DORIS SENN

HEIMAT LEBENSLÄNGLICH (JENS-PETER RÖVEKAMP)

SELECTION CINEMA

Er ist ein Querdenker. Oder, wie der Gemeindeschreiber sagt: «Ein Esel ist ein flexibles Wesen im Vergleich zum Emil.» Aber der Reihe nach.

Da wohnt einer ein Leben lang im selben Haus: Emil Frey ist Mitte achtzig, wurde mit zwei Brüdern in ein Bauerngehöft geboren, das idyllisch auf einer Hügelrampe ob der Zürichseegemeinde Stäfa liegt. Als Einziger tritt er die Nachfolge seines Vaters an und will in seinem Haus auch dann wohnen bleiben, als die Eltern sterben und die beiden Brüder das Land veräussern möchten. Es folgen jahrzehntelange Rechtsstreitereien. Oft versäumt Emil sein Tagwerk, nur um wieder irgendeine Eingabe zu verfassen – der Hof rentiert kaum. Schliesslich wird das Land verkauft, eine ebenso schmucke wie stiere Familienwohnsiedlung entsteht, und Emil Freys Haus wird erst zur Insel im Baggermeer, dann zum Fels in der Brandung und schliesslich zum Stein des Anstosses. Heute steht das baufällige Haus eng umzäunt und mit Warntafeln versehen («Achtung Einsturzgefahr!»). Emil Frey ist zwar immer noch da, aber zum Gefangenen auf seinem ehemals eigenen, weitläufigen Landstück geworden.

In dem Haus, das für Emil Frey so sinnbildlich und nachdrücklich «Heimat» repräsentiert, ist er aufgewachsen und hat er sein Leben verbracht: umgeben von Fotografien und Papierstapeln, voll gestopft mit allerlei Utensilien, Kleidern, die an der Schnur quer durchs Zimmer hängen, und einer Küche, in der «Hindernisbahnen» dafür sorgen, dass sich die Mäuse nicht allzu frech von seinen Vorräten bedienen. In diesem Haus will Frey – verständlicherweise – bleiben. Aber es ist offensichtlich: Die Nachbarn haben Mühe mit dem skurrilen Sonderling mit seinem weissen Bart, der bis über die Augen gezogenen Mütze und seinem langsamen, gebeugten Gang. Eine Nachbarin meint: «Wo kämen wir hin, wenn das jeder machen würde ...?» Und merkt nicht, dass nicht der Emil, sondern die neuen Bewohner eigentlich die «Eindringlinge» sind. Noch einmal bringt es der Gemeindeschreiber auf den Punkt, wenn er meint, dass im Laufe der Computerisierung die Leute selbst «digital» geworden seien, nur noch zwischen eins und null unterschieden und deshalb weder für Zwischentöne noch für Abweichler Verständnis hätten. Und für einmal sind es denn auch überraschenderweise die Gesetzesvertreter, die gesunden Menschenverstand walten lassen und Respekt vor dem Individuum beweisen: Obwohl das Haus längst den Bauherren der Neubausiedlung gehört, durfte Emil bisher im Haus wohnen bleiben.

Der Dokumentarfilmemacher Jens-Peter Rövekamp hat mit Heimat lebenslänglich ein äusserst liebevolles Porträt dieses ältesten Hausbesetzers der Schweiz geschaffen und damit auch einen kleinen Überraschungserfolg im Kino gelandet. Heimat lebenslänglich zeigt nicht nur pointiert das Aufeinanderprallen zweier Welten, sondern auch den (fast) unaufhaltbaren Gang der Zeit, die Umwälzungen, die sich innerhalb von wenigen Generationen in Mentalität und Lebensverständnis niederschlagen. Und es ist – jenseits jeder sentimentalen Idylle – ein berührender Anstoss, die Werte dieser Gesellschaft und dieser Zeit zu hinterfragen.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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