CYRIL THURSTON

LE VOYAGE DE NOEMIE (MICHEL RODDE)

SELECTION CINEMA

Das Fernsehen als Imaginationsquelle für die Abenteuerlust der heutigen Kinder; das ist der Ausgangspunkt von Michel Roddes Film, der als absurdes Märchen aufgebaut ist.

Camille, die Moderatorin einer Fernsehserie, spricht dem knabenhaften Mädchen Noemie einen Wunsch aus dem Herzen: Das Meer zu sehen. Noemie verlässt das elterliche Haus und glaubt, dem durch die Stadt fliessenden Fluss folgend, zwangsläufig das Meer und somit ihr Idol Camille finden zu können. Voller Vertrauen lässt sie sich in einem kleinen Ruderboot flussabwärts treiben, bis sie in einem Städtchen ans Ufer gelangt. Sie besteigt einen Aussichtsturm. Durch ein überdimensionales Fernrohr kann sie das Meer erblicken, ja, durch ihren dem Fernrohr vorgehaltenen Kinderfeldstecher kann sie sogar einzelne, bunte Fische erkennen. Ihr Ziel scheint nahe zu sein, doch wie fern dennoch die reale Erfüllung der Träume sein kann, zeigt die sich immer wieder hinauszögernde Reise, die Noemie anschliessend durchläuft. Beim Abstieg passiert Noemie einen hinter hohen Mauern verschlossenen Garten, aus dem sie geheimnisvolle Rufe vernimmt. Neugierig dringt sie in den Garten ein und erblickt einen kindlichen Mann, der auf einer Schaukel sitzt und gestossen werden möchte. Noemie tritt in die Welt der Erwachsenen-Kin- der, jene der bösen, hinterhältigen Feen und Wunder, ein: Diese Welt wird sie bis zum Ende des Films begleiten. Louis, ein debil und zugleich intelligent wirkender, wohl im Kindheitsstadium stehengebliebener Mann, wird von Marguerite, einer völlig überdrehten, hinterlistigen alten Frau, zu der er eine Art Mutterbeziehung hat, immer wieder gequält. Marguerite wartet ihm stets mit kleinen gemeinen Tricks, hinterlistigen Streichen auf, und trotzdem scheint er mit ihr verbunden, von ihr abhängig zu sein. Noemie beginnt das Spiel der beiden mitzuspielen und versucht, möglichst unberührt, für sich das Beste herauszuholen. Vorerst skrupellos nimmt sie die Hilfe von Louis an, der sich in kindlich blindem Vertrauen an sie hängt und sie auf ihrem Weg zum Meer verfolgt. Marguerite versucht die beiden auf ihrem Weg mit Streichen aufzuhalten, doch von Noemie gewissermassen besiegt, begibt sie sich auf einen Friedhof, wo sie vom Diesseits ins Jenseits tritt. Übrig bleibt nur eine Fotografie auf einem Grabstein, die von ihrer einstigen Aktivität auf dieser Welt zeugt.

Zwischen Noemie und Louis entsteht eine Freundschaft, die aber stets dadurch gekennzeichnet ist, dass Noemie es versteht, die Dienste von Louis für ihren Zweck zu instrumentalisieren. Dem Ziel nahe, entdecken sie ein Theater, in dem Camille, das lang herbeigesehnte Idol Noe- mies, auftritt. Heimlich dringen sie auf die Bühne vor und stören die Vorstellung. Camille fällt in einen todesähnlichen Zustand und wird in ein Asyl überbracht, aus dem sie von den beiden wieder entführt wird. Verfolgt vom Theaterdirektor und einem mysteriösen Schiffskapitän, dem Noemie schon am Anfang ihrer Reise begegnet ist, gelingt ihnen die Flucht zum Meer. Das auf dem Dach ihres Autos festgemachte Boot, in welches Camille sargähnlich gebettet ist, gleitet ins Meer. Für Momente kehrt Camille ins Diesseits zurück und winkt von ferne ihrer Bewunderin Noemie zu.

Der Film ist sicherlich nicht (nur) als reale Abenteuerreise eines Mädchens zu verstehen. Es handelt sich um Traumbilder, Wunschbilder. Sie haben die den Träumen eigene surreale Ausdruckskraft: Ein Auto, aus dem aus allen Öffnungen Rauch entweicht; Marguerite, der es alleweil gelingt, mit dem Trottinett die beiden wieder einzuholen; die Verdoppelung von Camilles Boot in ein Miniaturboot, das der Schiffskapitän aus einer Pfütze fischt und mit dem er durch die Dünen tanzt. All diese magischen Momente verdichten den Film zu einem Märchen der kindlichen Imagination.

Leider wirken einige dieser traumhaften Sequenzen zu aufgesetzt, zu gewollt magisch und mysteriös. Die Gestik Marguerites, die überdreht im Garten rumhüpft, die mit ihrem Zauberhammer in der Gegend rumfuchtelt, droht ins Lächerliche abzugleiten. Die immer wieder auftauchenden Hindernisse bei der Reise zum Meer wirken zu repetitiv, die Abläufe zwischen den dreien, Marguerite, Louis und Noemie, zu stereotyp. Die Bilder, mit denen Michel Rodde sein Märchen erzählt, vermögen allerdings die magische Stimmung wiederzugeben. Er hat für seine Geschichte traumhaft schöne Drehorte gefunden, die in ihrer Entrücktheit der kindlichen Traumwelt gerecht werden. Ein wunder Punkt ist die Musik, die zwar mit ihren sich wiederholenden Motiven ein emotionales Gewebe erzeugt, die aber zu kitschig, zu dick aufgetragen ist und so die Bilder nicht zu unterstützen vermag, sondern diese eher erdrückt.

Dennoch ist Le voyage de Noemie, im Gegensatz etwa zu Koerfers Konzert für Alice, ein ausdrucksstarkes Märchen, das einem in seinen dichten Momenten packt und Einlass gewährt in die Welt der kindlichen Imagination.

Cyril Thurston
geb. 1957, seit 1982 für die Programmierung des Kinos Xenix in Zürich mitverantwortlich, Mitarbeiter des Filmfestivals Locarno 1987/88, hat verschiedene Kurzfilme realisiert und ist seit 1991 mit einer Senegalesin verheiratet.
(Stand: 2019)
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