IRENE GENHART

NACHT DER GAUKLER (MICHAEL STEINER, PASCAL WALDER)

SELECTION CINEMA

Nacht der Gaukler nimmt sich in der Schweizer Kinolandschaft als kleines Kuriosum aus. Denn so etwas wie der Erstlingsfilm von Michael Steiner und Pascal Wälder wurde hierzulande schon seit längerem nicht mehr produziert. Die Besonderheiten beginnen bei der Story, die sich weit weg von den üblichen Themen bewegt, führen über eine abenteuerliche Produktion hin zu einem Film, der sich auch formal stark vom Schweizer Durchschnitt absetzt. Nacht der Gaukler ist ein schwarzweißer Actionfilm, der in einer nicht genauer definierten vergangenen Zeit an einem nicht eruierbaren Ort in einer verschwommen faschistoiden Gesellschaft spielt. Klaus Koska, von Beruf Steuerkommissär, erinnert in seiner devot-intelligenten Beflissenheit unweigerlich an Franz Kafkas K. In einer verlassenen Lagerhalle wird Koska Zeuge der Ermordung des Staatspräsidenten. Er wird entdeckt, flieht, und es gelingt ihm, seine Verfolger nach einer veritablen Verfolgungsjagd abzusetzen und den Vorfall im Regierungsgebäude zu melden. Hier jedoch dreht sich der Spieß um. Koska, ein Saubermann und Leisetreter par excellence, wandelt sich vom Anklageerstatter zum Angeklagten und verbringt den Rest des Films damit, sich vor den Schergen des Staates zu verstecken. Minutenlange Verfolgungsjagden, Figuren in Harlekinkostüm und Masken, ein hoher Funktionär namens Leon Lubitsch, der zum Staatsstreich ausholt: Nacht der Gaukler spielt mit dem Inventar des Politkrimi, den Versatzstücken des Film Noir und lehnt sich an die deutsche Literatur an.

Kurioser fast noch als der Film selbst sind die Umstände, unter denen er entstanden ist. Denn weder Wälder noch Steiner, noch Drehbuchautor Jürg Brändli oder Komponist und Ausstatter Adrian Frutiger haben - obwohl sie zur jüngsten Generation von Schweizer Filmern gehören - eine Filmschule besucht. In Fronarbeit haben sie ihren Film gedreht, mit Unterstützung von Eltern, Freunden und Bekannten in Budapest, Rapperswil und Zürich. Sie hatten wenig (im Verhältnis zu einem durchschnittlichen Schweizer Spielfilm eigentlich kein) Geld - und doch gibt’s in Nacht der Gaukler handfeste Action: Verfolgungsjagden, ein explodierendes Auto, Schüsse, Tote. So wie die Story von Wälder und Steiners Film die Hürde der Schweizer Filmkommission wohl nie genommen hätte, so wären wohl alle Kameraeinstellungen, Fahrten, Schnitte und die Montage nie so zustande gekommen, wenn Wälder, Steiner und Co. eine Filmschule absolviert und sich da die »richtigen«, weil durch Konvention abgesegneten Techniken und Theorien angeeignet hätten. Dabei liegt gerade im Unkonventionellen, den nicht immer ganz sauberen Schnitten, den »sichtbaren« (oder vielleicht besser: »beim Sehen fühlbaren«) Kamerabewegungen der Reiz von Nacht der Gaukler. Obwohl er sich an alten Filmen und Filmgenres orientiert, in der Vergangenheit spielt und in Schwarzweiß gedreht ist, ist der Film jung und unübersehbar ein Produkt der neunziger Jahre und vielleicht ein Hinweis darauf, daß Filmemachen zwar auch ein Handwerk ist, das sich erlernen läßt, aber auch viel mit Begabung und Passion zu tun hat.

Irene Genhart
geb. 1961, Studium der Germanistik, Philosophie und Filmwissenschaft in Zürich und Berlin. Verschiedene Praktika im Bereich Film und Medien, seit 1988 freie Filmjournalistin, seit 1991 Fachreferentin für Film, Theater, Photographie und Tanz an der Zentralbibliothek in Zürich. Eine Tochter, Zoe Sofie, geboren 1991.
(Stand: 2019)
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