CHRISTOPH EGGER

DER GRÜNE HEINRICH (THOMAS KOERFER)

SELECTION CINEMA

Leopold Lindtberg und Richard Schweizer und nach ihnen Kurt Früh haben sich mit dem Projekt einer Verfilmung des „Grünen Heinrich“ getragen. Sie alle haben das äußerst schwierige Unterfangen schließlich aufgegeben - und damit Gottfried Kellers großem Roman seine Aura belassen. Nicht so Thomas Koerfer. Zwar hat sich auch seine Auseinandersetzung mit dem Stoff über Jahre hingezogen, hat drei Drehbuchautoren - nach Dieter Feldhausen und Thomas Hürlimann schließlich den Deutschungarn Peter Müller - und rund doppelt so viele Drehbuchfassungen erforderlich werden lassen, aber die Arbeit ist, mit einem Budget von rund 8,8 Millionen Franken, zu einem Abschluß gekommen. Zu keinem glücklichen, wie leider beizufügen ist.

Als erstes muß man wohl feststellen, daß Koerfer und Müller dem Stoff eine völlige Fehlkonzeption zugrunde gelegt haben. Unter Berufung auf den „verhinderten Dramatiker“ Keller haben sie alles unternommen, um einen erzählerisch-epischen Gestus zu vermeiden. Unvermittelt-klobige Wechsel der Schauplätze und wenig zwingende Neudefinitionen der Figuren haben nun offenbar für die beabsichtigte „Dramatik“ zu sorgen. In der tristesten Deutschschweizer Tradition steht der Dialog: Weder naturalistisch-direkt noch stilisiert-verfremdend, bleibt er reines Papier. Zuweilen glaubt man einer schlechten Parodie beizuwohnen, etwa wenn

Judith den gar nicht mehr grün anmutenden Heinrich post coitum fragt: „War’s das erstemal?“

„Der grüne Heinrich“ läßt sich, wie dies Koerfer und sein Drehbuchautor tun, unter dem Aspekt des Tods lesen. Das Schiefe und Unerklärlich-Falsche des Films rührt aus der Idee, ihn in einer Spätzeit anzusiedeln. Dekadenz also anstelle von Kellers ungemein anschaulich-diesseitiger Endlichkeit. Die schwülstigen Interieurs in Böcklinscher Drapierung, die dröhnende Vitalität, die die Männerfiguren unablässig zu markieren haben, sie entsprechen weit eher jener wilhelminischen Vorstellung des „Dionysischen“, wie sie ein C.F. Meyer repräsentierte (worauf den Schreibenden Peter von Matt aufmerksam gemacht hat), als etwa Gottfried Keller. Koerfer will, wie die Eröffnungssequenz mit dem „orgiastischen“ Faschingstrubel der Münchner Boheme unübersehbar demonstriert, einen Totentanz inszenieren. Am überzeugendsten ist dabei das Licht, das ihm sein Kameramann eingerichtet hat: dunstig warm zuerst, dann zu einer bleichen, blau-kalten Dämmerwelt gefrierend. Doch weder den Figuren noch dem Betrachter teilt es seine Wirkung mit, es sei denn diejenige einer lähmenden Teilnahmslosigkeit. So erscheint denn auch der von Heinrich in der „Trauer“ um die jungverstorbene Anna „gesuchte“ Tod - den er herbeiführt, indem er ein Duell mit seinem Malerfreund Lys provoziert und sich in dessen Degen stürzt - so deklamatorisch wie die ganze Pseudofechterei davor. „Den Tod“, sagt Heinrich, „den kannte ich schon vor dem Leben“, und in der Rückblende sehen wir, wie der kleine Bub mit dem Vater auf die Jagd geht, von der dieser nicht mehr lebend zurückkehren wird. „Vater ist tot, Gott ist tot!“ wird der Kleine später anstelle eines Vaterunsers bedeutsam dazu sprechen.

„Symbolhaftigkeit“ also statt Kellers reicher Psychologie, Behauptung statt dichterischer Evokation: Am fatalsten wirken sie sich auf die Bezirke aus, die dem Film erklärtermaßen am wichtigsten sind - diejenigen der Liebe. So sieht man sich denn nun mit an, wie beispielsweise aus der zauberhaften Meerkatzenepisode des kleinen Heinrich auf dem Theater eine grobschlächtige Posse wird, in der Gretchen (die nun keine andere als Judith sein soll) von Mephisto (der hier Zimmermann, Judiths späterhin verstorbenen Mann, vorzustellen hat) begattet wird, indem er ihr zugleich mit den Zähnen das Hemd zerreißt und sich in der

Brustwarze verbeißt. Auch Koerfers These von der Liebesunfähigkeit Heinrichs vermag der Film in keiner Weise aus sich selbst heraus evident und nachvollziehbar zu machen. Es sei denn gleichsam ex negativo, wenn Heinrich routiniert-gelangweilt Judith besteigt oder Annas Avancen trotzt, immer nach dem Motto der Kinowerbung: Seine Seele sucht Anna, sein Körper will Judith. Da die beiden Frauen offenbar eher dem 20. als dem 19. Jahrhundert zugehörig sein sollen, wissen sie auch ihre sexuellen Bedürfnisse anzumelden: „Nimm mich!“ fleht Anna, so daß man einen Moment glaubt, sie habe sich im Film geirrt.

Das Bestürzende an Koerfers Film ist, daß einfach alles falsch ist: seine windschiefen Vorstellungen von einem 19. Jahrhundert, die irgendwie auf einer Anker-Welt zu basieren scheinen (wo doch die Industrialisierung die Zeitgenossen beunruhigte), die zusammengekleisterten Schauplätze - wo die Figuren problemlos von der rheinisch-westfälischen Bauernkate über den Ballenberg ins Gebirge oberhalb der Baumgrenze wechseln können -, aber auch Psychologie, Sprache und Verhalten der Figuren, wie sie etwa in den Schulzimmerszenen oder in der Beziehung zwischen dem kleinen Heinrich und seiner Mutter zum Ausdruck kommen. „Hier war überall Farbe und Glanz, Bewegung, Leben und Glück, reichlich, ungemessen, dazu Freiheit und Überfluß, Scherz, Witz und Wohlwollen“, heißt es im Roman. Der Film weiß, so wenig wie von allem Verschatteten, nichts davon.

Christoph Egger
Redaktor für Film der Neuen Zürcher Zeitung, Mitglied der Jury für Qualitätsprämien des Bundes.
(Stand: 2019)
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