NIKLAUS OBERHOLZER

DU MICH AUCH (ANJA FRANKE, DANI LEVY, HELMUT BERGER)

SELECTION CINEMA

Romeo fliegt jubelnd über die Grossstadt Berlin und landet mit dem glücklichen Ausruf: „Ich kann fliegen!“ bei Julia, die auf dem zerwühlten Bett in der billigen und etwas schmuddeligen Wohnung schmollt: Das junge Liebespaar — er Student mit Schauspielerambitionen, der das Studium aufgegeben hat, sie Gelegenheitsjobberin, beide zusammen ein dilettierendes Duo mit Sax und Gitarre — zerstreitet sich. Er läuft davon, sie klaubt die Fotos von den Wänden, zerreißt sie in Stücke, wirft sie aus dem Fenster und schreit: „Leck mich am Arsch!“ Romeos Antwort „Du mich auch!“ prangt als Filmtitel nach diesem rasanten Vorspann auf der Leinwand. Der Untertitel dieser schweizerisch-deutschen Koproduktion präzisiert: „Ein Liebesfilm“.

Ein Liebesfilm? Da gibt es vorerst mehr Zankerei als Liebe zwischen Romeo (Dan i Levy) und Julia (Anja Franke). Nichts scheint mehr zu gehen. Langweilig ist es geworden: Trübe Aussichten für eine Beziehung am Anfang des Erwachsen-Seins— bis eine Leiche auf Romeos Fuss liegt und eine echte Krimi-Story die fad gewordene Liebes-Story durchkreuzt: mit bösen Gangstern, einer hastigen Flucht durch nächtliche Parks, einer Filmrolle als Beweismittel, mit Autojagd und Schiesserei. Wie dies alles möglich — oder vielmehr eben unmöglich — wird, ist Nebensache, denn innere Logik der Handlung scheint weder gefragt noch beabsichtigt. Wichtiger ist, dass Romeo und Julia von aussen genau jenen Anstoss erhalten, den sie offenbar brauchen: Gefahr schweisst sie zusammen, und Angst jagt sie durch die dreckigen Gassen und Hinterhöfe der Grossstadt. Zur Angst gesellen sich Hoffnungen und Träume: Eine alte Frau steckt Romeo die Adresse eines Paares zu, das sich nach über 50 Ehejahren noch so liebt wie am ersten Tag, das immer noch „jenes Kribbeln“ spürt. Diesem Traum hetzen Romeo und Julia nach: Sie klingeln alle Wohnungstüren eines Hochhauses ab, versetzen sich in ihrer Phantasie nach Italien — und sind gleichzeitig immer wieder auf der Flucht vor den Gangstern.

Der Film ist locker inszeniert und voller Gags. Eins jagt das andere. Überraschung folgt auf Überraschung. Die Stimmungen wechseln rasant; vor allem Julia durchlebt ein wahres Wechselbad der Gefühle und fällt vom lustigfröhlichen Auflachen plötzlich in die Rolle der rührseligen Heulsuse. Die Protagonisten sind einem heillosen Durcheinander der Stimmungen ausgesetzt und von einem gegensätzlichen, widersprüchlichen Innenleben geprägt; sie sind noch Kinder, ohne Kontrolle über sich selber.

Nicht nur darin zeigt es sich, dass der Film mehr ist als eine leichtfüssige, amüsante Geschichte. Natürlich ist sie angereichert mit Sentimentalitäten und einer Art von „Sozialkitsch“, aber die Autoren überspielen das immer wieder mit einem tüchtigen Schuss Selbstironie. Dazwischen und zwischen all den Gags jedoch lässt sich auch tiefer blicken — Du mich auch wirft ein Schlaglicht auf die düsteren Hintergründe eines traurigen Lebens am hoffnungslosen Ende der Grossstadt, die als graue, abblätternde Kulisse erscheint und den Traum von der Liebe, die auch nach 50 Jahren noch kribbelt wie am ersten Tag, umso bunter — und unwahrscheinlicher? — erscheinen lässt.

Dominierend ist hier aber die Freude am Filme-Machen. Dani Levy und Anja Franke scheinen davon besessen zu sein. Sie ist denn auch immer zu spüren — in den Bildern, welche die Autoren suchen als Illustrationen für die wirbeligen Charaktere, im Einsatz der vielen Einfälle, die mitunter etwas isoliert und um ihrer selbst willen in die konfuse Handlung eingebaut wirken, in den Hinweisen auf die Filmgeschichte, in den Rückgriffen auf Vorbilder aus dem klassischen Kriminalkino, im Spiel von Dani Levy und Anja Franke vor allem, das gleichzeitig echt und schrill aufgesetzt wirkt. Dieses Spiel ist geprägt von unkritischer Nähe und ironischer Distanz, und man zweifelt keinen Augenblick daran, dass die beiden Hauptdarsteller und Hauptautoren in ihrem Film-Erstling Du mich auch auch privates Erleben und eigenes Lieben verarbeitet haben.

Niklaus Oberholzer
*1940, studierte Kunst- und deutsche Literaturgeschichte. 1974 wurde er Leiter des Kulturressorts des Vaterland, der Luzerner Zeitung und der Neuen Luzerner Zeitung. Er war Mitglied des Stiftungsrates von Pro Helvetia. Für seine Arbeit als Kunstvermittler wurde Oberholzer 1996 mit dem Anerkennungspreis des Eidgenössischen Departements des Inneren ausgezeichnet. Als freier Publizist schreibt er für Medien und Verlage.
(Stand: 2019)
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