CYRIL THURSTON

CADA DIA HISTORIA (JEDER TAG GESCHICHTE) (GABRIELLE BAUR, KRISTINA KONRAD)

SELECTION CINEMA

Wenn man die Schweizer Filmproduktion des vergangenen Jahres betrachtet, findet man fast keine politischen Dokumentarfilme. Im übrigen stellt man fest, dass die meisten überzeugenden Filme im Ausland gedreht wurden. So stammt denn auch dieser Videodokumentarfilm aus dem Ausland, aus Nicaragua, dem Land, das für viele Linke politischen Symbolgehalt hat. Bedroht durch eine aggressive, kommunistenfeindliche US-Aussenpolitik, bietet Nicaragua ein gutes Feld für politische Kontroversen. Der Film von Gabrielle Baur und Kristina Konrad verfällt aber nicht einem vereinfachenden Bild von Freund und Feind. Den Menschen in Nicaragua sehr nahe, zeichnen die Autorinnen ein differenziertes Bild eines sich im Wandel befindenden Landes.

Mittels Porträts von Frauen und deren Familien zeigen sie die direkte Betroffenheit der Bevölkerung durch die aktuelle politische Situation auf. Doña Petrona lebt auf dem Land in einer Kooperative. Sie verkörpert die stämmige, selbstsichere Frau, die die Revolution bejaht, dennoch aber an den traditionellen Werten der Familie und dem damit verbundenen Machismo festhält. Ihre Stärke gewinnt sie nicht als Ehefrau, sondern als Mutter. Doña Clementtna hat zwölf Kinder, was für Lateinamerika nicht aussergewöhnlich ist. Sie lebt in der Stadt und tritt aktiv für die Ziele der Sandinisten ein. Heftig wehrt sie sich auch gegen den Machismo und lebt als Konsequenz allein. Ihre Stütze sind ihre Kinder, insbesondere der älteste Sohn, der inzwischen im Krieg gefallen ist, und ihr einmal den Mann ersetzte, ohne eheliche Verpflichtungen eingehen zu müssen. Ihre älteste Tochter hat soeben ein Stipendium für ein Studium in der UdSSR erhalten, ein Privileg, das sie damit bezahlen muss, für sechs Jahre nicht in ihr Heimatland zurückkehren zu können. Für Dona Elsa hingegen sieht die Realität im neuen sozialistischen Staat anders aus. Als Kleinhändlerin darauf angewiesen, ihre Produkte in der näheren Umgebung verkaufen zu können, spürt sie die harte Realität eines Landes, das sich im Krieg befindet. Wegen der Contra ist die Gefahr zu gross, das Dorf zu verlassen, was ihr schlechtere Geschäfte als vor der Revolution beschert. Für sie hat der politische Wandel persönlich bis jetzt nur Nachteile gebracht, was verständlich macht, dass sie für die Sandinisten keine besonderen Sympathien hegt.

Der Film macht deutlich, dass eine Revolution erst einen ersten Schritt bedeutet, den äusseren Rahmen schaffen kann für eine Entwicklung, die noch folgen muss. Keineswegs gebrochen ist die Vorherrschaft der Männer, die nach wie vor ihre Frauen unterdrücken, oft übermässig trinken und den Frauen die grosse Last der Sorge für die Familie überlassen. Sicher wird in einzelnen Fällen diese Rollentrennung überwunden, wie im Falle von Tacho und Otilia, doch wenn Tacho anstelle seiner Frau Wasser trägt, wird er von seinen Nachbarn noch immer schief angeschaut. Die Verbindung einer patriachalischen Kultur mit einem tief verwurzelten Katholizismus, eine Verbindung, die in ganz Lateinamerika vorherrscht und von der die Alltagskultur des Volkes geprägt ist, kann auch durch eine progressive Ideologie, die dieser Tradition mit der Revolution entgegengesetzt wurde, nicht von heute auf morgen überwunden werden. Es ist allerdings zu spüren, dass ein Überdenken der überlieferten Strukturen im Gange ist. Die freiwillig kämpfenden Frauen einer Frauenbrigade, die denen der Männer gleichgestellt ist, versuchen die neuen Werte einer Gleichstellung von Frau und Mann in Praxis umzusetzen. Dass sie nach wie vor eine Minderheit darstellen wird in Gesprächen mit ebenfalls an der Front kämpfenden Männern klar. Sie respektieren zwar die Ziele dieser Frauen, können sich aber den Einsatz ihrer eigenen Freundin oder Frau an der Front nicht denken.

Dass Cada dia historia sich nicht nur auf die Darstellung der äusseren Bedrohung durch die USA und ihren verlängerten Arm, die Contra, beschränkt, sondern vor allem die inneren Vorgänge eines Gesinnungswandels, der längerfristig betrachtet für das Gelingen der Revolution bestimmt von grösster Bedeutung ist, aufzeigt, hebt den Film von den vielen oberflächlichen, ideologisch verbrämten Agitationsfilmen ab. In schlichten, ungekünstelten Bildern zeichnen Gabrielle Baur und Kristina Konrad ein vielschichtiges, differenziertes Bild dieses jungen sozialistischen Landes, ohne dabei im Bemühen um angestrengte Ausgewogenheit einer klaren Stellungnahme für die Sandinisten zu entbehren.

Cyril Thurston
geb. 1957, seit 1982 für die Programmierung des Kinos Xenix in Zürich mitverantwortlich, Mitarbeiter des Filmfestivals Locarno 1987/88, hat verschiedene Kurzfilme realisiert und ist seit 1991 mit einer Senegalesin verheiratet.
(Stand: 2019)
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