MATTHIAS CHRISTEN

BOXENDE KÄNGURUS, FLIEGENDE MENSCHEN — SPORT UND ARTISTIK IM ZIRKUSFILM

ESSAY

In der Art und Weise, wie Zirkusfilme mit artistischen Schauwerten umgehen, zeigt sich besonders deutlich, was das Kino in seiner doppelten Natur als Schau- und Erzählmedium seit seinen Anfängen als Problem begleitet: das Verhältnis zwischen optischen Attraktionen und der Bedeutung, die sie in wechselnden narrativen Zusammenhängen annehmen. Eine der Traditionslinien, die zum Zirkusfilm führen, beginnt im Sport des 19. Jahrhunderts. Welche Transforma­tionen die von dort übernommenen Elemente im Übergang zur Zirkuskunst, zum frühen Film und schliesslich zum Erzählkino durchlaufen, ist Thema der nachfolgenden Kapitel. In Umrissen zeichnet sich dabei die Geschichte einer narratologischen Mischform ab, die das Erzählen mit der Entfaltung von Schau­werten verknüpft, die für den Fortgang der Geschichte selbst nicht zwingend nötig sind, dem Kinopublikum aber einen sinnlichen Mehrwert verschaffen. Für diese gemischte Erzählweise ist der Zirkusfilm nur ein - freilich promi­nentes - Beispiel.

Die Anfänge: Sport im Zirkus

Als die Brüder Max und Emil Skladanowsky am 1. November 1895 im Berliner Variété «Wintergarten» erstmals ihr Bioskop vorführten, war das boxende Kän­guru, die Zugnummer ihres Programms, bereits eine stadtbekannte Zirkus- und Varieteattraktion. Parallel zur Filmpremiere im «Wintergarten» trat der ameri­kanische Dompteur Mr. Delaware nur wenige hundert Meter entfernt im frisch eingeweihten Neubau des Circus Busch mit dem Tier live auf und feierte vor 4500 Zuschauern, dreimal mehr als im «Wintergarten» Platz fanden, grosse Er­folge. Der Auftritt wurde im Artisten, dem Central-Organ der Circus, Variété-Bühnen und reisenden Theater, ausführlich besprochen, während das Bran­chenblatt auf die zeitgleiche Vorführung von Skladanowskys Erfindung kaum halb so viele Zeilen verwandte.1 Wie viele artistische Genres, die Kraft-, Reck- oder Trapezakrobatik, hat auch Delawares Boxnummer ihren Ursprung im Sport, woran einschlägige Requisiten wie die Handschuhe erinnern, die das Känguru und sein Besitzer tragen. Gegenüber einem regulären Boxkampf nimmt Delaware jedoch eine Reihe von Änderungen vor, entsprechend den Anforderungen, die eine Zirkusshow als formaler Rahmen an die Darbietung stellt. So tritt er nicht wie zu erwarten gegen einen gewöhnlichen Boxer, son­dern gegen ein Tier an, das zwar nicht über die notwendigen sportlichen Qua­lifikationen, dafür aber gemäss Augenzeugen über «colossale Muskeln» und ein ausgesprochen «kriegerisches Temperament» verfügt.2

Angesichts des offenkundigen Missverhältnisses zwischen den beiden Geg­nern verliert die Vorstellung von einem fairen Kräftemessen ihren Sinn und liefert nur mehr den Ausgangspunkt für eine parodistische Umformung des sportlichen Normalfalls. Wer den Wettkampf gewinnt - die für den Sport ent­scheidende Frage-, tritt in den Hintergrund. Statt um Sieg oder Niederlage geht es dem als Boxer aufgemachten Artisten vor allem darum, dass die Auseinan­dersetzung möglichst spektakulär wirkt und das Publikum auf seine Kosten kommt - ein Gesichtspunkt, der im weitgehend von Amateuren zum eigenen Vergnügen betriebenen Sport des 19. Jahrhunderts noch eine untergeordnete Rolle spielt: anders als heute, da einzelne Disziplinen in Folge ihrer massen­medial gestützten Vermarktung ihrerseits zirzensische Züge annehmen (im Ski-, Tennis- oder Formel-1-«Zirkus») und der Gegensatz zwischen «ernsthaf­tem» Wettkampf und «blosser» Show zunehmend an Bedeutung verliert.3 Die angestrebte Maximierung des Schauwerts macht sich im Falle Delawares be­reits in der Wahl des Gegners bemerkbar. Den Berliner Zuschauerinnen und Zuschauern ist das Känguru allenfalls aus Zoos, biologischen Handbüchern oder Reiseberichten vertraut; allein der Anblick des Tieres ist also ungewohnt und aufregend, ganz abgesehen von der Rolle, in der es auftritt.

Um das Potenzial möglichst effizient zu nutzen, das der Zweikampf zwi­schen Mensch und Tier an Schauwerten in sich birgt, wird er - wie jede Zir­kusnummer - mit einem dramaturgischen Bogen versehen. Nach einem weit­gehend standardisierten Muster folgt auf eine Exposition, die das Publikum mit dem Charakter der Nummer und den beteiligten Akteuren vertraut macht, eine Phase der schrittweisen Steigerung, in der entweder der Schwierigkeitsgrad der gezeigten Darbietung kontinuierlich zunimmt oder aber die zu Beginn etab­lierte Situation eskaliert. So mischt sich in Delawares Nummer nach einem aus­geglichenen Kräftemessen ein Clown in das Geschehen ein, den das Känguru «nach allen Regeln der Kunst «verarbeitet», bis es von drei Stallmeistern an den Oberarmen ergriffen und fortgeführt wird».4 Das Auftreten des Clowns - im Figurenrepertoire des Zirkus der klassische Widerpart zum Artisten und seinen überlegenen Fähigkeiten - erfüllt in diesem Fall zwei Funktionen: Indern er sich vom Känguru verprügeln lässt und so die biologische Hierarchie auf den Kopf stellt, die der Dompteur zu wahren versucht, verstärkt er das komische Element, das die Nummer als Boxparodie von Anfang an hat. Zugleich ver­anschaulicht er die Gefahr, die von dem Tier und seiner rohen Kraft ausgeht; dass gleich drei Stallmeister nötig sind, um den Clown zu retten, macht deut­lich, wie gross die Bedrohung war, in die der Dompteur-Boxer sich begeben hat, und hebt die Achtung vor seinem Mut.

Dass Nummern wie das boxende Känguru derart auf Schauwerte setzen, hängt wesentlich mit den wirtschaftlichen Eigenheiten der Institution Zirkus zusammen. Der Zirkus ist gerade am Ende des 19. Jahrhunderts, als er zu den populärsten Formen der Massenunterhaltung zählt, ein perfekt organisiertes und hochgradig technisiertes Geschäft, dessen Betrieb vor allem in den reprä­sentativen ortsfesten Unternehmen der europäischen Metropolen horrende Summen verschlingt. Nach Berichten in der Fachpresse soll es eine erstklassige Känguru-Nummer, wie Delaware sie bot, auf Monatsgagen von bis zu 10000 Mark gebracht haben.5 Für die glanzvollen Schlussnummern waren Zirkus­direktoren wie der Berliner Paul Busch an der Wende zum letzten Jahrhundert bereit, ein Mehrfaches davon auszugeben. Die «Pantomimen», «Ausstattungs-», «Spektakel-» oder «Manegenschaustücke», die heute aus dem Programm weit­gehend verschwunden sind, versammelten im Rahmen einer mehr oder weni­ger straft organisierten Erzählhandlung (meist ohne Dialog) alles, was das jeweilige Unternehmen an Schauwerten zu bieten hatte. Für das Ausstattungs­stück Zscbeus, das Waldmädchen, in dem angeblich über vierhundert Personen mitwirkten, soll Paul Busch, empfänglich für jede Art technischer Neuerung, gleich 1895 versucht haben, die Brüder Skladanowsky und ihr Bioskop zu ge­winnen. Das Engagement scheiterte, weil offenbar weder sie noch die ebenfalls angefragten Lumières in der Lage waren, ««Lebende Photographien» auf die nötige Bildtläche von 5x5 Metern zu projizieren»6; der frühe Film war mit anderen Worten dem Stand und den Dimensionen der zirzensischen Schau­kunst technisch noch nicht gewachsen.

Gekoppelt mit akustischen und olfaktorischen Reizen - der Musik, den Kommandos der Artisten, dem Geruch des Sägemehls und der Tiere -, haben Schauwerte, zumal in der Häufung, wie sie in den Ausstattungsstücken auf­traten, den Vorzug, dass sie das Publikum auf der elementaren Ebene sinnlicher Erfahrungen und affektiver Reaktionen ansprechen. Angst, Mitleid, Freude oder Erleichterung nach einer von den Artisten glücklich überstandenen Situa­tion stellen sich ein, ohne dass die Zuschauenden über ein besonderes Vorwis­sen verfugen müssten. Selbst Sprachkenntnisse sind selten erforderlich, da das Manegenprogramm abgesehen von kurzen Ansagen in der Regel ohne Worte auskommt. Schauwerte sorgen auf Grund ihrer leichten Zugänglichkeit für jene demokratisch breite Publikumsstruktur, die der Zirkus für sein wirtschaftliches Überleben braucht.

Von der Manege auf die Leinwand

Dass die Gebrüder Skladanowsky den Boxkampf zwischen Mensch und Tier in ihr Bioskop-Programm aufnehmen, ist bezeichnend für die enge Bindung des neuen Mediums an die zeitgenössischen Schaukünste.7 Der Wechsel des media­len Bezugsrahmens vom Zirkus zum Film bedeutet gegenüber der Umgestal­tung des sportlichen Regelfalls, die Delaware für die Manege vorgenommen hat, eine erneute Verschiebung. Sie betrifft den Inhalt und die Dramaturgie der Nummer ebenso wie die Art der Präsentation. Offenbar interessierte die Skladanowskys bei der filmischen Reproduktion des Zweikampfs vor allem dessen kinetische Energie. Dafür spricht nicht nur die Auswahl der übrigen Sujets, sondern auch die Art, wie sie vor der Kamera inszeniert werden. Abgesehen von der als «Apotheose» angekündigten Schlussnummer, in der Max und Emil Skladanowsky selbst auftreten, zeigen die restlichen sieben bzw. acht Pro­grammteile allesamt artistische Darbietungen, die sich durch eine hohe Bewegungsintensität auszeichnen: Tänze, ein Ringkampf, der Aufbau einer menschlichen Pyramide, eine Jongleur- sowie eine komische Recknummer.8 Max Skladanowsky, der Kameramann, platziert die Artistinnen und Artisten in einer Halbtotalen vor einem fast formatfüllenden weissen Vorhang - sofern sie dunkle Kostüme tragen. In den wenigen Fällen, in denen sie in hellen Trikots auftreten («Artistisches Potpourri», «Serpentintanz» und «Ringkampf»), sorgt ein schwarzer Hintergrund für die nötige Kontrastwirkung. Über die Diffe­renzierung von Figur und Grund werden die Körper der Artisten optisch so freigestellt, dass ihre Bewegungen bestmöglich zur Geltung kommen und sich sogar im Schattenspiel verdoppeln, das ein steil einfallendes Sonnenlicht auf die dahinter liegende weisse Leinwand wirft.

Die weitgehende Standardisierung der Aufnahmesituation durch die schlichten, monochromen Flintergründe passt zum ästhetischen und techni­schen Minimalismus der Filme. Der Abstand vom Apparat zum Motiv ist in allen Fällen etwa gleich gross. Die Kameraposition bleibt über die ganze Dauer der Aufnahme hinweg starr, selbst wenn das in seinen Bewegungen schwer zu kontrollierende Känguru seinen Gegner beinahe über den rechten Rand des Kaders hinausdrängt und so den mittenzentrierten Bildaufbau empfindlich stört; es bleibt Delaware als Akteur vor der Kamera überlassen, das Tier mit aller Gewalt zurück in die Bildmitte zu befördern. Die einzelnen Filme sind - mit bedingt durch die technischen Eigenheiten der von Skladanowsky verwen­deten Apparatur und Materialien - auffällig kurz; sie dauern je nach Vorführ­geschwindigkeit kaum länger als zehn bis fünfzehn Sekunden. Gerade im Fall von Delawares Boxkampf geht die Kürze zu Lasten des dramaturgischen Bogens, den die Nummer in ihrer ursprünglichen Form hatte. Die Aufnahme setzt zu einem Zeitpunkt ein, da der Kampf bereits im Gang ist, und endet nach einem kurzen Schlagabtausch in einer Situation, deren Ausgang völlig offen ist:

Delaware und das Känguru drücken einander im Infight nieder, ohne dass sich klare Vorteile für die eine oder andere Seite abzeichnen. Auch ästhetisch ist die Situation scheinbar nicht gelöst: Der Bildfluss bricht in einem Augenblick ab, da das Känguru der Kamera den Rücken zudreht und Delaware fast vollstän­dig verdeckt. Zudem fehlt der Auftritt des Clowns und seiner Retter, die der Manegen-Version nicht nur eine komische Wendung geben, sondern auch den ohnedies nicht auf eine sportliche Entscheidung hin angelegten Kampf elegant beschliessen. Für den dramaturgischen Aufbau der Nummer ist das Eingreifen von Clown und Stallmeister umso wichtiger, als Kängurus sich im Vergleich zu anderen Zirkustieren kaum dressieren lassen, Auftritt und Abgang also die ästhetisch am schwersten zu bewältigenden Teile der Darbietung sind. Bei Skla- danowsky sind dagegen Anfang und Ende der Nummer stärker durch das Auf­nahmeformat und seine technischen Grenzen bedingt als durch die dem Sujet eigenen dramaturgischen Bauprinzipien.

Was zunächst wie ein Manko einer erst rudimentär entwickelten kinematografischen Reproduktionstechnik aussieht, ist in Wirklichkeit ein Indiz für den Funktionswandel, den die artistischen Schauwerte im Übergang vom Zirkus bzw. vom Variété zum Film im «Wintergarten»-Programm als Ganzem durch­laufen. Im Rahmen der Vorführung, die auf der kleinen Seitenbühne des mon­dänen Etablissements stattfand, ging es nicht darum, die einzelnen Darbietun­gen in voller Länge wiederzugeben, zumal ein Grossteil des Publikums sie ohnehin schon einmal im Original gesehen haben dürfte - sämtliche Artistinnen und Artisten waren in jenem Jahr nämlich an Berliner Variétébühnen oder Zirkusunternehmen engagiert.9 Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass Max und Emil Skladanowsky bis auf ganz, wenige Ausnahmen die obligaten Publikumsadressierungen der Artisten (Präsentation zu Beginn des Auftritts, Knickse, Verbeugungen an dessen Ende) ausblenden und die so genannten Komplimente in einer eigens angefügten Schlussnummer, der besagten «Apo­theose», sich selbst als den eigentlichen Urhebern des eben Gezeigten Vorbehal­ten. Wichtiger als der Boxkampf ist der Umstand, dass es den beiden Erfindern gelungen ist, die Bewegungen der zwei Kämpfer aufzuzeichnen und lebens­gross zu reproduzieren. Die eigentliche Attraktion ist die kinematografische Apparatur und nicht wie in der Manege das Aufeinandertreffen von Mensch und Tier. Der Auftritt der Brüder Skladanowsky wurde denn auch unter dem Namen des Apparats - «Bioskop» - und nicht mit dem Titel der gezeigten Filme von den Betreibern des «Wintergartens» in der Presse angekündigt.

Artistik im Erzählkino

Filme, die bekannte Artistinnen und Artisten bei ihrer Arbeit zeigen, wurden bis in die Zwanzigerjahre produziert.10 Anfang der Zehnerjahre – möglicherweise schon etwas früher- taucht ein neuer Typus von Artistenfilmen auf. Filme wie Urban Gads Afgrunden (DK 1910) beschränken sich nicht länger darauf, einzelne Nummern zu reproduzieren, sondern machen den Zirkus zum Schau­platz einer Erzählhandlung. Wurden die artistischen Attraktionen von Max und Emil Skladanowsky noch in einer losen episodischen Folge präsentiert, entsprechend der im Zirkus und Variété gebräuchlichen Nummerndramatur­gie, werden sie nun fest in einen narrativen Zusammenhang eingebunden. Die Darbietungen wenden sich nicht mehr direkt an das vor der Leinwand versam­melte Publikum wie noch in der «Apotheose» der Brüder Skladanowsky. Sie sind Teil einer in sich abgeschlossenen fiktionalen Welt. Als solche richten sie sich zunächst an Zuschauerinnen und Zuschauer innerhalb der diegetischen Welt und erst mittelbar an das Publikum im Kino. Mit dem Wechsel von Dra­maturgie und Publikumsbezug im Erzählkino ändert sich einmal mehr die Funktion der artistischen Schauwerte und der sportlichen Elemente, die in sie eingehen.11 Besonders deutlich macht sich diese Entwicklung in einem der populärsten Subgenres des Zirkusfilms bemerkbar, in den zahllosen Dramen, die sich um das Schicksal von Trapezartisten und ihren Partnerinnen drehen, angefangen bei Robert Dinesens Fire Djaevle (DK 1911) nach einer Roman­vorlage des dänischen Schriftstellers Hermann Bang, die 1920 und 1929 von A. W. Sandberg bzw. F. W. Murnau weitere Male verfilmt wird, über Justitz’ Dämon Zirkus (D 1922/23), E. A. Duponts Salto Mortale (D 1931) bis zu den Produktionen der Fünfzigerjahre Ring of Fear (James Edward Grant, William A. Wellman, USA 1954), König der Manege (Ernst Marischka, A 1954) oder The Flying Fontaines (George Sherman, USA 1959).

Die Trapezartistik gehört seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zum Zirkus­programm und stammt wie Delawares Boxparodie aus dem Bereich des Sports. Jules Léotard, ihr Begründer, geboren 1838, war Sohn eines Turnlehrers.12 Mit einer technischen Neuerung ebnete ihm sein Vater den Weg in den Zirkus: Er ersetzte das starre, einfache Trapez, ein gebräuchliches Turngerät, durch zwei frei schwingende, in einigem Abstand voneinander angebrachte Trapeze, mit deren Hilfe der Sohn buchstäblich durch die Luft fliegen konnte. Die spekta­kuläre Überwindung physikalischer Grenzen und die damit verbundene hohe Gefahr für Leib und Leben des Athleten machte aus der gymnastischen Übung eine Zirkusattraktion, die Léotard als erstem «fliegenden Menschen» zu inter­nationalem Ruhm verhalf und einen eigentlichen Starkult auslöste.

Die Anforderungen, die ein Trapezakt, der sich weit oben über den Köpfen der Zuschauer abspielt, an die kinematografische Technik stellt, sind dem ge­steigerten Schauwert entsprechend hoch. Das Filmmaterial muss so empfindlich bzw. das verfügbare Licht so stark sein, dass in Innenräumen gedreht werden kann, wo sich die nötigen Gerätschaften sicher anbringen lassen. Zudem muss die Kamera, selbst wenn die Nummern nicht wirklich in der Kuppel eines Zir­kusbaus gedreht werden, wegen der räumlich weit ausgreifenden Bewegungsfolgen vergleichsweise mobil bzw. die Montagetechnik so weit ausgereift sein, dass sie im Wechsel der Einstellungen einen Eindruck von der Dynamik des Ge­schehens und dem besonderen Ort der Darbietungen vermittelt. Angesichts der kameratechnischen Begrenzungen haben sich die Gebrüder Skladanowsky bei der Wahl ihrer Sujets - abgesehen von der Recknummer - nicht von ungefähr auf einfachere Darbietungen aus dem Bereich der Parterreakrobatik beschränkt, obwohl grosse deutsche Variétés wie der Leipziger «Crystallpalast» ähnlich wie Zirkusse zu jener Zeit bereits Luftnummern im Programm hatten. Für den ge­planten Neubau eines Variétés in Würzburg wurde 1896 mit Flugweiten von bis zu fünfzehn Metern gerechnet.13 Angesichts solcher Dimensionen hätten die Brüder Skladanowsky unweigerlich ihr aufnahmetechnisches Setting (Halb­totale, mittlere Distanz zum Sujet) aufgeben oder aber die Kamera schwenken müssen, in der Horizontalen und in der Vertikalen, sofern sie den Apparat räumlich nicht auf eine Ebene mit dem Geschehen hätten bringen können.

Einen Höhepunkt in der Entwicklung zunehmender technischer Meister­schaft bei der filmischen Umsetzung anspruchsvoller Nummern markiert Carol Reeds Trapeze (USA 1956). Produziert von Ben Hecht und Hauptdarsteller Burt Lancaster, der selbst als Artist im Zirkus gearbeitet hatte, wurde der Film dem Publikum als «the wonder show of the world» angepriesen und sollte dem Vernehmen nach «the finest circus performers» der ganzen Welt vereinigen.14 In der aufwändigen Werbekampagne, die den Start des Films begleitete, spielen technische Belange von Anfang an eine zentrale Rolle. In TV-Spots und Fea­turettes versprachen die Filmemacher dem Publikum, es werde nicht nur aus­sergewöhnliche artistische Leistungen sehen, sondern diese auch in einer Art und Weise präsentiert bekommen, die für gewöhnliche Zirkusbesucher un­denkbar sei: «High, high ... above them all, you’ll see for the first time ... the most difficult of all aerial achievements! The triple somersault» - und das in Farbe und dem damals noch jungen Breitwandverfahren Cinemascope.

Bereits in der Eröffnungssequenz wird das Kinopublikum aus nächster Nähe Zeuge eines Vorgangs, den es in einem Zirkus so nie zu Gesicht bekäme: den Sturz eines Artisten aus der Kuppel in die Manege. Nahaufnahmen zeigen, wie Burt Lancaster als Mike Ribble nach einem dreifachen Salto, den er angeb­lich als Einziger auf der Welt beherrscht, die Arme seines Fängers nicht richtig zu fassen bekommt, wie sein Gesicht sich verzerrt und die Hände schliesslich abrutschen, wobei die Kamera synchron mit den Pendelbewegungen des Tra­pezes mitschwingt. Für den Sturz selbst schneidet Reed auf einen Top Shot, der die im Zirkus übliche Blickrichtung radikal umkehrt. Aus einer Position in der Zirkuskuppel sieht das Kinopublikum den Artisten in die Tiefe fallen und schliesslich als weisse Figur in der effektvoll mit blauem Stoff ausgeschlagenen Manege leblos «unter sich» liegen, wobei im Anschnitt noch Teile der kreis­förmig sich anlagernden Zuschauertribünen sichtbar sind. Das derart breit an­gelegte Tableau, mit dem die Eröffnungs- in die Titelsequenz übergeht, führt die Kinobesucher in die zu erwartende Geschichte ein - das tragische Schicksal eines grossartigen Artisten - und zeigt ihnen gleichzeitig, was sie ihrem inner- diegetischen Pendant voraus haben: einen kameratechnisch privilegierten Blick («high, high ... above them all you’ll see ...»).

Wenn der Film mit den nachfolgenden Szenen zum Probenalltag in der Manege zurückkehrt, setzt sich die optische Bevorzugung des Kinopublikums fort, nun weniger durch die Wahl des Blickpunkts als durch die Fülle der Attraktionen, die ihm gleichzeitig geboten wird. Der erweiterte Bildrahmen des Cinemascope-Formats wird konsequent bis zum Rand hin ausgenutzt. Regelmässig laufen in den Probeszenen zwei, drei Nummern nebeneinander bzw. in die Tiefe des Raums gestaffelt. Das Breitwandformat erfüllt in diesem Fall eine ähnliche Funktion wie die Einführung des Drei-Manegen-Systems in der Geschichte des Zirkus, wo zur Steigerung der optischen Wirkung die Hauptattraktion im Zentrum links und rechts von kleineren Darbietungen flankiert wurde. In beiden Fällen wird der Zuschauende überwältigt von der Fülle dessen, was ihm an Schauwerten gleichzeitig geboten wird, und muss selbst entscheiden, worauf er seine Aufmerksamkeit angesichts des visuellen Überangebots konzentriert. Die sinnliche Opulenz der entsprechenden Ein­stellungen trägt in Trapeze nichts zum Fortgang der Handlung bei, zeigt aber, wozu der Film dank Neuerungen wie dem Cinemascope-Format technisch in der Lage ist. Eingebunden in den Erzählfluss, fungiert hier die kinematografische Technik ähnlich wie in den frühen Filmen Skladanowskys als (zusätzliche) Attraktion.

Dieser Strategie einer maximalen Akkumulation von Schauwerten folgt in Trapeze fast zwangsläufig die Entgrenzung der Manege. Jeder beliebige Ort innerhalb des diegetischen Raums wird zu einem möglichen Schauplatz artisti­scher Leistungen. Um den zwar genesenen, nach dem Unfall jedoch nur noch als Kulissenarbeiter einsetzbaren Ribble als Lehrer und Fänger zu gewinnen, demonstriert ihm der ehrgeizige junge Flieger Tino Orsini (Tony Curtis) sein Können wahlweise auf offener Strasse oder an einem gerade verfügbaren Bau­gerüst. Als es ihm endlich gelingt, den hartnäckigen Widerstand des Älteren nach einem abendlichen Kneipenbesuch zu brechen - Ribble hatte nach seinem Unfall zu trinken begonnen -, treten die beiden zum Zeichen des Stimmungs­umschwungs den Nachhauseweg gemeinsam im Handstand an.

Mühelos präsentiert sich die Arbeit der Artisten in Trapeze auch da, wo sie noch am ehesten an ihre sportlichen Anfänge erinnert, beim täglichen Training in der Manege. Die Vorbereitungen auf den Auftritt als Duo Ribble und Orsini werden über die nichtdiegetische Filmmusik in einer Weise ästhetisch über­höht, dass sie nicht nach harter Arbeit aussehen, sondern so, als handelte es sich bereits um die Vorführung; passend dazu klingt auf der Tonspur in modulierter Form das Walzer-Thema an, das seit der Eröffnungssequenz motivisch mit dem glanzvollen Auftritt vor Publikum verknüpft ist.

Anstrengung, Mühsal und selbst ein Moment von Wettkampf, wie es Zir­kusnummern in Abgrenzung zum Sport gewöhnlich ausblenden, kommen in Trapeze über die Handlung ins Spiel, die die artistischen Attraktionen zusam­menhält. Was Tony Curtis’ Figur antreibt, ist der unbedingte Wille, den «Drei­fachen» zu schaffen, vergleichbar mit dem Willen eines Sportlers, einen als magische Grenze erfahrenen, quantifizierbaren Rekord zu brechen oder we­nigstens einzustellen. Bleibt das agonale Moment hier noch relativ abstrakt - die wenigen, die den Dreifachen gemeistert haben, sind nicht persönlich anwesend, um sich im direkten Vergleich zu messen, sie fungieren eher als mythische Grössen der Zirkushistorie -, wird es im zweiten Handlungsstrang sehr viel greifbarer. Um der trostlosen Existenz in einem kleinen Wanderzirkus zu ent­kommen, versucht die italienische Artistin Lola (gespielt von Gina Lollobrigida, die mit Trapeze auf dem amerikanischen Markt lanciert werden sollte) in der angehenden Weltnummer unterzukommen, indem sie beiden Männern, Ribble und Orsini, gleichzeitig Avancen macht. Das Streben nach dem drei­fachen Salto erhält so eine erotische Dimension, die sich im weiteren Verlauf der Handlung zu einer existenziellen Bedrohung für die beiden Luftakrobaten auswächst. Während sie sich nämlich bei der gefährlichen Arbeit in der Manege bedingungslos vertrauen müssen, werden sie im Privatleben zu erbitterten Konkurrenten.

Die Zuschauerinnen und Zuschauer im Kino sind anders als die Zirkus­besucher innerhalb der filmischen Diegese in die unheilvolle Verquickung von beruflichem und amourösem Ehrgeiz eingeweiht, werden also wie zuvor ka­meratechnisch nun auch durch die narrative Informationsvergabe privilegiert. Das verändert die Funktion der angebotenen Schauwerte entscheidend. Wenn sich Ribble und Orsini am Ende vor versammeltem Zirkuspublikum auf dem Trapez «high ... above them all» als Partner gegenüberstehen, nachdem kurz zuvor hinter den Kulissen ihre einstige Freundschaft in offene Feindschaft um­geschlagen ist, und erstmals der berühmte dreifache Salto gezeigt werden soll, dann wissen die Zuschauenden im Kino, was auf dem Spiel steht. Der Dreifache – der tatsächlich gelingt, was die beiden Freunde wieder miteinander versöhnt – ist für das Publikum, das sich den Film ansieht, anders als für die Zuschauer, die Teil von dessen fiktionaler Welt sind, keine normale Zirkusattraktion, son­dern die ultimative Steigerung eines Konflikts mitsamt den dazugehörigen Emotionen auf Seiten der Figuren wie der Betrachter.

Einmal aus dem ursprünglichen performativen Kontext losgelöst und umge­staltet für eine artistische Präsentation in der Manege, sind sportliche Leistun­gen als Schauelemente zu den unterschiedlichsten Zwecken einsetzbar: Sei es, um den Attraktionswert des Mediums herauszustellen wie in Skladanowskys episodisch angelegtem «Wintergarten»-Programm, oder um Konflikte inner­halb einer Erzählhandlung zu dramatisieren. Ihr Einsatz ist nicht einmal notwendig an den Zirkusfilm gebunden. In Trapeze ist die Artistik motivisch fes­ter Bestandteil der erzählten Welt. Die Figuren tragen ihre (heimlichen) Kon­flikte von Berufs wegen mit artistischen Mitteln aus. Genauso gut können in Piraten-, Action- oder Martial-Arts-Filmen artistische Elemente den veränder­ten Genrekonventionen entsprechend in den offenen Zweikampf zwischen dem Held und seinen Widersachern eingehen - unabhängig vom jeweiligen Sujetbezug. Mit ihren «fliegenden» Protagonisten liefern Filme wie Crouching Tiger, Hidden Dragon (Ang Lee, USA 2000) und Spider-Man (Sam Raimi, USA 2002) den besten Beweis dafür, wie vielfältig die Möglichkeiten sind, artistische Schauwerte in narrative Zusammenhänge einzubinden.

«Berliner Brief» (wie Anm. 1), unpag.

S. Gunter Gebauer/Gerd Hortleder, «Die Epoche des Showsports», in: dies. (Hgg.), Sport - Eros - Tod, Frankfurt am Main 1986, S. 60-86, und Eric Dunning, «The Dynamics of Modern Sport», in: Norbert Elias / Eric Dun­ning, Quest for Excitement. Sport and Leisure in the Civilizing Process, Oxford / New York 1986, S. 205-223. In den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts wurde allerdings gerade im Boxsport versucht, die Kämpfe schneller, ge­fährlicher und damit attraktiver zu machen, etwa durch die Einführung von Handschuhen, wie Delaware sie benutzt. Mit ihnen konnten Boxer gegen den Kopf des Gegners schlagen, ohne fürchten zu müssen, sich dabei die Hand zu brechen wie beim «bare-knuckles-fighting». S. dazu die Dissertation Ersschütterungsphysis in den Zeichen des Kampfes. Mythologie und Ästhetik des amerikanischen Boxfilms (EU Berlin 2002) von Stephan May, dem ich für auf­schlussreiche Diskussionen und den Einblick in das Typoskript seiner Arbeit danke.

«Berliner Circusbrief» (wie Anm. 1), unpag.

S. Happrich, «Berliner Brief», in: Der Ar­tist 421 (5. März 1893). Der Zirkus und die rasch wachsende Zahl von Variétés mit ihrem unerschöpflichen Bedarf an neuen Nummern boten gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch Sportlern eine Gelegenheit, sich ihren Lebens­unterhalt zu verdienen, was im Sport selbst vor seiner späteren Professionalisierung nur in Ausnahmefällen möglich war - Dunning (wie Anm. 3), Jewgcni Kusnezow, Der Zirkus der Welt, Berlin 1970, S. 132 ff., und Ernst Günther, Geschichte des Variétés, Berlin 1981, S. 342 ff.

S. die Memoiren von Paula Busch, Das Spiel meines Lebens. Ein halbes Jahrhundert Zirkus, Stuttgart 1957, S. 66.

S. dazu u. a. den nach wie vor kanonischen Aufsatz von Tom Gunning, der allerdings den Zirkus ausblendet: «The Cinema of Attrac­tions: Early Film, Its Spectator and the Avant­Garde» (1986), in: Thomas Elsaesser I Adam Barker (Hgg.), Early Cinema: Space, Frame, Narrative, London 1990, Repr. 1997, S. 56-62.

Der «Serpentintanz» ist wahrscheinlich erst ein paar Wochen nach der Berliner Pre­miere in das Bioskop-Programm aufgenom­men worden. S. Joachim Castan, Max Skla- danowsky oder der Beginn der deutschen Filmgeschichte, Stuttgart 1995, S. 57 ff. Die fol­genden Beobachtungen beziehen sich auf die 1994 in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek vom Bundesarchiv­Filmarchiv restaurierte Fassung des «Winter­garten » - Program ms.

S. dazu im Einzelnen die Angaben in Cas- tans Filmografie (wie Anm. 8), S. 216 ff.

Aus den Beständen der Library of Con­gress ist eine Reihe amerikanischer Beispiele vornehmlich aus den Zehnerjahren online ver­fügbar (http://www.loc.gov; Rubrik «The American Variety Stage: Vaudeville and Popu­lar Entertainment, 1870-1920»).

Der Übergang vom «Cinema of Attrac­tions» (Tom Gunning) zum Erzählkino und seine institutionellen Rahmenbedingungen sind während der vergangenen Jahre im Anschluss an Gunnings Aufsatz (wie Anm. 7) intensiv, aber selten mit Blick auf den Zirkus bzw. den Zirkusfilm diskutiert worden. S. u.a. Charles Musser, «Pour une nouvelle approche du ci­néma des premiers temps: Le cinéma d’attrac­tion et la narrativité», in: Michèle Lagny et al. (Hgg.), Les vingt premières années du cinéma français, Paris 1995, S. 147-175; Frank Kessler, «In the Realm of the Fairies: Early Cinema be­tween Attraction and Narration», in: Iconics 5 (2000), S. 7-26, sowie die ersten beiden Bände der von Harro Segeberg und Corinna Müller herausgegebenen «Mediengeschichte des Films» (Die Mobilisierung des Sehens, Mün­chen 1996, und Die Modellierung des Kino­films, München 1998).

S. die Auszüge aus Jules Léotards Memoi­ren und die Einleitung der Herausgeber in: Gi­sela Winkler / Dietmar Winkler (Hgg.), Allez hopp durch die Welt. Aus dem Leben berühm­ter Akrobaten, Berlin 1977, S. 35-67.

S. Der Artist 577 (1. März 1896), unpag.

Die Zitate stammen wie die nachfolgen­den aus dem von Motion Picture Merchandi­sers produzierten Featurette The Big Question mit Co-Star Tony Curtis in der Rolle des Spre­chers. Ich danke Vinzenz Hcdiger für den grosszügig gewährten Einblick in seine Mate­rialsammlung zur Geschichte der amerikani­schen Filmwerbung.

Für ihre unermüdliche Hilfsbereitschaft in allem, was Fragen des Zirkus und seiner Ge­schichte betrifft, danke ich Gisela und Dietmar Winkler (Zirkusarchiv Winkler, Berlin).

1 S. H. [Victor Happrich], «Berliner Cir­cusbrief», in: Der Artist 560 (3. November 1895), unpag., und «Berliner Brief», in: Der Ar­tist 561 (10. November 1895), unpag.

Matthias Christen
geb. 1966, Promotion mit einer Arbeit zum Form- und Bedeutungswandel des Lebensreise-Topos in Text- und Bildmedien (to the end of the line, München 1999). Publizistische Tätigkeit zu Fotografie und Film. Lebt als Stipendiat des Schweizerischen Nationalfonds in Berlin; arbeitet an einem Buch zur Geschichte und den Funktionen des Zirkusfilms.
(Stand: 2018)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]