RENÉ MÜLLER

DUTTI DER RIESE (MARTIN WITZ)

SELECTION CINEMA

Gottlieb Duttweiler (1888–1962) war gleichzeitig eine bodenständige und eine schillernde Persönlichkeit – man kannte ihn als Schlitzohr mit Geschäftssinn und als visionären Patron. Obwohl liebevoll «Dutti» genannt, war der Gründer der Migros alles andere als unumstritten. Duttweiler hatte nicht zu Unrecht den Ruf, ein Machtmensch zu sein. Wie kaum ein anderer Unternehmer prägte «der Riese» die Schweizer Konsumgesellschaft entscheidend mit und übte wirtschaftlich, politisch und kulturell einen enormen Einfluss aus.

Bereits als Lehrling in einem Handelsgeschäft fiel Gottlieb Duttweilers kaufmännisches Talent auf – und nur sieben Jahre nach Lehrabschluss fungierte er schon als Prokurist bei der Firma. Doch die steile Karriere des Zürchers wurde 1920 durch die Währungskrise auf jähe Weise gestoppt. Nachdem sein Arbeitgeber Konkurs anmelden musste, entschloss sich Duttweiler, zusammen mit seiner Frau das berufliche Glück in Brasilien zu suchen. Sie kauften sich eine Farm, doch schon bald sahen die beiden keine Perspektive mehr in Südamerika und kehrten in die Schweiz zurück. Nach erfolgloser Stellensuche gründete Duttweiler 1925 eine Verkaufsorganisation ohne Zwischenhandel – die heutige Migros. Zeitzeugen erinnern sich noch lebhaft an die zu Verkaufsständen umgebauten Lastwagen, die ihre Waren zum Missfallen des lokalen Gewerbes zu günstigen Preisen feilboten. Im Kampf um die Gunst der Hausfrau verfügte Dutti eindeutig über die besseren Waffen als die traditionellen Verkaufsgeschäfte. Schliesslich wusste er, dass die «Seele der Schweizer Hausfrau im Portemonnaie» zu suchen sei.

Dutti der Riese ist der erste Kinofilm, bei dem der Drehbuchautor Martin Witz Regie führt. Der Dokumentarfilm zählte zu den unbestrittenen Publikumslieblingen des diesjährigen Filmfestivals von Locarno. Dies ist kaum überraschend, schwelgt der Film doch ausgiebig in heiterer Nostalgie. Witz präsentiert eine erstaunliche Fülle an Archivmaterial von Duttweilers unzähligen Auftritten in der Öffentlichkeit, daneben ist aber auch privates Material aus dem Familienarchiv zu entdecken. Duttweiler und «seine» Migros stehen stets im Mittelpunkt der chronologisch erzählten Dokumentation. Die ergänzenden Interviews mit Zeitzeugen und Migros-Vertretern werden von den temperamentvollen und bisweilen skurrilen Selbstinszenierungen Duttweilers etwas an den Rand gedrängt.

Im letzten Lebensabschnitt wurde Duttweiler zunehmend skeptisch. Bisher unveröffentlichte, private Tonaufnahmen zeigen ihn von einer nachdenklichen Seite. Trotz ungebrochenem Tatendrang begann der Unternehmer mit der egoistischen Konsumgesellschaft, die er selbst entscheidend mitgeprägt hatte, zu hadern. Gerade in diesem letzten Teil kommt eine Schwäche des Films deutlich zum Ausdruck:

94 Minuten reichen kaum aus, um dem Riesen und seinen Errungenschaften gerecht zu werden. Dutti der Riese zeichnet zwar ein durchaus vielschichtiges Bild von Gottlieb Duttweiler, gleichwohl ist die chronologisch gehaltene Dramaturgie zu additiv geraten, sodass man sich an einigen Stellen vertiefende Informationen und distanziertere Analysen wünscht.

René Müller
*1977, Studium der Filmwissenschaft, Publizistik und Neueren Deutschen Literatur in Zürich und Paris. Er ist beim Migros Museum für Gegenwartskunst für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich. Von 2007 bis 2012 Redaktionsmitglied von CINEMA.
(Stand: 2014)
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