DANIEL DÄUBER

OLTRE IL CONFINE (ROLANDO COLLA)

SELECTION CINEMA

Die Turiner Architektin Agnese soll in einem Heim für Kriegsveteranen ihren schwer kran­ken Vater besuchen. Weil sie sich verspätet, trifft sie am Bett ihres Vaters auf den Bosnier Reuf. Er ist als illegaler Flüchtling vom Dienst habenden Arzt aufgenommen und versteckt worden und übernimmt für diesen ausnahms­weise die Nachtwache. Als der Direktor des Heims auf den Bosnier aufmerksam wird, zeigt er ihn bei der Polizei an. Nun beginnt Agnese sich für Reufs Schicksal zu interessieren. Sie erfährt, dass er mit seiner älteren Tochter nach Italien flüchtete. Seine jüngere Tochter blieb in einem Spital im Kriegsgebiet zurück, seine Frau ist seit einem Überfall verschwunden - wahr­scheinlich wurde sie verschleppt, vergewaltigt und getötet. Nun will Reuf seine zweite Toch­ter aus dem Gefahrengebiet holen. Der Arzt, der ein Auge auf Reufs ältere Tochter geworfen hat, bietet seine Hilfe an. Auch Agnese enga­giert sich mehr und mehr für die bosnische Familie, erkennt sie doch Parallelen zu ihrer eigenen Kindheit in den Nachkriegsjahren. Schliesslich reist sie selbst ins Krisengebiet, um nach Reufs Tochter zu suchen.

Der Film des Schaffhausers Rolando Colla, dessen Erstling Le monde à Tenvers 1999 in Lo­carno ausgezeichnet wurde, nimmt sich einiges vor: Er will Spurensicherung des Bosnien- und des Zweiten Weltkrieges betreiben. Nach dem Aufbau der zerstörten Häuser und dem Weg­sterben der Augenzeugen soll nicht einfach aus unserem Gedächtnis verschwinden, was grauenhafte Realität war - und was sich nach Nietzsches Prophezeiung wiederholen wird.

Um die historischen Ereignisse an indivi­duellen Schicksalen aufzuzeigen und möglichst lebendig zu gestalten, wurde an Realschauplät­zen mit Handkamera und bosnischen Schau­spielerinnen gedreht, die den Krieg selbst er­lebt haben. Die damit erzeugte Authentizität ist dem Film nicht abzusprechen. Leider gelingt es ihm aber nicht, die verschiedenen Erzähl­stränge organisch miteinander zu verknüpfen. Die Thematik des Bosnienkrieges und der europäischen Flüchtlingspolitik, das Einzel­schicksal der jungen bosnischen Familie, die zwei Liebesgeschichten - zwischen Reuf und Agnese sowie zwischen dem Arzt und Reufs Tochter - und die Aufarbeitung der Vergangen­heit von Agneses Vater wollen sich nicht zu einem Ganzen fügen. Das Hin- und Hersprin­gen zwischen den einzelnen Handlungen und das Fehlen von Musik als möglichem Verbin­dungsglied lassen dies zusätzlich offenbar wer­den. Dadurch entwickelt der Film auch Län­gen, die bei einer mutigeren Gewichtung der Themen weniger spürbar geworden wären. Oder Colla hätte schlicht auf seine Erzähl­fähigkeit vertrauen und nicht so viel rein­packensollen.

Daniel Däuber
*1966, hat in Zürich Filmwissenschaft studiert, unter anderem für die Schweizer Filmzeitschreiften Zoom und Film geschrieben und arbeitet zurzeit als Filmredaktor beim Schweizer Fernsehen.
(Stand: 2011)
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