RUEDI WIDMER / STEFAN ZWEIFEL

ALLES IST GUT, WENN ES EXZESSIV IST — PASOLINIS SALÒ O LE 120 GIORNATE DI SODOMA AUF DEM HINTERGRUND VON SADES WERK

ESSAY

Die privaten Sexualleben (wie das meinige) haben ein Trauma erlitten, sowohl das Trauma der falschen Toleranz als auch das der körper­lichen Entartung, und was in den sexuellen Phantasien Leid und Freude war, ist selbst­mörderische Enttäuschung, formlose Unlust geworden.

- Pier Paolo Pasolini1

Eigentlich sind sie schon gekreuzigt, vom Visier der Kamera gevierteilt, lange bevor sie im Hof z.u Tode gefoltert werden: Ein Junge und ein Mädchen sitzen sich vor einer kahlen Wand nackt gegenüber. Auf Kommando der Herren müs­sen sie sich in der Ehe vereinigen. Dabei bleiben sie durch die zentrale Bildsym­metrie voneinander getrennt; von der Phantasie genagelt, welche sich in diesem Film auswickelt, abwickelt, exekutiert. Die Herren müssen im Bild nicht er­scheinen: Sie sind in der Geometrie der Arrangements allgegenwärtig. Es darf keinen Fluchtpunkt für das Private geben, keine Unterbrechung ihres Spiel- und Blickfeldes. Keine freie Valenz, darf sich dem «Lustgewinn» der faschistischen Signori von Salb entziehen. Jeder Winkel muss von der Macht gesättigt sein.

Als lebendige Statuen sind der Junge und das Mädchen auf einen Teppich hingegossen. Die nackten Körper liegen rettungslos im Licht. Da plötzlich überbrückt der Arm des Mädchens die Kluft, wuschelt im krausen Haar des Jungen. Die Geste entzieht sich dem starren Schematismus sexueller Abläufe und subvertiert die Ordnung der instrumentalisierten Körper. Traumverloren entgleiten die beiden für einen Augenblick in eine Welt für sich. In ihrem ohn­mächtigen Zorn über diese Regung reissen die vier Herren das Paar aus seiner Liebesinnigkeit. Sie meinen, mit dem Zugriff auf das Intimste jegliches Eigen­leben der Opfer zu kontrollieren: «No, no, questo fiore e riservato a noi!»2 Und schwarzgepanzerten Heuschrecken gleich fallen sie in ihren Anzügen über die beiden her, begatten sie in einem Akt trostloser Hektik. Sie füllen kraft ihrer Phalli die freien Öffnungen und schreiben sich mit ihrem Sperma in die Körper ein.

Pasolini: ein Text

Pasolini hat bis kurz vor seiner Ermordung am 2. November 1975 an Salò3 ge­arbeitet und noch die Montage des Films in Angriff genommen. Anfang 1976 kam dieser erstmals auf die Leinwände - und wurde alsbald von Verboten sowie der Mythenbildung um Pasolinis Tod zugedeckt. Heute zeigt sich bei der noch­maligen Betrachtung: Die Kraft des Films Salò ist nach wie vor intakt. Pasolinis letztem filmischem Werk, das er selbst als seinen «ersten Film über die moderne Welt» bezeichnet,4 ist nicht einfach beizukommen, auch nicht durch nachträg­liche historisch-ideologische Relativierung.

Pasolini verlegt, als ob es keine Nahtstellen zwischen dem literarischen Sade-Text und der faschistischen Salò-Republik gäbe, die Romanhandlung der 120 Tage von Sodom ins Oberitalien von 1944.5 Vier Herren (Richter, Banker, Herzog, Bischof) schreiben in einer oberitalienischen Villa ein «Regelbuch». Dieses ist Grundlage für ein mikrosoziologisches System der Perversion und Quälerei, das es zunächst aufzubauen gilt: Die vier Frauen im reifen Alter, wel­che später als Erzählerinnen die Lustrituale animieren werden, helfen unter dem Schutz von vier Kollaborateuren mit, das übrige Personal auszusuchen. Sechzehn junge Opfer, je acht Jungen und Mädchen, werden so rekrutiert; dazu kommen fünf Zudienerinnen und Zudiener im herrschaftlichen Haus, in wel­ches die ganze Gesellschaft schliesslich einzieht. In drei Kapiteln («Kreis des Wahns», «Kreis der Scheisse», «Kreis des Blutes») folgt das ritualisierte Gesche­hen immer neu dem vorgezeichneten Weg, von der theatralischen Erzählung im Salon über die Momente der inneren Erhitzung bis zur eiskalten Tat. Die Miss­handlungen im abschliessenden «Kreis des Blutes» vollziehen sich als lautlose Darbietung im Feldstecher. Jeweils einer der Herren nimmt Platz auf einem Stuhl im Innern des Hauses und verfolgt das Geschehen im Hof.

Was dergestalt nacherzählbar ist, ist <Handlung> in mehr als einem Sinn. Die Herren stehen am oberen, aktiven Ende der Hierarchie. Ihr Begehren muss durch die Erzählerinnen sprachlich geweckt und gesteigert werden. Die Opfer hingegen sind das eigentliche «Material» der in den hohen Köpfen sich ent­wickelnden Phantasie. Sie sind dazu da, die Lust körperlich und das Leiden real werden zu lassen. Oft werden sie dafür äusserlich zurechtgemacht (einmal ver­körpern sie eine Hochzeitsgesellschaft, einmal eine Hundemeute) oder inner­lich in die Enge getrieben. Bei alledem befinden sich immer alle Figuren in einer Welt. Das sadistische System der Signori, das als solches von seiner radikalen räumlichen Abgeschlossenheit und moralisch-rechtlichen Absonderung lebt, wird durch den Film in unmittelbaren Kontakt mit einer realen Welt gebracht, welche sich als rechtlich und moralisch geordnet erlebt. Wir entwickeln deshalb beim Zuschauen die Vorstellung einer «Person», die mit diesem ausgefallenen Geschehen in unsere gewohnte Welt einfällt, uns diese Handlung antut.6 Wir fragen: Wie kommt jemand dazu, so einen Film zu machen? Es ist der Reflex, der ein Werk auf die darunterliegenden persönlichen Motive zu reduzieren sucht, wenn es schmerzhaft in die Vorstellungswelten seiner Zuschauer einbricht. Das Werk als solches wird dabei als Tat wahrgenommen, als Attacke auf geschützte Räume; der Text als Fluchtspur, mittels deren man den Autor hinter dem Text, die «nackte» Person des Urhebers, dingfest machen und neutralisieren könnte.

Salò gibt diesem Ansinnen reichlich Nahrung, verweigert ihm aber den Zu­griff. Die Greifbarkeit des Urhebers scheint wie bei einem Selbstmordattentat verloren. In seiner entblössenden Wendung hin zum Publikum erscheint uns Salò als «absolute Erzählung», als eine Art narrative Montur, durch welche sich der Autor Pasolini hinter dem Text zum Verschwinden bringt, während er sich als Erzähler «im» Text mit aller Kraft manifestiert. Zugleich werden wir selbst von den zentralen Dimensionen abgeschnürt, die wir intuitiv als unser Eägenes, Persönliches, Privates wahrnehmen. Wir sind beim Sehen und Hören nicht, wie es sonst die Konventionen des Spielfilms garantieren, «für uns». Die Gewalt­tätigkeit schwappt systematisch über von der erzählten Handlung auf den er­zählenden Diskurs. Die symbolische Dimension der Handlung ist in der dar­gestellten Wirklichkeit wie in Beton gebunden - keiner soll sagen können, es handle sich «nur» um ein Sinnbild. Was der Zuschauer zumindest momentweise erlebt, führt die Handlung systematisch an den Opfern durch: Das innere Schweifen, Träumen und Sehnen der jeweiligen Person, ihre «freie» Gegenwart wird vom Programm der Signori aufgebraucht und annulliert.

Konkret zeigt sich das in den Ausscheidungen des Körpers, im Blut und Kot, im Sperma und Urin, im Schweiss und in den Tränen. All diese Sekrete sind Ausdruck der menschlichen «secrets», der privaten Geheimnisse. Unter­drückung bedeutet Engführung der Kanäle, forciertes Zusammenschliessen der Gefässe, die Verquickung der abgeschirmten Räume der Ausscheidung mit den­jenigen der Bühne, wo das Reden der Erzählerinnen in das Handeln der Signori umschlägt. Die Henker bestrafen jeden, der insgeheim seinen Nachttopf be­nützt, denn die Geheimnisse - dafür stehen auch emotionale Bindungen und Erinnerungen, etwa die Photographie des Liebhabers, die ein Mädchen unter dem Kopfkissen verwahrt - bedeuten Brüche ihrer Macht.

Diesem systematischen Knacken verborgener Sphären steht der Erzähler keineswegs in gesicherter Distanz gegenüber. Vielmehr beteiligt er sieh daran, spannt sich in die Mangel zwischen der ausgeübten Gewalt und dem erlittenen Schmerz. Seine Perspektive kennt keine Lockerung, kein Relativieren, kein inneres Wegtreten. Salò als Text ist ein unauflöslicher Block, so wie der Frag­ment gebliebene Roman Petrolio, an dem Pasolini zur gleichen Zeit wie an Salò arbeitet, ein «Block aus Zeichen» ist. Stärker noch als bei dem «Buch, das auf nichts anderes als sich selbst verweist», handelt es sich beim Film Salò um ein Werk, dessen Zeichen sich an der dargestellten Wirklichkeit vollsaugen, um von ihr letztlich nichts übrigzulassen als ihre Unausweichlichkeit.7 Die Teilnahme am Text ist wie der Parcours der Opfer ein aufgezwungenes Menü. Sein «Genuss» soll die sich kreuzenden Fluchtpunkte von Faschismus und Konsumis­mus fühlbar machen.

Sade: ein anderer Text

«Die Philosophie muss alles sagen.» So lautet einer der letzten Satze von Sadcs Juliette. Dem Geist seines Jahrhunderts verpflichtet, schreibt auch Sade seine Enzyklopädie. In ihr muss vor allem gesagt werden, was in den anderen Enzy­klopädien ausgespart wurde. Sie muss alles Böse und Hässliche aufs Papier ban­nen, eine Philosophie des ewig verdrängten «radikal Bösen» (Kant) unterneh­men. Zum anderen gilt der Satz: «Die Sexualität muss alles ausprobieren.» 600 Perversionen listen die 120 Sänge von Sodom auf. Sie werden in vier gleich grosse Klassen unterteilt und von vier Erzählerinnen vorgetragen. Dabei wird die Schrift selbst zum Sprachleib erotisiert. Es entwickelt sich eine Metasprache der Erotik, die von Roland Barthes ausführlich analysiert worden ist.8 Zuletzt wird die Manuskriptrolle vor den Gefängniswärtern in einem hölzernen Dildo versteckt, über dessen Gebrauch Sade in seinem «Almanach illusoire» genau Buch führt: «3268 Ein- plus 3268 Ausführungen = 6536 Masturbationen» lautet die Bilanz einer Woche.

Das Wechselspiel zwischen Diskurs und Sex fällt schon beim ersten Blick auf Sades Text auf: Schwarz mit Buchstaben angefüllt sind die philosophischen Abhandlungen; bei den erotischen Szenen werden die Seiten durch Eustschrei und Schinerzgestöhn, Rede und Gegenrede, Stellungswechsel und Interjektio­nen zerstückelt, die weisse Seite schimmert durch. Die Erotik wird intellektualisiert und der Intellekt erotisiert. Zum einen glaubt eine Freundin von Juliette, in ihrem Kopf wachse bereits ein Phallus, zum anderen heisst es: «Die Philo­sophie entflammt am Ficksaft.»9

Für Roland Barthes ist Sade ein «Logothet», einer, der «eine neue Sprache der Erotik» erfindet. Im Grunde eine Metasprache der Erotik: Die einzelnen Worte («unites minimales») bilden dabei die einzelnen Stellungen («postures»), die sich durch Kombinationen zu «Operations» erweitern lassen; die Gesamt­heit solcher sexueller Operationen wird in den «tableaux» räumlich geordnet, die den rhetorischen «figures» entsprechen, sowie zeitlich im Rahmen einer «episode» aneinandergereiht. Die grösste Einheit dieser Spracherotik bezeich­net Barthes als «scene».10

So wie Sades Helden nach einem erotisch gesättigten Körper trachten, sucht der Pornogrammatiker Sade im Reich erotischer Sprachen nach einem gram­matikalisch gesättigten Sprachkörper. Kein Loch und keine Leerstelle dürfen offenbleiben. In Juliette bilden hundert mit Dildos bemannte Klosterfrauen einen Kreis, der höchste Effizienz, garantiert und «von den Italienerinnen», wie der Atheist Sade augenzwinkernd hinzufügt, «Rosenkranz.» genannt wird.11

Dem Wechsel der grammatikalischen Subjekte und Objekte im Satzgefüge ent­spricht derjenige der Orgienteilnehmer innerhalb eines solchen Pornogramms. Ein steter Wechsel zwischen akrobatischen Stellungsspielen nackter Leiber und nicht minder akrobatischen Gedankenspielen erhitzter Köpfe: «Die erotische Zeremonie wird zu einem erotischen Ballett und einer mathematischen Opfer­handlung.»12 Bei einer solchen Betrachtung verschwindet der transgressive Charakter, die nackte Aggression des Sadeschen Textes, hinter den Gesetzmäs­sigkeiten seiner «ecriture». Die Sprache wandelt sich zum Kot-Code, dessen einzelne Bedeutungseinheiten nicht «beim Wort» zu nehmen sind. Das Reale verflüchtigt sich.

Pasolini: Wirklichkeit und Kontinuität

Um wieder von mir zu sprechen: bezeugt der Übergang vom literarischen Schreiben zum Kino ausserste Modernität oder Regression? Ich habe gesagt, dass ich Kino mache, um in Hinklang mit meiner Philosophie zu leben: um der Lust zu folgen, physisch stets auf einer Ebene mit der Wirklichkeit zu leben, ohne die magisch-symbolische Unterbrechung des Systems der sprachlichen Zeichen. Aber welche entsetzlichen Sünden zieht eine solche Philosophie nach sich? [...] Werde ich mich im Tal Josaphat dafür verantworten müssen, dass mein Gewissen zu schwach war, um den Verlockungen der Technik und des Mythos, die auf dasselbe hinauslaufen, zu widerstehen? - Pier Paolo Pasolini13

Die Darstellung faschistischer Gewalt in Salò folgt einem kulturell tief ver­ankerten Gedankenbild: Eine totalitäre Phantasie wird durch einen ungefähr­deten Machtspielraum zum realen System. Das System verfolgt die Maximierung einer von oben gesteuerten Öffentlichkeit und somit die Eliminierung des Privaten: der «dunklen» Zwischenräume, welche in «freien» Gesellschaften das individuelle Phantasieren (und seine bedingte Verwirklichung) erlauben oder symbolisieren. Es ist diese Sicht, welche den Faschismus der Kriegsjahre mit dem Konsumismus der Siebziger in eine strukturelle Nähe bringt.14 «Konsum­faschismus» kann dann behauptet werden, wenn man wie Pasolini die materi­elle Autonomie des Eigentums als Korruption, als Verlust des Eigenen im Sinne moralischer Autonomie taxiert. Der Begriff des Privaten faltet sich dabei auf in freiheitliche, positive Aspekte und in solche einer negativ gewerteten, system-konformen Individualisierung, wie sie in Pasolinis «Trauma der falschen Tole­ranz» aufscheint.

Sowohl das Bestreben des Faschismus bzw. Konsumismus als auch die War­nung davor folgen weitgehend einer Logik der Enteignung, welche grundsätz­lich Räumen der Autonomie (Phantasie, Erotik, Kunst, Selbstverwirklichung, Widerstand) übergeordnete Gewalten der Kontrolle (totalitäre Ordnung, Über­wachung, Disziplinierung, Manipulation) gegenüberstellt. Die Beschaffenheit der Texte von Sade und Pasolini ist damit eng verknüpft. Bei beiden gibt es Operationen der Enteignung nicht nur zwischen den handelnden Personen, sondern auch zwischen dem Erzähler und dem Leser bzw. Zuschauer. Beide Autoren erzeugen Bilder, die in ihrer «Verwerflichkeit» zwischen dem Erregen­den und dem Unerträglichen oszillieren und so die «Schutzräume» der Imagi­nation beim Publikum aufreissen. Dabei scheint die Unerträglichkeit von Salò schon darin zu wurzeln, dass die Bilder unmittelbar und zwingend eine Wirk­lichkeit bedeuten. Gewalttätig wäre hier also schon die Art der Abbildung, allenfalls gar das Medium als solches: Pasolinis «Übergang vom literarischen Schreiben zum Kino».15

Laut Roland Barthes kann Pasolinis Film weder die Faschisten befriedigen, da er (wie schon Sade) die Geheimnisse ihres sexuellen Willens zur Macht aus­plaudert, noch die Sade-Leser, da ihnen seine Form der Darstellung zu krud ist. «Geschrieben stinkt Scheisse nicht», hat Barthes dem pseudonaiven Umgang Pasolinis mit Sades Text entgegengehalten, da er eins zu eins ins Bild setze, was bei Sade in erster Linie Schrift, ein Spiel von Signifikanten sei, das sich von dem eigentlich Bezeichneten löse.16

Sades Lust an der Verletzung literarischer und sprachlicher Tabus im Rah­men seines Kot-Codes geht einher mit der Lust an der Überschreitung mora­lischer Tabus: «Ich vatermordete, blutschändete, metzelte, prostituierte, sodo-misierte: oh! Juliette, zeit meines Lebens war ich nie glücklicher!»17 Barthes würde fragen, ob man einen solchen Satz wie Pasolini zum Nennwert nehmen kann. Pasolini könnte zurüekfragen: «Aber warum nur soviel Furcht vor dem Naturalismus? Was versteckt sich hinter dieser Furcht? Verbirgt sich dahinter nicht die Furcht vor der Wirklichkeit, und sind es nicht die bürgerlichen Intel­lektuellen, die diese Furcht haben?»18

Dass gefilmte Scheisse «stinkt», ist Pasolini wohl bewusst. Sein Kino-Natu­ralismus ist eine Philosophie des Primitiven, nicht aber eine primitive Philo­sophie, wie Barthes' Kritik vermuten lassen könnte. Die brutale Sättigung und Forderung von Salò rührt von dem grundlegenden Wert der Wirklichkeit, an dem sich Pasolinis Denken und seine Filme orientieren. Die Wirklichkeit - des Lebens, des Leidens, des Erzählens - ist bei ihm prinzipiell kontinuierlich, das heisst unteilbar und unausweichlich.19 Wenn diese Grundverfassung in frühen Schaffensphasen noch Orte zum Atmen und zum Hoffen dialektisch in sich schliesst, dann zieht sie sich in den Jahren von Salò und Petrolio zum Granit der moralischen Indifferenz zusammen. Der «Naturalist» Pasolini krallt sich zwar weiterhin an der Kontinuität des Wirklichen fest. Die Momente der Autonomie und des Widerstands hingegen werden durch die kontinuierliche Logik der Handlung disqualifiziert und von der sadistischen Lust instrumentalisiert. Was von ihnen bleibt, ist ihre Behauptung, ihre Aussichtslosigkeit und der damit verbundene Schmerz.

Die paradoxe Nahe des Autors zu seinen faschistischen Figuren ist auch hierin festzustellen: Pasolini duldet, in seinem Lebens- und Selbstverständnis wie in seinen filmischen und philosophischen Texten, die Isolierung des Priva­ten letztlich nicht. Er ist - zumal in der Entstehungszeit von Salò - der Intel­lektuelle, der sein persönliches Erleben als integralen Teil des Weltgeschehens statuiert, projiziert, erleidet. Er kann sich diese Welt des Konsums und der Gleichgültigkeit, die doch weitgehend im Rückzug ihre Logik hat, nicht vom Leibe halten.

«Den Konsumzwang gibt es nun mal, was willst Du dagegen machen?« wirst Du mir wahrscheinlich sagen, lass mich Dir antworten: Für Dich ist der Konsumzwang da und damit basta; er trifft Dich nicht, es sei denn - wie man so sagt - moralisch; konkret trifft er Dich nicht mehr als alle andern auch. Dein ganz persönliches Leben ist nicht davon in Mitleidenschaft gezogen. Bei mir dagegen schon. Als Staatsbürger bin ich wie Du betroffen und erleide wie Du eine Gewaltanwendung, die mich ver­letzt (darin sind wir brüderlich vereint, wir können an ein gemeinsames Exil den­ken): Doch als Person, das weisst Du wohl, bin ich unendlich viel mehr hineingezo­gen als Du. Der Konsumzwang ist nämlich eine richtige anthropologische Kata­strophe. Und ich lebe diese Katastrophe [...] an meinem eigenen Dasein. Ich lebe sie in meinem täglichen Leben, in der Form meiner Existenz, in meinem Körper. - Pasolini, Brief an Alberto Moravia, 30. Januar 197520

Was in der «anthropologischen Katastrophe» kaputtzugehen droht, ist Men­schenwürde, wie sie von Pasolini empfunden und immer wieder filmisch dar­gestellt wurde. Gesichter, Blicke und Mienen der Jungfräulichkeit und der Scham durchziehen sein Werk wie ein mythischer Kreis der Heiligung mensch­licher Integrität und kultureller Verwurzelung. Viele dieser Gesichter scheinen in den Opferdarstellungen von Salò noch einmal auf, allerdings unter den Vor­zeichen des Verfalls. Pasolini zeichnet sich selbst als Beispiel, «eingeklammert» im Zentrum der Katastrophe: «Die privaten Sexualleben (wie das meinige) haben ein Trauma erlitten.» Sein körperliches Verfangensein wird mit Salò zum Film, gibt den empfundenen Konsumzwang mit einer doppelten Wendung ins Naturalistische und Allegorische weiter. Nimmt man den Film im übertragenen Sinn als Körper an - Pasolini spricht vom «Subjekt aus Fleisch und Blut»21 -, dann ergibt sich daraus noch einmal die Charakteristik des Textes Salò als Pene­tration persönlicher und kultureller Eigenräume: Film und Zuschauer finden sich in stetiger, schmerzlicher Berührung mit einer übermächtig lastenden Um­gebung.

Pasolini, Sade: die Sicht des Henkers

Die filmischen Operationen jedoch, mittels deren dies geschieht, funktionieren immer wieder als Distanznahmen. Hinter der Hermetik einer grauenvollen Handlung steht ein Text, durchsetzt mit subtilen Momenten der Loslösung des Darstellern vom Dargestellten. Es sind Momente einer weggewandten Anteil­nahme, die sich der einfachen Zuordnung nach Gut und Böse radikal entzieht: bissige Spiegelungen eines bis auf die letzten Lebensgeister ausgemergelten Spotts. Nie schweift der Blick, nie lockert sich sein Griff; dennoch bleibt das Potential der Distanzierung riesig.

Der ohnmächtige Zorn der Signori - um auf die eingangs beschriebene Szene zurückzukommen - entpuppt sich beim näheren Hinsehen als gespielt. «Nur» die Tat ist Sache, «nur» die Machtmechanik ist für voll zu nehmen, dafür besetzt sie den ganzen Raum. Die handelnden Täter aber sind hingestellt als Spielende - bis auf den Erzähler, der ihre ganze Sünde als Perspektive über­nimmt. Sie sind indifferente Holzfiguren - auch im moralischen Sinn, das er­laubt die fliessende Grenze zwischen Grand Guignol und Faschismus -, die filmische Erzählinstanz ist das «Subjekt aus Fleisch und Blut». Das ganze Lust­potential des Bösen liegt als Last auf den Schultern des Filme(r)s, verkörpert sein Kreuz. Immer wieder fängt die Kamera die Henker und Helfer ein in ihrer Ahnungslosigkeit. Das Teleobjektiv in der Hand Pasolinis stiehlt sich fort aus der sauberen Optik einer erkennbaren Regie, lässt die Akteure Terror spielen, sieht sie strahlen und sich lustig machen über das Grauen, weilt unter ihnen, unerkannt. Dann folgen wieder durchkomponierte Aufsichten: die Last als tonnenschwerer optischer Bildraum über den Köpfen der Opfer, denen nur die untere Bildhältte überlassen wird. Letztlich inszeniert Pasolini seine Kamera weder als Zaungast noch als Organ der Empörung, sondern als Ausgangspunkt der Handlung. Er steckt als handelnder Herr hinter den spielenden, schreibt das Geschehen restlos vor.

Die Sättigung des darstellenden Diskurses durch die dargestellte Gewalt kulminiert in den Feldstechersichten durch das Fensterkreuz auf den Hof. Die Geräusche der Folterungen fehlen; die gewalthafte Ritualität der Handlung erfährt dadurch eine zusätzliche Konkretisierung (der taube Gesichtspunkt ist derjenige der Henker). Orffs «Carmina Burana» begleiten zum Ende das unerträgliche Geschehen und verschränken die beiden Extrem« in Pasolinis Ästhetik: Abheben und Eintauchen, Himmel und Hölle. Ein radikaler Natura­lismus geht auf in einem uneingeschränkten Idealismus am Punkt der maxima­len Kränkung.

All dies korrespondiert nicht nur mit den Analogien, die Pasolini immer wieder explizit zwischen sein Leben und die Passionsgeschichte legte,22 sondern auch mit seiner frühen Filmtheorie. Es geht dort darum, die Integrität der eige­nen Perspektive von der Welt des Kranken oder Bösen absorbieren zu lassen.

Das «Kino der Poesie» [...] hat also das gemeinsame Merkmal, Filme von doppelter Natur zu produzieren. Der Film [...] hat eine «indirekte freie subjektive Perspek­tive» [...] Was auf die Tatsache zurückgeht, dass der Autor sich der «beherrschen­den psychologischen Verfassung im Film» bedient - die diejenige eines kranken, nicht normalen Protagonisten ist [...].23

Der Erzähler übernimmt die Sicht der Henker in «indirekter freier subjektiver Perspektive»: Er verzichtet auf die Möglichkeit, ihr Tun und Reden zwischen Anführungs- und Schlusszcichen zu plazieren. Hier berühren sich die Verfah­ren von Pasolini und Sade. «Es ist nicht das Objekt der Begierde, was uns erregt, sondern die Idee des Bösen», so lautet ein Schlüsselsatz der 20 Sänge von Sodom.24 Um der Gewalt zur Sprache zu verhelfen, sah sich Sade wie Pasolini gezwungen, «eine paradoxe Rede» zu halten; eine Rede, die ein Henker halten würde, wenn sich sein Tun nicht bereits im Namen der schweigenden Macht gerechtfertigt sähe.25 Ausserhalb von Sades Werk schweigt der Henker. Doch Sades Horizont liegt primär in den Räumen der verbotenen Phantasie, nicht in jenen der unerträglichen Wirklichkeit. Während Pasolini den Faschismus und seine fatale Wiederkehr im Konsumismus als alles ergreifenden fatalen Unfall der Kultur filmisch verkörpert, bringt Sade die Gewalt als jenes Verdrängte zur Sprache, worauf unsere Kultur seit jeher fusst.

Pasolinis Credo der Kontinuität der Wirklichkeit verhindert die Konstruk­tion, welche sich bei Sade zwischen den Räumen der «scene» und des «obscene» aufbaut. Die Kamera von Salò ist ein systematisch überlasteter Verdauungsappa­rat. Sie steckt mitten in der Scheisse, die sie aufnimmt. Der Grund dafür liegt darin, dass «die Wirklichkeit, sie, nicht manichäisch ist, keine Unterbrechung kennt».26 Die «Unterbrechung» aber wäre - neben dem Ort, an dem sich Gut und Böse gegeneinander aufbauen - auch der Ort, wo sich die Phantasie um die Gebote der Wirklichkeit foutiert. Die autonome Projektion und Phantasie wird in Sades Werk stark gemacht. Pasolinis Salò läuft darauf hinaus, sie auszuräumen.

In der Schlussszene von Salò, während die Metzelei im Hof noch andauert, schütteln sich die Kollaborateure die Hand, zum Glückwunsch dafür, dass sie sich ans andere Ufer gerettet haben. Einer von ihnen schaltet das Radio ein. Zu hören ist die schwelgerisch-beschwingte Tanzmusik, welche auch den Vorspann begleitet, dort aber ohne Quelle in der dargestellten Welt. Darin spiegelt sich der Skandal, der letztlich alles Gesehene überbietet: Die Indifferenz der «kon­formistischen Bourgeoisie, die, ohne auch nur etwas zu begreifen, von einer Phase zur andern übergeht, vom Frieden zum Krieg, vom Wohlstand zum Blutbad».27 Die Vision der bürgerlichen Freiheit, die weitgehend auf der Aus­koppelung individueller Perspektiven aus der Systemlogik beruht, hat das moralische Anrecht auf diese Perspektiven verwirkt. Was Pasolini in Petrolio beschreibt und in Salò ausführt, ist die Annullierung des Ausblicks auf eine bessere Zukunft.28

Sade, Pasolini: Text als Selbstverlust

Der Skandal von Sades Schriften hegt darin, dass die Vernunft wertfrei ist und den Mord durchaus rechtfertigen kann. Bei Sade haben die Henker nicht wie in Pasolinis Film Helfer, die mit ihren Maschinengewehren stets die reale Macht des faschistischen Staates von Salò gegenwärtig machen. Sades Interesse hegt auf einer anderen Ebene. Es geht nicht um einen realen Machtkampf, sondern um den Nachweis, dass die Gewalt viel tiefer verankert ist. Diskurs ist Macht. Wer über die Sprache verfügt, ist der Mächtige.

«Bringt ein wenig Ordnung in das Ganze!» Immer wieder werden bei Sade die Orgien unterbrochen, um jene strenge Geometrie des Fleisches in Szene zu setzen, die sich auch in Pasolinis Kadrage wiederfindet. Nur höchste Zucht garantiert Unzucht. Flink wieseln die Orgiasten durch die Reihen der nackten Leiber, türmen sie zu Pyramiden auf, bilden Hexagone oder Kreise aus ihnen. Einmal wird Justines Körper von 22 Personen gleichzeitig gesättigt. Dies setzt auch eine totale Körperbeherrschung voraus. Sie spiegelt sich darin, dass die Libertins «Herr und Meister über ihren Samen» bleiben, mit dem sie geizen. Bei Sade, anders als in Salò, gelten auch für die Herren genau kodifizierte Regeln. Auf beiden Seiten ist das Ziel eine Beherrschung des Subjekts. Radikalität ist hier der Exzess in der Mächtigkeit, Bodenlosigkeit und Reichweite des Erdach­ten und Erzählten, nicht wie bei Pasolini die Restlosigkeit eines in sich kurz­geschlossenen Systems.

Sades Text «denkt» explizit an den Leser, redet zu ihm:

Und nun, Freund Leser, heisst es, dein Herz und deinen Geist auf die unzüchtigste Erzählung vorzubereiten, die seit dem Bestehen der Welt geschaffen wurde, findet sich doch weder bei den Alten noch bei den Modernen ein vergleichbares Buch (... ] Ungezweifelt werden dir viele der Verirrungen missfallen, aber es werden auch einige darunter sein, die dich derart erhitzen, dass es dich Eicksaft kostet, und das ist alles, was wir begehren. Wenn wir nicht alles gesagt, nicht alles analysiert hätten, wie könntest du dann von uns verlangen, das erraten zu haben, was gerade dir zu­sagt? Es liegt an dir, dies herauszusuchen und den Rest zu lassen [...] Hier folgt die Geschichte eines grossartigen Mahles, bei dem deinem Appetit sechshundert ver­schiedene Gerichte angeboten werden. Wirst du sie alle essen? Nein, gewiss nicht, aber die verschwenderische Anzahl erweitert die Grenzen deiner Auswahl, und ent­zückt über diesen Zuwachs an Möglichkeiten wirst du dem Amphitryon, der dich bewirtet, nicht grollen wollen. Tue hier das Gleiche: wähle und lass den Rest stehen, ohne dich gegen diesen Rest zu ereifern, nur weil er nicht die Gabe hat, dir zu gefallen. Bedenke, dass er anderen gefallen wird, und sei ein Philosoph.29

Sades «Menü» ist keine Zwangsveranstaltung. Sein Text kann entgleiten. So wie die Tableaux vivants im Taumel der Sinne bisweilen in Bewegung geraten und in auseinanderbrechen oder die Befehle der Fibertins zu Gebilden führen, die sich unmöglich verwirklichen, ja nicht einmal mehr durch Strichzeichnungen auf dem Papier nachvollziehen lassen, brechen plötzlich die Triebe durch. Juliette sollte ihre Verbrechen nicht mehr aus Leidenschaft begehen, wie man ihr vor­wirft, sondern nur mehr aus kalter Berechnung und in vollständiger Apathie. Doch letztlich bricht sich ihre Lust, sich zu verlieren, wieder Bahn, sie greift zu Wein und Opium, verliert vollends die Beherrschung. Vollkommen verleiden-schaftlicht lässt sie sich durch Italien treiben, führt mit Affen und Doggen, Zwergen und Irren, die sich für Jesus oder gleich für Gott halten, surreale Orgien durch, lässt sich vom Papst während einer schwarzen Messe im Peters­dom mit einer Hostie arschficken, legt beim Riesen Minski ihre Kleider ab und setzt sich auf Möbel, die aus lebendigen Menschen geflochten sind, damit «ge­mäss einem Wort der heiligen Schritt, das Fleisch auf dem Fleische ruhe».30 Dass Sade erst in den letzten Bänden von Justine und Juliette (namentlich 7 und 8) unter dem Druck der Wiederholung in diese surrealen Welten ausgebrochen ist, zeigt, wie lange es dauerte, bis er sich freigeschrieben hatte: «Juliette ist ein gigantischer Italowestern, in dem statt Schafe Wölfe auf die Weide getrieben werden.»31

Ironie und Spott werden zu Räumen, wo das Wohlgehütete und Geheiligte auf-, die Phantasie aus- und die Wirklichkeit wegbricht. Sade formt durch Alli­terationen und Assonanzen die Sprache zu einem plastischen Sprachleib, den er durch verschiedene Kunstgriffe sexualisiert, indem er die Szenen an Orten spie­len lässt, die im galanten Jargon Worte für das Unaussprechbare sind (Grotten, Wälder; Burgen, die man stürmen muss usw.), oder in jeder Zeile Wörter mit «con-» oder dem homonymen «com-» beginnen lässt («con» = Scheide). Er spielt mit Worten und Namen. Zunächst legen sich Justine drei steinerne Hin­dernisse in den Weg (Deroches, Dubourg und Delmonse), und wenn dann Saint-Florent naht, weiss man, dass Justines Defloration nicht mehr weit ist: Die erzählerische Instanz zwinkert dem Leser zu.

Wer aber führt Regie, Sade oder die Sprache, wenn die Beichte («con-fes-sion») tatsächlich beim Fotzenfitzen («fesser» des «cons») endet? Vom Wort- und Zahlenwahn getrieben, erkundet Sade Gefilde, welche später die Surrealisten erforschen werden, die in ihm zu Recht den «göttlichen Marquis» verehrten, und er wettert in einem Brief aus dem Gefängnis: «Chivarusmarbarbarmavocsacromicrepauti.»

Sade entdeckt, dass das Schreiben «das grösste Verbrechen ist» und dass die realen Missetaten stets nur ein Schatten der Phantasmen bleiben.

Fürwahr, Juliette, ich glaube gar, dass die Hirngespinste wonnevoller als die Wirk­lichkeit sind, und das, was man nicht hat, reizvoller ist als das, worüber man ver­fügt: hier, Ihre Popobacken, Juliette, ich habe sie vor Augen, ich finde sie schön, doch da meine Imagination glanzvoller und findiger ist als die Natur, wage ich zu behaupten, dass ich mir weit prächtigere ausmalen kann [...] Was Sie mir zu bieten haben, ist lediglich schön, was ich mir ausmale, ist erhaben; mit Ihnen kann ich bloss treiben, was alle Welt so treibt, doch mit jenem Arsch, der das Werk meiner Phantasie ist, könnte ich, wie mir scheint, Dinge treiben, die sieh nicht einmal die Götter träumen liessen.32

Kulmination der Phantasie bei Sade, Erschöpiung der Wirklichkeit bei Pasolini. «Alles ist gut, wenn es exzessiv ist», lässt Pasolini seine Faschisten Sade zitieren. Doch schon die Lichtführung von Salò neutralisiert allfällige Effekte der Ver­dunkelung, der entgleitenden Konfusion. Die allgegenwärtigen Spiegel zeigen immer an, wie das Gegebene im Gegebenen kollidiert und kollabiert. Sade hin­gegen baut in den Text der 120 Tage, der doch «alles sagen» sollte, einen dunk­len Fluchtpunkt ein: Die geheimen «cabinets», in die man sich zurückziehen kann und aus denen nur Schreie und Gestöhn dringen. Während sonst alles hell ausgeleuchtet werden muss und sich die Körperstellungen durch Spiegel ins Unendliche vervielfachen, bleibt dieser dunkle Fleck.33 In die «cabinets» kann kein Blick geworfen werden. Was dort geschieht, entzieht sich dem Zugriff der Sprache, in ihnen endet die Öffentlichkeit der Orgie. Vom Geschehenen zeugen höchstens die Spuren von Blut und Sperma. «Er warf sich in sein Kabinett (...] Man weiss nicht recht, was er dort trieb, aber man hörte einen gewaltigen Schrei einer Frau, und, kurz darauf, das Geheul seiner Entladung.»34

Das Subjekt, bislang unterdrückt und unterworfen, wird befreit zum reinen «-Jekt», der nichts mehr bzw. alles bedeuten kann, so wie der Schrei bald als Lust-, bald als Schmerzensschrei in Sades Sätzen figuriert, wobei man oft bis zum Ende eines Abschnitts noch nicht entscheiden kann, was der Schrei dies­mal bedeutet. Die Schrift wird zum Projektil, das gegen die Mauern der Rea­lität geschossen wird, bis sie aufbrechen und im Ausgesparten die Phantasie ungezügelt ihre hirnbrünstigen Orgien feiern kann. Bei Sade bleibt die Mög­lichkeit der Aneignung und der Wiederaneignung eine integrale Dimension des Geschehens, das letztlich in der Loslösung besteht.

Dieser Umschlagpunkt fehlt bei Pasolini. Hinter dem doppelt gespiegelten Fenster im Schminkzimmer der dritten Erzählerin zeigt sich der Himmel als ausgeleerte Fläche. Die Kamera folgt den Libertins bis in die «cabinets», wo sie ihre letzten Geheimnisse verraten oder trostlos vor einem Spiegel onanieren, neben der Statue der Mutter Gottes. Nie wird sie reiner «-Jekt», der sich wild durch Orgien treiben lässt, der Übernähe oder -ferne aussetzt, wo das Bild gleich den Tintenklecksen im Rorschachtest zur Beute der Triebinterpretation würde. Die Filmsprache lost sich nicht auf, bleibt immer artikuliert, streng ge­gliedert. Keine Spur vom Sog, der uns bei Sade bisweilen wider Willen mitten in die Lust am Text reisst und uns zu geladenen Komplizen des Bösen werden lässt.

Sade produziert Effekte des Bösen als Unscharfe zwischen Text und Leser. Bei Pasolini wird die Phantasie erstickt; zu nahe ist die Realität, zu grauenvoll das Spiel. Nie ertappen wir uns dabei, wie wir mit den Trieben der vier Herren eins werden. Bedrückend ist nicht das eigene Böse, sondern die Enteignung all dessen, was die illusorische Vermutung der Freiheit beim Lesen und Schauen in sich schliesst.

1 Pier Paolo Pasolini, Trilogia della vita, Bologna 197s, S. II. Übers, von Stefan Zweifel.

«Nein, nein, diese Blume ist für uns reser­viert!»

3 Salö o le 120 gwrnate dt Sodoma (Pier Paolo Pasolini, I 1975).

Naomi Grecne, Pier Paolo Pasolini: Ci-nema As Heresy, Pnnceton 1990, S. 205.

/.es cent vingl journees de Sodome (D. A.F. de Sade, CEuvres /, Paris 1990) entstanden 1785 während Sades Inhaftierung in der Bastille. Auf kleinen, zu einer zwölf Meter langen Rolle zu­sammengeklebten Zetteln entwirft er - zum er­sten Mal systematisch -eine «Schule der Liber-tinage», so der Untertitel. Später wird Sade diesen Text, nach dessen Verlust beim Sturm auf die Bastille 1789 er «blutige Tränen» ge­weint hat, in Werken wie Die Philosophie im Boudoir oder Justine und Juliette fortsetzen (beispielsweise durch die Klosterepisode im zweiten und dritten Band von Justine und Juliette).

Diese Person nennen wir «Erzähler», wenn wir Salö als «Text» betrachten. Geht es um den Film als «Akt», als Intervention eines Filmers im Italien von 1975, dann sprechen wir von «Pasolini» bzw. dem «Autor». Pasolini sprach, mit Verweis auf sein persönliches Er­leben der Salö-Republik, von einer «auto­biographischen» Umsetzung der /20 Tage von Sodom (Vgl. Film Quarterly [Winter 1975/76), S. 39 ff. An gleicher Stelle wird erwähnt, dass Pasolini die Handkamera von Salö selber führte).

Pier Paolo Pasolini, Petrolio (1992), übers, von Moshe Kahn, Berlin 1994, S. 54.

Roland Barthes, Sade, löurier, Loyola, Frankfurt am Main 1986, S. 35 ff.

D. A. F. de Sade, Justine und Juliette, hg. und übers, von Stefan Zweifel und Michael Pfister, München 199c ff., Bd. 1, S. 129.

Barthes (wie Anm. 8), S. 35 ff.

Sade (wie Anm. 9), Bd. 7, S. 201.

Octavio Paz, «Sexualität und Erotik», in: ders., Essays I, Frankfurt am Main 1984, S. 171.

Pier Paolo Pasolini, Ketzererfahrungen (Empirismo Eretico, i960), übers, von Reimar Klein, München/Wien 1979, S. 227.

Die Parallele liesse sich ohne Mühe erwei­tern, etwa mit Mussolinis Metapher vom «glä­sernen Haus» und ihrer Wiederaufnahme in den heutigen Marktphilosophien, welche maximale Individualität und Privatsphärc mit maximaler Transparenz für das Aufspüren von Bedürfnis­sen und Bedrohungen übereinzubringen ver­suchen.

«Die «Zeichen» der verbalen Kommunika­tion sind immer symbolisch, sind immer Über­einkünfte, während die «Zeichen» der filmi­schen Kommunikation die Dinge selbst sind, in ihrer ganzen Dinglichkeit und Wirklichkeit.» Pier Paolo Pasolini, Lutherbriefe (heitere lute-rane, 1976), übers, von Agathe Haag, Wien / Bozen 1996, S. 38.

Roland Barthes, «Sade / Pasolini», in: Der Pfahl, Bd. s, München 1991, S. 134 ff.

Sade (wie Anin. 9), Bd. 6, S. 78.

Pier Paolo Pasolini, Chaos. Gegen den Terror (11 Caos, 1979), übers, von Agathe Haag und Renate Heimbucher, München 1988, S. 238.

«Die Kontinuität, welche alle Gesetze vereint, die ganz allgemein das Universum dar­stellen (das durch das Fehlen jeglicher Art von Unterbrechung gekennzeichnet ist), ist fraglos eine Gegebenheit. Doch in ihrem Verhältnis zu der Gegebenheit, die ihr widerspricht und sie negiert, also dem Fehlen jeglicher Art von Kontinuität - dem Moment der Autonomie -, verschwindet sie, zumindest für einen idealen» Augenblick [...] [D]iese beiden koexistieren­den Begriffe [gemeint: Kontinuität und Auto­nomie; die Autoren] können nicht abwech­selnd in Erwägung gezogen werden und daher isoliert werden [...] Darum geht es.» Pasolini (wie Anm. 7), S. 505.

Enzo Siciliano, Pier Paolo Pasolini (1978), übers, von Christel Galliani, Weinheim / Berlin 1994, S. 476, Auszeichnungen von Pasolini.

«Es ist undenkbar, die Realität in ihrem Ablauf anders «zu sehen und zu hören» als von einem einzigen Blickwinkel aus. Und dieser Blickwinkel ist immer der eines Subjekts, das sieht und hört. Dieses Subjekt ist ein Subjekt

aus Fleisch und Blut [...].» Pier Paolo Pasolini, «Das Kint» der Poesie», in: Peter W. Jansen / Wolfram Schütte (Hgg.), Pier Paolo Pasolini, München /Wien 1977, S. 78.

«Ich sehe mich angenagelt am Kreuz hän­gen. Um meine Lenden war jenes leichte Tuch geschürzt, und eine riesige Menschenmenge blickte auf mich. Allmählich wurde dann mein öffentliches Martyrium zu einem wollüstigen Bild.» Zitiert in Nico Naldini, Pier Paolo Paso­lini (ißt)), übers, von Maja Pflug, Berlin 1991, S. 240.

Pasolini (wie Anm. 21), S. 72.

D.A.F. de Sade, Giuvres I, Paris 1990, S. 158. Übers, von Stefan Zweifel.

Vgl. Georges Batailles, Die Erotik, übers, und hg. von Gerd Bergfleth, München 1994.

Pasolini (wie Anm. 7), S. 489.

Pasolini (wie Anm. 7), S. 489.

«Die Vorstellung von Hoffnung für die Zukunft wird zu etwas unwiderstehlich Komi schem. Die daraus folgende Klarsicht entklei­det die Welt ihrer Faszination. Aber die Rück­kehr zu ihr ist so etwas wie eine zweite Geburt: das Auge iunkelt voller Ironie, wenn es die Dinge betrachtet, die Menschen, die alten Trot­tel an der Macht, die Jungen, die glauben, Gott weiss was zu beginnen.» Pasolini (wie Anm. 7), S. 489.

Sade (wie Anm. 24), S. 69.

Sade (wie Anm. 9), Bd. 7, S. 247.

Alain Robbe-Grillet, «Die Ordnung und ihr Double», in: D. A.F. de Sade, Justine und Juliette, München 1990 ff., Bd. 7, S. 21.

Sade (wie Anm. 9), Bd. 7, S. 147.

D. A. F. de Sade, Giuvres Completes, Paris 1962-1964, hg. von Gilbert Lely, Bd. 3, S. 381. Übers, von Stefan Zweifel.

Sade (wie Anm. 24), S. 215.

Ruedi Widmer
geb. 1959, ist freier Journalist in den Bereichen Film und elek­tronische Medien, studierte audiovisuelle Medien und Philosophie in Paris und Zürich.
(Stand: 2018)
Stefan Zweifel
geb. 1967, Studium der Philosophie, Komparatistik und Ägyp­tologie in Zürich, mit Michael Pfister Übersetzer und Herausgeber von de Sudes Justine und juliette.
(Stand: 2018)
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