PETER PURTSCHERT

DIE LETZTEN FREIEN MENSCHEN (OLIVER M. MEYER)

SELECTION CINEMA

Die romantische Verklärung des „Zigeunerlebens“ und der „fürsorgerische Jahrhundertskandal in diesem Land“ (WoZ) des Hilfswerks „Kinder der Landstraße“ der Pro Juventute prägen unser Bild von den Fahrenden. Zwar wird begangenes Unrecht heute teilweise aufgearbeitet - der Film trägt das seine dazu bei - und die Aufmerksamkeit, die der jenischen Minderheit zuteil wird, hat nicht mehr deren Vernichtung zum Ziel. Die traditionellen Arbeits- und Lebensräume der „letzten freien Menschen“ sind jedoch mehr denn je im Verschwinden begriffen. Standplätze, von denen aus die Fahrenden ihr Gewerbe betreiben könnten, fehlen nach wie vor in den meisten Gemeinden. Campingplätze stehen ihnen nicht offen, selbst wenn sie die Touristentaxen bezahlen würden. Die Bürgerinnen und Bürger, die im Wohnwagen das „Zigeunerleben“ für ein paar Tage im Jahr imitieren, schätzen es nicht, wenn nebenan gearbeitet wird. Es ist verboten, auf einem Campingplatz ein Gewerbe auszuüben.

Oliver Meyer schildert im ersten Teil des Films den Alltag von Fahrenden in poetischen und einfühlsamen Bildern ohne falsche Romantik. Selbstbewußt zeigen sich die Jenischen bei ihrer Arbeit als Händler und Scherenschleifer, und in ihren Wohnwagen, die sie gegen nichts anderes tauschen würden, obwohl sie durchaus ähnlich eingerichtet sind wie so manche, ihnen viel enger erscheinende Mietwohnung. Sie sind stolz auf ihren Familienzusammenhalt, der mehrere Generationen umfaßt. Die Kinder gehen im Winter zur Schule, und da ist die Hoffnung, „daß sie dann den Beruf der Eltern ergreifen werden, den sie ja durch Zuschauen von klein auf kennen“, wie eine Frau erzählt. Der Film bricht aus der Enge der schweizerischen Verhältnisse aus und zeigt die Fahrenden am internationalen Zigeunertreffen im südfranzösischen Saintes-Maries-de-la-Mer zu Ehren der Sarah, als schwarze Heilige eine von ihnen.

Der zweite Teil des Films beschäftigt sich mit dem Unrecht, das den Fahrenden durch Alfred Siegfrieds Hilfswerk „Kinder der Landstraße“ widerfahren ist. Seit den zwanziger Jahren wurden mit einer rassenhygienischen Argumentation, in Zusammenarbeit mit Behörden und unter stillschweigender Einwilligung von Bund und Öffentlichkeit, jenische Kinder den Eltern weggenommen, unter Vormundschaft gestellt, in Pflege gegeben und, oft gegen jedes geltende Recht, in Anstalten eingewiesen. Den Angehörigen wurde die Information über den Verbleib der Betroffenen verweigert. Mehr als 700 Einzelschicksale verzeichnen die Akten der Pro Juventute. Die Geschichten der Betroffenen Maria Mehr und Theresa Häfeli werden aufgearbeitet. Theresa Häfelis Kampf um ihre Kinder hat sie zum Journalisten Hans Caprez geführt, der ebenfalls zu Wort kommt. Erst seine Kampagne im Schweizerischen Beobachter setzte 1972 dem Treiben des Hilfswerks ein Ende. Seither kämpfen die Jenischen, bisher vergeblich, um eine akzeptable Wiedergutmachung.

Im zweiten Teil, dessen kämpferischer Ton beeindruckt, gelingt allerdings die bildliche Umsetzung nicht immer, und Hintergründe der schweizerischen Intoleranz und des latenten Rassismus, damals wie heute, werden bestenfalls angetönt. Die Informationen über die frühere und die heutige Lebensweise der Schweizer Fahrenden im ersten Teil bleiben ebenfalls oft zu allgemein.

Nebst vielen Bildern der Kamera und der direkten Sprache der Fahrenden gehen auch die im Film dokumentierten historischen Photographien unter die Haut, genauso wie die wunderschöne Musik von Pepe Solbach.

Es bleibt Regula Heusser (NZZ 2b.b.92) zu zitieren: „Eine beeindruckende Szene steht zwar am Ende des Dokumentarfilms, vermag aber die heterogene Arbeit nicht zur Geschlossenheit zu runden: ein Dutzend Fahrende sitzen um einen Tisch und hören sich ein Tonband an, auf dem ein Katalog von Eigenschaften verlesen wird, die dem ‚liederlichen, schwachsinnigen’ Volk angelastet werden. Die Kamera fährt gemächlich über die Gesichter, jedes einzelne schön in seiner Zeichnung durch das Leben, und fängt Resignation und Empörung ein.“

Peter Purtschert
geb. 1958, studiert Geschichte und Filmwissenschaft an der Universität Zürich, arbeitet als Drehbuchautor.
(Stand: 2019)
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