PATRICK STRAUMANN

20 BALLES DE L'HEURE (FRÉDÉRIC LANDENBERG)

SELECTION CINEMA

20 balles de l’heure - «zwanzig Franken Stun­denlohn» - ist sowohl ein Film als auch eine Reaktion der «Agitationsbewegung Doegmeli» auf die Förderbedingungen des Bundesamtes für Kultur. Um von dieser Institution als mögliche Kandidaten für die im Rahmen des «Collège Cinéma» vergebenen Subventionen zu gelten, müssen die Filmemacherinnen und Filmemacher mindestens zwei bereits reali­sierte Spiel- oder Dokumentarfilme vorweisen können. Die «Résolution 261» der Doegmeli-Bewegung fordert die jungen Regisseure des­halb dazu auf, ihre Filme zu «vermehren», um das finanziell weit weniger attraktive «Nach­wuchsbudget» des Bundesgremiums auf diese Weise zu umgehen.

Billig und schnell drehen: Die Devise dieser ironisch gefärbten Schweizer Variante von Dogma ist eine Aufforderung, der seit der Kommerzialisierung der DV-Kameras und der Final-Cut-Software auch nachzukommen ist. Die Sturm-und-Drang-Pose allein kann aller­dings noch keine ästhetischen Entscheidungen ersetzen. Indem Landenberg in 20 balles de l’heure aus diesem (theoretischen) Imperativ jedoch eine (thematische) Tugend macht und mit einem eigentlichen No-Budget-Programm ein Sujet behandelt, das formal die Balance zwi­schen Drehmitteln und Anspruch halten kann, zieht er sich ganz gut aus der Affäre.

Anne-Loyse ist eine Babysitterin, die den Tod des ihr anvertrauten Kindes verursacht und darauf innerhalb kürzester Zeit ein anderes Neugeborenes finden muss, um ihr Versagen zu vertuschen. Nach einer Odyssee durch Genf, während der sie den Aggressionen eines Obdachlosen ausgesetzt ist und mit der ost­europäischen Mafia konfrontiert wird, gelingt es der jungen Frau, ihren Auftraggebern mit Hilfe ihres Freundes ein fremdes Kind in die Wiege zu legen.

Der aggressive Plot basiert auf einer klaren filmischen Struktur (eine einzige, zirkuläre Plansequenz) und einer distanzierenden Dra­maturgie (die Rolle des Kindes ist von einer Puppe «besetzt») die jenseits der erzählten Ge­schichte auch zu einer Reflexion über Grenzen der Imitation einladen. Da diese filmtheoreti­sche Fragestellung - das Verhältnis zwischen der Wirklichkeit und ihrer Darstellung - im Rahmen eines Countdowns formuliert wird, der die unterschiedlichsten Emotionen (Entset­zen, Erleichterung) entstehen lässt, kann Vingt balles de l’heure zudem als Versuch gelesen werden, die Triebfedern des Mainstream-Film­schaffens blosszulegen.

Sicher: Das Spiel der Akteure lässt zu wün­schen übrig, und auch die Kamera scheint dem Rhythmus der Geschehnisse nicht immer ge­wachsen zu sein. In seinen reflexiven An­sprüchen lässt 20 balles de l’heure jedoch auch eine Wahlverwandschaft mit David Lynch und Nobuhiro Suwa erkennen, die diese Frage mit Mulholland Drive und H-Story wohl mit mehr Ernst erörtern, deren Arbeit jedoch eine ver­gleichbare Stossrichtung verfolgt.

Patrick Straumann
geb. 1964, studierte Filmwissenschaft, arbeitet als freier Filmjournalist, lebt in Paris.
(Stand: 2018)
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