ANDREAS BERGER

LEBENSRÄUME (CLEMENS STEIGER)

SELECTION CINEMA

Der rund dreiviertelstündige Film ist so etwas wie die Quintessenz der auch in diesem Jahr zahlreichen Privat- und Introvertiertenfilme: Ein wildes, chaotisches Suchen nach unmittelbaren Bildern, direkt ausgedrückten Emotionen und Erfahrungen, mit hemmungslos narzistischer Perspektive. Das eigene Zimmer des Filmautors, in diesem Fall des Zugers Clemens Steiger, der eigene Filmbetrachter und die eigene Beziehungslosigkeit zu Mitmenschen auf der grossen Leinwand, wo sonst verlogene Gefühle dominieren, vermischt mit den üblichen, stereotyp wirkenden Alltagsmomentaufnahmen: graue Betongrossstädte, endlose Autobahnen, sterbender Wald, flimmernde Fernsehsequenzen, verlangsamte Bewegungsabläufe und gefrorene Bilder (welche spätestens seit Godards Sauve qui peut (la vie) zum Markenzeichen jedes Experimentalfilmers zu gehören scheinen). So etwas wie Handlung gibt es nicht, doch da sich der Filmemacher direkt miteinbezieht und die Herstellung seines Werks gleich mitdokumentiert, ist Lebensräume auf emotionaler Ebene nachvollziehbar; wobei es nicht unbedingt die angenehmsten Gefühle sind, die Steiger dabei anspricht.

Der Autor hat durchaus recht, wenn er zu seinem Film schreibt: „Lebensräume ist kein Spielfilm, kein Dokumentar- oder Experimentalfilm, sondern Film, d. h. konzentrierte Wirklichkeit in 64’500 Bildern.“ Aber diese sartröse cineastische Lebensschau hilft primär nicht dem Zuschauer, sondern dem Filmautor im Verständnis zeitgenössischer Wirklichkeit über den Umweg von Kamera und Kinoleinwand weiter; als Zuschauer empfindet man jedoch eher Monotonie, Unlustgefühle und Ueberdruss. Filmemacher können (und müssen manchmal) sich mit solchen privaten Filmen frei machen von ähnlichen Gefühlen, um möglicherweise später mit kreativeren, weniger egozentrierten und deshalb verbindlicheren Werken zu überraschen.

Andreas Berger
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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