LAURA DANIEL

GERANIENFRIEDE (MARCEL HOBI)

SELECTION CINEMA

Das Knirschen einer expressiven Tonspur führt uns in die animierte Welt von Geranienfriede ein und wird uns bis ans Ende dieses Films be­gleiten. Die gezeichneten Figuren gehen nicht gerade zimperlich miteinander um. Gleich zu Beginn knallt ein Geschäftsmann die Akten­tasche auf einen Kinderwagen. Nur über die Tonspur wird den Zuschauerinnen vermittelt, dass das Baby dabei Schaden genommen hat; es klingt, als wäre es zerquetscht worden. Die Mutter des Babys und der Mann beginnen un­beirrt einen Smalltalk. Männer mit Selbstmord­absichten wünschen ihren Ehefrauen alles Gute zum Geburtstag, bevor sie unbeachtet in den Abgrund springen; Sitzbänke, die sich selbst­ständig machen; Geranien, die in den Himmel spriessen; Hunde, die Apéro trinkende Männer voll pinkeln und Gehbehinderte an Krücken zu Fall bringen, und schliesslich erschlaffte Kirch­türme, die beim Anblick einer sich entblössen- den Frau abgehen wie Raketen.

Bedeutungsleere Gesprächsfetzen begleiten dieses alltägliche Chaos -Floskeln, die man mit Menschen austauscht, von denen man nichts weiss und eigentlich auch nichts wissen möchte. Die höflichen Gespräche zwischen den Figuren stehen in krassem Gegensatz zu den Situationen, in denen sie vonstatten gehen, und damit im Gegensatz zu den Informatio­nen, die uns die Bilder vermitteln. Über all den Brutalitäten liegt die Schwüle eines Vorstadt­sommers.

Dramaturgisch lebt der Film vom Inein­anderfliessen verschiedener Situationen, das leichthändig umgesetzt wird. So kann es sein, dass sich die Sitzbank, auf der sich ein Paar seuf­zend über die Romantik einer Vorstadtsicdlung auslässt, plötzlich verselbstständigt, ins nächste Bild läuft und so zur folgenden Szene überlei­tet. Oftmals werden einzelne Elemente aus der Handlung heraus verkleinert oder vergrössert, so dass sie eine völlig neue Funktion erhalten - als handle es sich um ein Hinein- oder Hinaus- zoomen aus den verschiedenen Episoden.

Der satirische Ton und die Darstellung der Figuren, die sowohl physisch als auch psy­chisch kollektiv an der Brutalität und Leere ihres Alltags zu leiden scheinen, sowie die mi­nimale und doch expressive Tonspur erinnern an Pritt Pärn, den Hobi im Abspann auch be­sonders verdankt. Dieser grosse Animateur, der sich in der goldenen Ära der Animation in Estland zwischen 1985 und 1991 besonders durch seine komplexen narrativen Strukturen, seine Sozialkritik, durch die ungewöhnliche stilistische Melange und seinen einzigartigen Humor auszeichnete, hat die Generationen nach ihm - darunter Mikk Rand und seinen The Crow and Mice (Estland 1998) - mass­geblich beeinflusst. Geramenfriede steht auch insofern in der Tradition von Pärns Werken (man vergleiche Breakfast on the Grass, 1988), als er grafisch komplexe Verknüpfungsmuster sucht und der animierten Welt damit eine for­male Vielschichtigkeit verleiht. Doch abgese­hen davon, hat Hobi mit Geranien frie de eine durchaus eigene Vision und einen eigenen Stil geschaffen, der überzeugt.

Laura Daniel
geb. 1978, studiert an der Universität Zürich Germanistik, Film­wissenschaft und Philosophie sowie klassischen Gesang, zeitgenössische Musik und Jazz. Mitglied der CINEM A-Redaktion seit 2002. Lebt in Zürich. Daniel Däuber, geb. 1966, hat in Zürich Filmwissenschaft studiert, u.a. für die Schweizer Filmzeitschriften Zoom und Film geschrieben, arbeitet zurzeit als Filmredaktor beim Schweizer Fernsehen.
(Stand: 2018)
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