SONJA EISL

DAS WAHRE LEBEN (ALAIN GSPONER)

SELECTION CINEMA

Erst gibt es einen Knall. Dann flitzt Ulrich Noethens nackter Hintern durchs Bild. Das ist der Anfang von Das wahre Leben. Erst posiert Ulrich Noethens nackter Hintern (etwas länger) im Bild. Dann gibt es einen Knall. Das ist das Ende. Eine dramaturgische Klammer – frech, witzig, pointiert –, die ihre Wirkung nicht verfehlt. Dazwischen ereignet sich Folgendes: Der High-Risk-Manager Roland Spatz verliert von einem Tag auf den anderen seinen Job, während nebenan gerade Topverdiener Krüger einzieht, der mit seiner beruflichen Brillanz nicht hinterm Berg hält. Dafür benehmen sich dessen Frau und Tochter auffällig, Erstere mit spontanen emotionalen Zusammenbrüchen, Letztere durch einen ausgeprägt selbstdestruktiven Zug. Der Familiensegen im Hause Spatz schien dagegen bis anhin in guter Verfassung: Frau Sybille hat ihre Galerie und ihre Söhne Charles und Linus, die Söhne haben ihre Tagesstruktur (Schule und Militär) und ihre Mutter. Nun aber sitzt Roland Spatz auf dem Sofa und wird sich das erste Mal in zwölf Jahren seines Wohnzimmers bewusst. Sein Fazit: «Die Wand hier, die kommt weg.» Die Baustelle ist eröffnet. Gegraben und gemeisselt wird aber auch am Familienidyll. Während Linus sich als notorischer Bombenbastler entpuppt, der die Nachbarsgärten von Skulpturenkitsch befreit, wächst Charles’ Interesse an Heftchen mit nackten Jungs und Sybille geht jetzt öfter ins Fitness, aber eigentlich mit einem «Kulturfuzzi» fremd. Das Leben ist eine Baustelle, denkt man sich, und wird Zeuge, wie das Haus immer unbewohnbarer wird und das Familienchaos bei Spatz & Co. stetig zunimmt – bis schliesslich alles in Flammen steht.

Das wahre Leben ist Alain Gsponers Kinofilm-Debüt. Gut, hat der 31 Jahre junge Schweizer Regisseur mit seinen zuvor realisierten Diplom- bzw. Fernsehfilmen Kiki & Tiger (2002) und Rose (2005) die branchenüblichen Lorbeeren schon eingeheimst, sodass der Generalverdacht vom geglückten Erstlingsfilm diesmal gar nicht erst bemüht werden kann. Denn Gsponers Komödie ist schlicht toll und der Regisseur ein cineastisches Erzähltalent mit einem feinen Gespür für das soziale Biotop Familie sowie für zwischenmenschliche Beziehungen der besonderen Art. Dies hat Gsponer schon bei seinen beiden anderen Werken gezeigt, die er ebenfalls mit Alex Buresch (Drehbuch) und Matthias Fleischer (Kamera) realisierte.

Das wahre Leben besticht durch schlagfertige, amüsante Dialoge, die mit einer entsprechenden Verve von Kamera und Musik unterstützt werden und neben Sitcom-Elementen auch beiläufige Komik beinhalten. Behutsam darin eingesponnen sind die tragischen, abgründigen Aspekte, besonders die Vorgänge rund um die Teenagerfiguren und ihre diffizile Art der Kontaktaufnahme inmitten der Wirrnis unter den Erwachsenen, die an Filme wie The Ice Storm (Ang Lee, USA 1997) oder American Beauty (Sam Mendes, USA 1999) erinnern. Andererseits liegt das Schwergewicht klar beim Schauspiel, das mit diesem hochkarätigen Ensemble von jungen und älteren Talenten zur wahren Sternstunde gerät: Hannah Herzsprung und Josef Mattes (Sohn von Eva Mattes) bieten eine feinfühlige, sehr authentische Zeichnung zweier Heranwachsender, deren aufkeimende Liebe zwischen kindlich-naivem Leichtsinn und adulter Ernsthaftigkeit oszilliert. Als eingespieltes (Ehe-)Team präsentieren sich dagegen Noethen und Katja Riemann, die sich (wie schon in den Bibi Blocksberg-Filmen) mit ihrem gewitzten, expressiven Stil einen wahren Meister-Battle liefern.

Sonja Eisl
*1976, Studium der Theaterwissen­schaft, Film­­wissenschaft und der Neusten Geschich- te in Bern und Zürich. Sie arbeitet im Theater Tuch­laube (Aarau) im Bereich Öffentlichkeitsarbeit und Dramaturgie und lebt in Bern.
(Stand: 2010)
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