VERONIKA GROB

HANS IM GLÜCK – DREI VERSUCHE, DAS RAUCHEN LOSZUWERDEN (PETER LIECHTI)

SELECTION CINEMA

Peter Liechti ist überzeugt, dass es zwei mögliche Interpretationen des Grimm’schen Märchens Hans im Glück gibt: In der einen ist der geschäftsuntüchtige Wanderer einfach ein naiver Trottel, in der anderen erreicht er eine Art Glückszustand, in dem es ihm gelingt, allen Ballast abzuwerfen. Peter Liechti wollte das Laster des Rauchens loswerden. Und so zog der Filmemacher dreimal von Zürich gegen St. Gallen, um auf der Wanderschaft die Sucht nach dem Glimmstängel zu bekämpfen: zu Fuss und allein, nikotinfrei, mit DV-Kamera und Tagebuch im Reisegepäck. Die Wege variieren, nicht jedoch das Ziel: Liechti wandert jedes Mal in Richtung seiner Heimatstadt St. Gallen; dorthin, wo alles angefangen hat.

Von seinen drei Reisen kehrte er mit 150 Stunden Videomaterial und 90 Seiten Tagebuch zurück. In monatelanger Montagearbeit im Schnittraum mit der Cutterin Tania Stöcklin entstand daraus das bebilderte Tagebuch Hans im Glück – Drei Versuche das Rauchen loszuwerden. Aus Liechtis einsamen Pilgerfahrten ist aber kein Anti-Raucher-Film geworden, sondern vielmehr ein filmischer Essay über die Gratwanderung zwischen Fremdsein und Dazugehören und eine liebenswürdige Auseinandersetzung mit dem eigenen gebrochenen Verhältnis zur Heimatregion Ostschweiz. Mit vom Entzug geschärften Blick fängt Liechti erstaunliche Details und Kuriositäten des Alltags ein. Er begegnet dem Kobold von Steinegg mit dessen Sau Mäxli, dem Hobbyfilmer Alois Haas, einem anonymen Laiensänger auf dem Fahrrad, beobachtet Folklorefeste und Höhenfeuer, macht Besuche bei seinen Eltern, im Altersheim und auf der Krebsstation eines Spitals. Das Wandern, das Liechti auch «Vor-sich-hin-Schweizern» nennt, wird zur Begegnung mit der Heimat und damit auch zur Auseinandersetzung mit sich selbst. Den Stimmungsschwankungen, die der Rauch-Entzug auslöst, kann er sich trotzdem nicht entziehen. Mit feiner Ironie beschreibt Liechti im Tagebuch zum Beispiel seine Wut gegen alle, die behaupten, es sei toll, einen Berg zu besteigen, nur um am nächsten Wandertag die Landschaft um ihn herum als umso lieblicher zu schildern. Nicht zuletzt ist aber Hans im Glück auch eine Reflexion über das Filmemachen selbst, was etwa klar wird, wenn Liechti vor einer Eisenbahnbrücke fluchend in der Kälte ausharrt, um auf den nächsten Zug zu warten. Das unspektakuläre Bild aber, dass er schliesslich schiesst, entspricht überhaupt nicht seinen Erwartungen.

Der Schauspieler Hanspeter Müller spricht die geistreichen, manchmal witzigen, manchmal traurigen, aber immer sehr präzisen persönlichen Auszüge aus dem Reisetagebuch, die den Bildern unterlegt sind und die Peter Liechti auch als «Hyperventilieren der Gedanken» bezeichnet. Der Regisseur, bekannt vor allem durch das Porträt des St. Galler Aktionskünstlers Roman Signer (Signers Koffer, 1995) und den Spielfilm Marthas Garten (1997), ist mit dem sehr persönlichen, assoziativen Filmessay ein kühnes Wagnis eingegangen. Man könnte an dem Film denn auch einiges kritisieren, etwa dass die letzte Reise zerfleddert oder dass die eingeflochtenen Bilder aus Namibia wenig Sinn machen, wenn man nicht weiss, dass Liechti zeitgleich am Film Namibia Crossing arbeitete. Doch schliesslich sind es Liechtis ganz persönliche Assoziationen, denen wir zuschauen. Und zwar mit grossem Vergnügen.

Veronika Grob
geh. 1971, hat Literaturwissenschaften studiert und arbeitet als Filmredaktorin bei SF DRS. Mitglied der CINEMA-Redaktion seit 2002.
(Stand: 2018)
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