CORINNE SCHEIBEN

EIN NÜCHTERNER SPIELER AUS DEUTSCHLAND — NIKLAUS SCHILLING, DER EXILSCHWEIZER

CH-FENSTER

Niklaus Schilling, der gebürtige Basler, lebt und arbeitet seit 1965 in München. Er bezeichnet sich selber als «Deutschen mit einem Schweizer Pass». Er spricht ein akzentfreies Hochdeutsch. Er kommt ab und zu mal in die Schweiz, neugierig, als Tourist sozusagen. Und reist wieder ab. Er scheint kein Heimwehschweizer zu sein und war auch keiner von denen, die viele Male zum Bahnhof gingen, bis sie endlich abfuhren. Der gelernte Dekorateur machte hier, noch als Teenager, ein paar Schmalfilme, arbeitete einige Zeit in Zürich als Kameraassistent und ward nicht mehr gesehen. In Deutschland wurde er bald zum begehrten Kameramann der Münchner Schule und arbeitete auch mit Jean-Marie Straub. 1971 legte er seinen ersten Spielfilm, Nachtschatten, vor, mit privaten Geldern finanziert und eigenhändig vertrieben. Dann kam eine lange Pause, der 1976 Die Vertreibung aus dem Paradies folgte. (Der kompromisslose, ganz dem Kinofilm verschriebene Regisseur war 5 Jahre lang arbeitslos, nicht zuletzt darum, weil Fernsehredakteure seine Stoffe als nur für die Leinwand geeignet ablehnten. Das Fernsehen als labyrinthische Bürokratie hat Schilling denn auch in Vertreibung aufs Witzigste hochgenommen.) Kurz darauf folgte Rheingold und 1979 war Schilling mit Der Willi-Busch-Report bei seinem vierten Kinofilm angelangt. Die Kontinuität seiner Arbeit scheint in Deutschland gesichert.

Spuren eines Schweizers

Der spielerische, virtuose und phantasievolle Filmemacher kann kaum noch als Schweizer betrachtet werden. Und weil wir ihn nicht mehr für uns beanspruchen können, obgleich wir ihn in der von Nüchternheit und Didaktik beherrschten Schweizer Filmlandschaft ganz gut gebrauchen könnten, suchen wir nach seinen «schweizerischen» Qualitäten, damit er doch noch etwas Nützliches von seiner Nationalität abbekommen hat. Schilling ist ein pedantischer, langsamer, genauer Schaffer. Seine Filme sind unglaubliche Präzisionsarbeit. (Etwa die Dreharbeiten im fahrenden Zug Rheingold, auf einen in Sekundenschnelle vorbeirasenden Hintergrund minutiös konzipiert.) Er ist ein Tüftler, ein technischer Avantgardist. (Ingeniöse Kameraarbeit, erster deutscher Benutzer des Steadicam-Systems in Willi-Busch.) Und wenn wir bei ihm schon ein Gefühl der Enge und Grenzüberschreitungen hervorkramen wollen, dann finden wir in allen seinen Filmen das Motiv der Grenze. In Nachtschatten ist es die Lüneburger Heide, die, einmal beschritten, dem Protagonisten den Tod bringt. In Vertreibung aus dem Paradies fährt ein unterbeschäftigter Schauspieler von Rom nach München, entflieht dort der Kälte und kehrt wieder zurück in seine «Heimat», die Cinecittà. In Rheingold fährt die Heldin im Zug von Düsseldorf in die Schweiz; bei der Grenzüberquerung, in Basel, stirbt sie. Im Willi-Busch-Report bestimmt das deutsche Zonenrandgebiet Schicksal und Befindlichkeit der Personen; Willi Busch lebt von und mit der Grenze.

In der Thematik, in der Auseinandersetzung mit Gegebenheiten hingegen findet sich bei Schilling nichts Schweizerisches. Deutschland interessiert ihn, seine Mythen und Märchen, seine Kino-Vergangenheit. Deutsche Kritiker gestehen ihm zu, dass er für deutsche Eigenarten und Skurrilitäten ein besonders scharfes Auge hat. Schilling:

In München arbeitete ich anfangs mit Leuten, die alle kleine Amerikaner werden wollten; zu ihrer eigenen Tradition, zur deutschen Filmvergangenheit hatten sie kaum ein Verhältnis. Als Exilschweizer war ich da unbelasteter, vielleicht auch neugieriger. Dass die Misere des deutschen Films auch mit dieser Identitätskrise zusammenhing, begann ich langsam zu begreifen.

Rückkehr zum Heimat- und Heimwehfilm

Nachtschatten wurde als «Heimatfilm» besonderer Art gerühmt. Deutsches Kino (dasjenige der 50er Jahre mit Filmen wie Grün ist die Heide, Rosen blühen auf dem Heidegrab), deutsche Folklore, deutsche Schlager lieferten Anleihen und Versatzstücke. Schilling hatte als erster deutscher Jungfilmer den deutschen Trivialfilm entdeckt. Als Autoren, von «denen er etwas gelernt hat», nannte er damals neben Grossen wie Lubitsch, Murnau und Lang in einem Atemzug auch Leute wie Trenker, Berger, Wisbar, Staudte und Stemmle, die verfemten Exponenten von «Papas Kino». Nun bekundeten auch andere deutsche Filmer Liebe für Kitsch und die popartigen Wahrzeichen der 50er Jahre-Kultur; Fassbinders Verehrung für Sirk, sein Benutzen von Alt-Stars wie Karl-Heinz Böhm und Adrian Hoven, Praunheims «Bettwurst»-Heimkino, Schroeters Begeisterung für Catherina Valente, Kluges lange Reminiszenz über die 50er Jahre in Der Kandidat, gipfelnd in einem Auftritt von Conny Froboess, sind Beweis dafür, dass man auch in Deutschland auf den Geschmack von kunstvoller Kunstlosigkeit gekommen ist. Aber Schillings Liebe für das Kleinkarrierte und Kleinbürgerliche, für das Muffige und Miefige (man betrachte nur die Wohnungseinrichtung in Vertreibung aus dem Paradies, durchstilisiert bis hin zu Pelzpantöffelchen, Illustrierten auf dem Küchentisch, Nippsächelchen und abscheulich-schönen Stehlampen) scheint einem reinen Enthusiasmus zu entspringen, wird ohne Herablassung oder Zynismus präsentiert.

Das Wort «Heimatfilm» taucht in den Rezensionen all seiner Filme regelmässig wieder auf. Auch Vertreibung ist eine Art Heimatfilm - Andy Pauls auf der Suche nach der verlorenen Zeit in seiner Kindheitsstadt München, seine Trauer darüber, dass das Kino einem Supermarkt weichen musste, sein Eintauchen ins Deutsch-Deutsche durch Ansicht von Filmen wie Der Tiger von Eschnapur mit Paul Hubschmid und Debra Paget. In Rheingold hört ein kleines Gretchen mit dicken, blonden Zöpfen im Zug den alten Märchen des Grossvaters zu, während an ihnen das Rheinland mit seinen sagenumwobenen Burgen, Felsen und Städten vorüberzieht. Auch Der Willi-Busch-Report ist ein doppelbödiger Heimatfilm, in welchem das Grenzkaff Friedheim mit seinen putzigen Fachwerkhäusern eine dörfliche Idylle ausstrahlt und die durch Willi Busch in seinem Messerschmitt-Gefährt und seiner ledernen Fliegermütze à la Quax, der Bruchpilot gar noch etwas Vorsintflutliches erhält.

Heimatfilme, wie auch immer geartet, ob nostalgisch-gebrochen der Blut-und-Boden-Romantik huldigend oder liebevoll-ironisch Kleinbürgerliches zitierend, setzen natürlich ein Gespür für das Richtige und Falsche voraus, erfordern ein genaues Verständnis der Anti-Kunst. Schilling ist ein Manierist und ausgiebiger Kinozitierer, ein Jongleur mit verschiedenen Genres, die er, wie in Vertreibung aus dem Paradies, gekonnt miteinander vermischen kann. Er liebt das Artifizielle, dort, wo es im Kino als verselbständigte Realität erscheint. Er liebt auch das Irrationale, das Kapriziöse, die Details, in denen sich eine Umgebung zu einem Klima verdichtet. «Eine deutsche Gefühlswelt» soll in seinen Filmen zum Ausdruck gebracht werden, sein Kino soll als «Erlebnisraum» funktionieren. Ein Charakteristikum seiner Filme ist, dass sie alle realistisch beginnen, und dann immer unwirklicher, versponnener werden. Schilling, der Phantast, sagt: «Ich brauche den Boden, um mich davon abheben zu können.»

Unterhaltungsfilm ohne Publikum

Obgleich Schillings Filme unterhaltsam und verspielt sind, keine akademische Konstruiertheit und bemühte Intellektualität aufweisen, ist der grosse Publikumserfolg bisher ausgeblieben. Bei der Aufführung von Rheingold an der Berlinale 1978 musste er sogar entrüstete Buhrufe hinnehmen. Seine gewitzten Trivialfilme, seine melodramatischen Einschübe, seine Vorliebe für scheinbar banale, kinowirksame Geschichten, sein sinnlicher Umgang mit Bildern und Tönen (auch bei der Musik weiss er genau, wann man eine Verdi-Oper und wann man einen Drupi-Schlager einsetzen soll), kurz, sein Allround-Kino scheint beim grossen Publikum merkwürdigerweise nicht anzukommen. So ist er der Liebling der Kritiker geblieben, die seine keineswegs sich elitär gebenden Insider-Anspielungen verstehen und würdigen. Es hat etwas Trauriges, dass ausgerechnet derjenige, der in Deutschland dem Kino zurückgegeben hat, was des Kinos ist, ein Aussenseiter-Dasein führt. Nachtschatten wurde allerdings anlässlich einer kürzlichen Retrospektive schon als «Kultfilm» bezeichnet, und man kann sich gut vorstellen, dass Schilling durch diese Hintertür einmal die Leinwand in grossem Stil erobern wird.

Der rasende Reporter

Im Willi-Busch-Report sind alle Eigentümlichkeiten, die Stärken wie Schwächen Schillings in konzentriertester Form vertreten. Auch hier sein untrüglicher Sinn für groteskkomische Verbindungen. Der Lokalreporter Willi Busch, der durch den Darsteller Tilo Prückner schon etwas extrem Ausgeflipptes hat, zitiert ausgiebig seinen Namensvetter Wilhelm Busch. («Und willst du werden Journalist, hab Stift und Papier, dort, wo du bist») Willi, der mit Sensationsnachrichten dem moribunden Blatt «Werra-Post» zu höheren Auflagen verhelfen möchte und daher in eigener Regie für Skandale sorgt, ist trotz hektischer Aktivitäten ein Träumer und Weltfremder. Die Vermischung von Provinzverschlafenheit, altertümlichen Busch-Versen und Boulevardjournalismus ergibt einen ganz eigenen, verrückten Humor, der, obgleich auf dem Boden der Aktualität stehend, ins Phantastische ausufert. Und auch hier wieder die Liebe für kleinste Kleinigkeiten, fürs «Gebrochene»: Der Besuch des Reporters beim «Goldenen Jubelpaar» des Städtchens, das «Wunder von Friedheim», bei dem ein kleines Mädchen von Schafen umringt die Wiedervereinigung Deutschlands verkündet, Willi, ausgerüstet mit einem winzigen Notizbüchlein im Bett seiner Freundin, Willi, der mit einem welken Pflanzenblatt in der Hand am Zonenrand verzweifelt nach seinem entlaufenen Kaninchen Munzel ruft... Schillings Affinität zur Folklore, zu den kleinregionalen Betätigungen, zu Schützenfesten und Vereinsmeierei. Aber auch die grossen Bögen sind da: Willi, der für Sensationen sorgen will und die Geister, die er gerufen hat, nicht mehr loswird, den Boden unter den Füssen verliert. Der Anachronismus eines verschlafenen, geruhsamen Provinznests gleich neben einem potentiellen Pulverfass, der schwer bewachten und verminten «Todeszone». Willi, der seine Identität verliert im Niemandsland.

Und da ist Schilling, der technische Erneuerer und Experimentator, der einen Spielfilm fast ganz mit dem Steadicam-System gedreht hat. Es handelt sich dabei um ein Stabilisierungssystem, bei dem durch Federaufhängung die Kamera freischwebend und nach allen Richtungen beweglich ist. Der Kameramann, der diese Apparatur sozusagen als lebendiges Stativ trägt, kann so sich bewegende Darsteller begleiten, kann einer Szene stetig folgen, ohne dass - wie bei der Handkamera - die Bilder verwackeln. So ergibt sich beim Zuschauer ein Gefühl der unmittelbaren Nähe, ein fast halluzinatorisches Gefühl von Dabeisein, weil er immer die Perspektive der Akteure hat und somit deren Betrachtungsweise einnehmen kann. Schilling: «Ich wollte bei diesem Film eine dokumentarische Kamera verwenden, die quasi wie ein Fotograf mit dem Willi herumläuft und ihm immer über die Schulter guckt.» So benutzt er das neue System nicht nur als selbstzweckhaftes Spiel mit der Technik, sondern integriert es in die Person des Reporters als Parabel für einen Menschen, der immer hinter etwas herrennt und bald zwischen Wahn und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden kann.

Niklaus Schilling ist ein Phantastiker, der auf Umwegen zielsicher sich der Wirklichkeit annähert. Er macht unvernünftiges, ganz auf Sinnlichkeit konzentriertes Kino, ohne sich je im Un-Sinn oder im übertriebenen Tiefsinn zu verlieren. Er spielt, mit Genres, Stilen, Traditionen und Kinomythen, aber er ist ein nüchterner Spieler, der die Wirklichkeit, wie entrückt sie auch immer sein mag, nie selbstherrlich verzerrt. Ein realistischer Träumer, der noch immer den Boden braucht, um sich davon abzuheben.

Der Willi-Busch-Report: P: BRD 1980, Visual-Filmproduktion; R: Niklaus Schilling; B: Niklaus Schilling; K: Wolfgang Dickmann; Schnitt: Niklaus Schilling; Ton: Herbert Prasch, Klaus Eckelt; D: Tilo Prückner, Dorothea Moritz, Kornelia Boje u. a. 35 mm, Farbe, 120 Minuten

Corinne Scheiben
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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