LORENZO HELBLING

GRIMSEL — EIN AUGENSCHEIN (PETER LIECHTI)

SELECTION CINEMA

Im bestehenden Grimselstausee noch eine Staumauer errichten, dann Wasser mit billigem Sommerstrom hinaufpumpen und zu Edelstromzeiten wieder runterlassen und kassieren. Gebraucht werden einige Milliarden Franken, 85 Kilometer neue Stollen und 17 Jahre Bauzeit und etwas ungenutzte, d.h. unnütze Landschaft. Das Projekt ist bestechend in seiner Plumpheit oder, wie es der Bildhauer Urweider in Grimsel ausdrückt, die Idee, „vier Millionen Kubikmeter Beton in ein Bergtal hinaufzutragen, damit das Wasser nicht abläuft, hat etwas unheimlich Primitives, gemessen an dem, was sonst so abläuft in der Technik“. Während der Drehzeit von Grimsel schien es, dass das Projekt „Grimsel West“ kaum realisiert würde, da zwei vom Kanton Bern in Auftrag gegebene Studien das Unter nehmen sowohl aus ökonomischen als auch aus ökologischen Gründen als wenig sinnvoll klassifizierten. Der Film wurde trotzdem gedreht, da imaginierte Projekte ebenso unser Denken aufzeigen können wie realisierte. Und Projekte können auch jederzeit wieder aus der Schublade geholt werden, wie dies nach Abschluss der Dreharbeiten mit dem Projekt „Grimsel West“ geschah.

Peter Liechti, der Flachländer ohne viel Liebe zu den Bergen („Ausflug ins Gebirge“), hat einen Sommer lang „einen Augenschein“ im betroffenen Gebirge vorgenommen, mit viel Bildgefühl sich die schon von einer bestehenden Staumauer und von Hochspannungskabeln bestimmte Landschaft angeschaut, Wolken am Himmel und Flechten auf Felsbrocken gefilmt, Autoreifen als stilles Ballett die Stau mauer hinuntertanzen und Leute über das Projekt, über Landschaft, Natur und Mensch sprechen lassen. Dass sie nicht mit der üblichen, kleinkarierten Wut der Betroffenen sprechen, macht ihre Aussagen umso militanter.

Wenn das Staudammprojekt tatsächlich etwas sehr Primitives hat, so hat Liechtis Film im Gegenteil sehr viel Poetisches, Subtiles und Differenziertes. Dem Massiven des gigantischen Projekts, das sich übrigens gerade durch diese Eigenschaften gut in eine gern heroisierte Bergwelt einfügt, antwortet Liechti mit einer von seinen Experimentalfilmen beeinflussten Filmsprache, mit einem subtilen Filmrhythmus, mit fragilen, poetischen Bildern. Dies lässt eine andere Bergwelt entstehen, eine verletzliche, sich verändernde, lebendige Landschaft, die zu beherrschen kaum noch als Heldentat erscheinen mag.

Lorenzo Helbling
geb. 1958, studierte Geschichte und Sinologie in Zürich und Shanghai, Lizenziat über den Film in China, lebt in Zürich.
(Stand: 2019)
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