Gegenständen. Dadurch erhält der Film den Charakter einer munteren Collage. Geprägt ist La nuit de l’ours aber auch von einer verträumten und teilweise bedrohlichen Atmosphä­re. Obschon als Vorlage für die meisten Gegenstände Fotografien verwendet wurden, lassen sich in der Gestaltung durch die schiefen Gebäude die verunsicherte Gefühlslage und die labile soziale Situation der Figuren erkennen.

Am Animationsfilmfestival Fantoche in Baden wurde das in jeder Hinsicht vielschichtige Werk im Schweizer Wettbewerb nicht nur mit dem Preis der Jury, sondern auch mit dem Publikumspreis ausgezeichnet.

Thomas Hunziker
*1975, Studium der Filmwissenschaft, Anglistik und Geschichte an der Universität Zürich. Er arbeitet als Radiologiefachmann und betreibt das Filmtagebuch filmsprung.ch. Mit seiner Partnerin und zwei Kindern lebt er in Schaffhausen.
(Stand: 2021)
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