JÖRG HUBER

AUSVERKAUF DER TRÄUME — EINE BETRACHTUNG ZU MICHAEL CIMINOS THE DEER HUNTER

ESSAY

Fünf Oscars, beträchtlicher Erfolg an amerikanischen und europäischen Kinokassen, spaltenlange widersprüchliche Berichte und Kritiken, ein Eklat an den Internationalen Filmfestspielen von Berlin: Michael Ciminos The Deer Hunter) ist ein fragwürdiger Erfolg. Seine Ursachen sind meines Erachtens weniger in dem zu suchen, was Cimino zeigt, sondern in der Art, wie er es macht.

Auf eine kurze Formel gebracht, Hesse es sich etwa so sagen: Cimino versucht mit allen Mitteln, mit einer hochentwickelten Filmtechnik und den raffiniertesten Mitarbeitern, einer Illusion Realitätscharakter zu verleihen. Eine Vorstellung soll mit allen dem heutigen Filmemacher (der über ein entsprechendes Budget verfügt) zu Gebote stehenden Mitteln als Wirklichkeit inszeniert werden. «Dokumentarische Authentizität» ist das von Cimino genannte oberste Prinzip.

Nur wenige kennen den Vietnamkrieg aus eigener Erfahrung. Der Grossteil der Menschheit, die sich immerhin irgendwie zum Indonesienkonflikt hat steUen müssen, hat nur Vermittlungen der Sache kennengelernt: Fernsehsendungen, Dokumentarfilme, ein paar Spielfilme (sehr wenige, denn Vietnam war kein Kinofilmthema), Augenzeugenberichte, Reportagen.

Wir hatten jede Nachricht (jede Vermittlung) aus Vietnam dazu benützt, unsere Stellung zum Konflikt zu definieren. «Vietnam» war für uns ein politisches Problem. Ciminos fiktiver Dokumentarismus jedoch versucht, sich und seinen Betrachter jeglicher Argumentation zu entheben. Cimino tut -offenbar mit Erfolg - so, als ob er nur von rein menschlichen Werten handle. Und er unterschlägt (oder er merkt nicht oder streitet ab, was auch immer), dass auch alles, was er zeigt, mit politischen und historischen Implikationen gespickt ist. Er meint: Menschliche Erfahrungen sind einfach wahr; sie entziehen sich dem kritischen Zugriff des Historikers oder des (politischen) Journalisten.

Der Moralismus seines Films und die Legitimation seiner Macher realisieren sich ästhetisch durch eine dramaturgische «innere Wahrheit» der Geschichte, durch eine stringente formale Logik und eine überzeugende, «richtige» Bildsprache. Der Zuschauer wird in die mitreissend erzählte Story eingesogen, mit allen erdenklichen Mitteln darin gefesselt und nach drei Stunden «erschüttert» wieder entlassen. Zu einer kritischen Auseinandersetzung bleibt ihm weder Zeit noch Gelegenheit. The Deer Hunter) ist ein besonders tückischer Angriff auf das Publikum, das während des mittleren Teils, des Vietnam-Teils, sozusagen den Kopf einzieht und sich auf den Bauch legt, und das nachher, wie noch zu zeigen ist, zum Opfer seiner eigenen Sentimentalität gemacht wird.

Typisch für die hilflose Art der Publikumsreaktionen ist die immer wieder auftauchende Frage nach dem «Wahrheitsgehalt» der Szenen mit dem nachgerade legendären «Russischen Roulette». Befürworter wie Kritiker zitieren Augenzeugen in den Gerichtsstand. Und der ausschlaggebende Punkt, nämlich warum Cimino überhaupt das Russische Roulette zum zentralen Handlungsmoment seines Films macht, wird schon kaum mehr berührt. Hinter dieser vordergründig klärenden Fragestellung verbirgt sich der ohnmächtige Versuch, sich gegen die Schockhypnose des Films zur Wehr zu setzen.

Die technische Perfektion in der plastischen Imitation von Realität fördert im Zuschauer das Gefühl, selber Augenzeuge zu sein, mitzuleiden. Sie produziert eine Art von Erlebnis, das nur noch nacherzählend, wiederholend «bewältigt» werden kann. Über die Form der filmischen Vermittlung wird man kaum reden, weil alles so suggestiv-authentisch gemacht ist. So wird der Film, der noch Produkt eines Drehbuchs und eines technischen Apparates, von willkürlichen Entscheidungen also ist, zum unmittelbaren Ausschnitt authentischen menschlichen Lebens. So wird Ideologie transportiert, ohne dass man sie als Ideologie erkennt. Cimino steht insofern in der stärksten aller amerikanischen Filmtraditionen, in der Tradition des Western oder auch des Melodrams. Ich muss gar nicht daran erinnern, wie oft Western und Melodramen von ihren Machern, aber auch von der bürgerlichen Kritik als «unpolitisch» bezeichnet werden.

Wichtig für Cimino waren primär nicht einmal so sehr die Handlungselemente, sondern die Schauplätze. Das Drehbuch ergab sich erst im Nachhinein durch das Beziehungsspiel der festgelegten Örtlichkeiten: der schnee- und eisbedeckte Mount Baker im Staate Washington, die Sankt-Theosius-Kathedrale in Cleveland, die synthetische (d. h. aus acht Städten zusammmengesetzte) Industriestadt, die amerikanische Botschaft und die Strassen von Bangkok, die thailändischen Urwaldlandschaften und die Fluten des River Kwai. (Cimino vergisst übrigens nicht, darauf hinzuweisen, dass an den meisten von ihm gewählten Schauplätzen noch nie gefilmt worden sei. Die Bevölkerung sei deshalb auch schneller und enthusiastischer zur Mitarbeit bereit gewesen als in mediengewohnter Gegend. Deshalb wirke alles viel «echter» ...)

Die kaltnasse Winterstimmung wurde mit verschiedensten Tricks erzwungen: man drehte schliesslich während des wärmsten Sommers seit 20 Jahren. Das Gras wurde mit Chemikalien behandelt, bis es das richtige «Kalifornien-Braun» hatte, und in grossem Ausmass entlaubte man die Bäume und Buschwerk ... mit dem bewusst einkalkulierten Risiko, dass die bearbeitete Natur endgültig in den Winter verfiel, auslöschte. Ein riesiges Berggebiet wurde eingezäunt, weil der wilde Hirsch wirklich wild sein sollte. Cimino mobilisierte echte Stahlarbeiter, um «ihre Art zu denken und zu sprechen» kennen zu lernen; Robert de Niro trieb sich inkognito in ihrem Lebensraum herum. Auch in «Vietnam» musste alles stimmen: Die Helikopter der Fluss-Szene waren zurzeit gerade im Einsatz zur Sicherung der Grenzen gegen Kambodscha und flogen zwischenhinein ihre Filmeinsätze. Das militärische Material konnte schliesslich - da das Defense Department bei Filmen nicht mehr mitmachen will - in Thailand beschafft werden, obwohl die asiatischen Staaten gerade daran waren, ihre politischen Beziehungen zu Hanoi zu normalisieren. Robert de Niro und John Savage Hessen sich bei der brenzligen Fluchtszene nicht von Stuntmen ersetzen. Die Filmhelden wurden zu den Kriegshelden, realistisch.

Ciminos Ehrgeiz ging nicht nur dahin, äusserliche Übereinstimmung herzustellen. Seine naive Realismus-Akribie dient einer moralischen Botschaft. Die pedantisch rekonstruierte Wirklichkeit wird ja dann auch zu Symbolen verdichtet (der Hirsch), zu Stimmungs- und Gefühlsgefässen geweitet (die Bergwelt) oder zu exemplarischer Bedeutung zugespitzt. (Ironischerweise mussten die aufschlagende Authentizität erpichten Filmleute ausgerechnet dort an Grenzen stossen, wo in der Tat Wirklichkeit im Bild zu erscheinen drohte: Die Fabrikdirektoren der verschiedenen Schwerindustrieanlagen erlaubten ihnen nicht, die rauchenden, luftverpestenden Schlote zu filmen.)

Das «realistic documentary feeling» wird im Übrigen ebenso sehr wie mit der Inszenierung der Menschen und Personen mit der Inszenierung der Farben und des Lichts durch Vilmos Zsigmond (Chefkameramann) und mit der Arbeit von Skip Nicholson von Technicolor erzielt. In jedem Moment versuchte Zsigmond - der auch anderes kann, vgl. seine Arbeit für Close Encounters of the Third Kind» - möglichst realistisches Licht herzustellen, natürliche Lichtquellen zu benützen oder zu imitieren. Etwa 30 Prozent des Filmmaterials der Kriegsszenen wurde von Zsigmond unterbelichtet und überentwickelt (auch über den Umweg von Internegativen), bis es aussah wie gealtertes Dokumentarfilmmaterial. Das ist dann schon Realismus um sieben Ecken herum, eben nur «realistic feeling». Das gleiche gilt über weite Strecken vom Ton.

Ciminos Form- und Milieu-Naturalismus bestimmt auch den Inhalt und den Erzählstil. In detaillierten Bildern schildert er den Lebensraum der Hauptfiguren und ihre Beziehungen untereinander. In einer Art und Weise, die doch die Berechnung deutlich machen sollte. Am Ort der harten Arbeit in den Stahlwerken werden die Freundschaftsbande geknüpft zwischen den hartgesottenen Kerlen mit dem weichen Herz. In der hehren Bergeswelt werden Natur, Vaterland und Männerfreundschaft hymnisch überhöht. Und die ausladend gefilmten Hochzeitsszenen bringen neben den patriotischen Gefühlen auch die kulturell bindende Tradition ins Spiel. Im ersten Drittel ist alles penetrant darauf ausgerichtet, Verwurzelung, Freundschaft und Intimität aufzubauen. Alles lässt den Zuschauer sich einfühlen, die moralischen Werte inhalieren, dem Menschen «persönlich» (menschlich) zu begegnen.

Der Vietnam-Teil bringt dann genau das Gegenteil: eine dämonische Natur, lauernden Tod und drohende Vernichtung. Und nicht die Amerikaner tragen die Krankheit in diese Natur. Sie ist da, verkörpert im Vietkong. Als mordende Teufel und brutale Andersrassige (ohne Heimat) bauen sie die Hölle des Verderbens, aus der die drei sympathischen armen amerikanischen Stahlarbeiter der zweiten Einwanderergeneration zu entkommen versuchen. Sehnsucht nach der Heimat, nach der alten Geborgenheit taucht auf. Der Zuschauer geht wieder mit. Cimino lässt ihm keine andere Wahl: Mit Schockschnitten, mit action-Kamera (aus der Hand gefilmt, laufend, ans Flugzeug geklammert) wird die Stimmung angeheizt. Eine geballte Ladung physischer und psychischer Brutalitäten geht los, nur mit Not erträglich. Apokalyptisch münden diese Szenen in Bilder von Massenflucht und -Zerstörung, von Spitälern, überfüllt mit lebendigen Toten.

Wie ein Alptraum ist dann plötzlich der Spuk vorbei. Michael, der Held, kehrt heim. Ciminos Schlag sitzt: Voll Ekel, Abscheu, geladen mit Aggressionen solidarisiert man sich mit den amerikanischen Opfern ... und nicht etwa gegen jene anderen Amerikaner, die sie in diesen Krieg geschickt haben, sondern gegen jene, die sie effektiv kaputt gemacht haben. Glaubwürdig und gefühlsschwanger wird die menschliche Entfremdung bei der Heimkehr inszeniert. Alte Schauplätze sind nicht mehr die alten Schauplätze. Für Michael und Steven stimmt nichts mehr. Der saloppe Ton will nicht mehr gelingen. Alles tut weh. Die Figuren gehen an sich und an dem Publikum, das sie geliebt hat und hernach bemitleidet, vorbei. Wie ein kalter Lufthauch. Der Zuschauer ist ebenso verloren wie die Krieger, und er wird wie sie entlassen. Cimino hat in perfekter Dramaturgie zerstört, was er aufgebaut hat, und er lässt den Zuschauer im Glauben, der Vietkong sei’s gewesen.

Cimino will gewöhnliche Menschen zeigen, die in die tiefste Nacht des Schreckens tauchen, um wieder zurückzukehren und erneut zu leben zu versuchen. Historische Voraussetzungen und politische Überlegungen scheinen ihm für diesen Film unwichtig. Hier versagt sich Cimino seinen unbedingten Fanatismus für dokumentierte Wahrheit. The Deer Hunter sei kein politischer, kein intellektueller Film; er sei vielmehr ein «persönliches, gefühlvolles Werk».

Ciminos dramatischer Moralismus und sein ästhetischer Naturalismus gehen nahtlos ineinander über und unterstützen sich gegenseitig. Einer ziemlich dürftigen Story wird mit sämtlichen Mitteln eine Wirkung geschenkt, die sie plötzlich unausweichlich macht. Und damit sei noch einmal jene zweite Dimension der Ideologie der Kinoindustrie angedeutet: Es geht ja nicht nur um die inhaltliche Interpretation der Wirklichkeit, sondern auch um die Funktion des Films, d. h. um die technisch formale Realisierung, um die Art und die Weise der Vermittlung und die einkalkulierte Wirkung. (Immerhin müssen ja die investierten 15 Millionen Dollar Früchte tragen. Zu unangenehm darf ein teurer kritischer Film wirklich nicht sein.)

Am Ende des Films singen kaputte Vietnam-Veteranen und traurige Industriearbeiter «God bless America». Der Geist lebt also weiter ... Amerika scheint in Bezug auf seine Vergangenheit in Indochina nur noch Träume und Lügen zur Hand zu haben, um das nationale Selbstbewusstsein zu stützen. Die Politiker finden ihre versierten Diener in allen Bereichen, so auch im Filmgeschäft: Plumpe (John Wayne damals mit Green Berets), raffinierte wie Michael Cimino, der einen Traum, den nationalen Mythos, perfekt verpackt, so perfekt, dass jeder - diesseits und jenseits des Atlantiks - mitzieht.

The Deer Hunter. P: Universal/EMI-Films; R: Michael Cimino; B: Deric Washbum nach der Story von Cimino, Louis Garflnkle, Quinn K. Redeker; K: Vilmos Zsigmond; Ton: Darin Knight, Richard Portman, Aaron Rochin, William McCaughey, Frank Reale; Schnitt: Peter Zinner; Musik: Stanley Myers; Darsteller: Robert de Nim, John Cazale, John Savage, Christopher Walken, Meryl Streep, Goerge Dzundza, Chuck Aspgren u. v. a. m. 35 mm, Panavision, 183 Min.

Jörg Huber
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(Stand: 2020)
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