FLAVIA GIORGETTA

ICH HABE GETÖTET (ALICE SCHMID)

SELECTION CINEMA

1999 in Liberia: Der Bürgerkrieg, auf Grund dessen eine drei viertel Million Menschen in die Nachbarstaaten flüchteten und unzählige Sol­daten, Rebellen und Zivilisten ihr Leben lassen mussten, ist seit gut zwei Jahren vorbei. Den verschiedenen Rebellengruppen - die gegen­einander und gegen die staatliche Armee kämpften - gehörten mehrere Kinder an. Sie sind es, die nun in Alice Schmids geheim auf­genommenem Dokumentarfilm die erlebten Schrecken in Worte zu fassen versuchen.

Die fünf Kriegsveteranlnnen, die in der Konfrontation mit ihrer Vergangenheit oft bloss noch schweigen oder weinen können, sind alle Anfang zwanzig. Als Kinder wurden sie von den Rebellen rekrutiert oder sind selbst zu einer Gruppe übergelaufen, da sie in der blossen Flucht keine Überlebenschance sahen. Kinder waren als Tötungsmaschinen beliebt: Sie konnte man formen und gegebenenfalls durch Drogen willig machen, bis sie «automa­tisch losfeuerten». Nach dem Ende des Kriegs stehen die Jugendlichen nun ohne Ausbildung da, sind Analphabeten mit seelischen und kör­perlichen Narben - Albträume haben sie alle.

Der schmerzhafte Prozess der Erinnerung wird durch eine diskrete Kamera festgehalten, die kaum je einen direkten Blick der Interview­ten einfängt: Fast alle schauen zu Boden. Ro­berta - wenn sie erzählt, wie sie als junges Mädchen vom Chef ihrer Rebellengruppe ver­gewaltigt wurde und seitdem unter chroni­schen Bauchschmerzen leidet; Glasgow - der sich daran erinnert, wie auf Bäuche Wetten ab­geschlossen wurden, was heisst, dass Schwan­gere getötet wurden und aufgeschlitzt, um zu überprüfen, ob sich in ihrem Inneren ein Junge oder ein Mädchen zum Leben hätte entwickeln sollen.

Eingeklammert werden diese Schilderun­gen durch Aufnahmen eines Hörspiels der Radiostation Talking Drum Studio, die den siebenjährigen Bürgerkrieg unter dem Motto «lawlessness hurts our society» zusammen­fasst. Die Bilder der Interviewten werden mit Schwarzweissmaterial einer Tanzgruppe und mit Stills von Kriegsaufnahmen überblendet oder mit Aufnahmen der Ruinen, in denen die Jugendlichen leben. Auf der Tonspur hört man Gesang und Musik. Alice Schmids Fragen sind nie zu hören; auch fehlt eine erklärende Off­Stimme. Gerade dadurch gelingt cs dem Film, den Wahnsinn des Krieges und dessen Zer­störung Tausender Kindheiten den Zuschauern unmittelbar vor Augen zu führen.

Alice Schmid hat sich bereits in mehreren Filmen mit der Verknüpfung von Gewalt und Jugendlichen beschäftigt, so auch in Einmal im Leben ins Kino (1998), in dem sie ehemalige Kinderarbeiterinnen in Indien porträtierte. Für Ich habe getötet hat sie verdientermassen den Zürcher Filmpreis 2000 erhalten.

Flavia Giorgetta
geb. 1973, Studium der Anglistik, Filmwissenschaft und Volkswirtschaftslehre. Lebt in Zürich und arbeitet als wissenschaftlich-päda­gogische Assistentin im Studienbereich Film an der HGK Zürich. Mitglied der CINEMA-Redaktion seit 2001.
(Stand: 2018)
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