WERNER JEHLE

HINAUS... UND ZURÜCK, UM BESSER ZU SEHEN — EIN GESPRÄCH MIT FREDI M. MURER

CH-FENSTER

Grauzone, ein schwarz-weisser Spielfilm, ist Fredi Murers jüngstes Werk. Der Autor nennt es einen «fiktiven Dokumentarfilm». Es kommen zwei Menschen drin vor: ein kinderloses Ehepaar um die Dreissig. Sie wohnen in Zürichs Grauzone, zwischen Stadt und Grüngürtel, im Bereiche der Autobahnzubringer, der Rangierbahnhöfe, Kläranlagen, Schrebergärten, Sportplätze, Lagerhallen und Wohnsilos. In einem davon leben sie. Ziemlich weit oben, mit Blick aus schwindelerregender Höhe auf die von Verkehrslärm und Industriebetrieb rauschende Umgebung. Die Wohnung ist von durchschnittlichem Zuschnitt; praktische Verbindung von Verkehrsfläche und Wohnraum, bruchloser Übergang von Korridor in den geräumigen Salon, von der Küche zur Essnische und zum Balkon. Grauer Durchschnitt, «mittelmässiger als mittelmässig» würde Murer sagen. Die Ökonomie der Wohnform wiederspiegelt das Leben der Bewohner: er mit Überwachungsaufgaben in einem Industrieunternehmen betraut, sie Sekretärin in einer Werbeagentur.

In der Monotonie solchen Daseins haben auch die Requisiten des Fernwehs, der Sehnsucht nach Ausbrach ihren festen Platz, ihre Nischen. Der Leopard aus Porzellan neben dem Sofa, die Negermasken darüber, die Palme neben dem Fernseher, die Kakteen im Blumenkasten. Und wenn das Paar durch Fussgängerschächte hindurch und via Überführungen ins Speiselokal der noblen Kategorie gelangt und hier in die Speisekarte versinkt, stehen da – von Maraschino bis Hawaii – die leeren exotischen Versprechen.

Murer ist wieder bei den Eskimos. Er hat die Weite des Mittleren Westens erlebt und ist zurückgekehrt in die Enge, seziert sie nun aus der Distanz. Dieses Distanznehmen ist bezeichnend für Murers Arbeit. Wenn man ihn fragt, antwortet er, schon die Urner Bergler (Wir Bergler in den Bergen, 1975) habe er aus der Entfernung, aus physischer und psychischer Distanz gesehen, so wie Flaherty in Nanook of the North die Eskimos. Er war damals, als er sich vorbereitete auf den Bergler-Film, in London.

Was heisst Distanznehmen, was heisst «fahren» für Murer? Was bedeutet Ortswechsel in der Biographie eines Filmemachers, der die Geschichte des jungen Schweizer Films seit der Mitte der sechziger Jahre mitgeprägt hat Ich befragte ihn an einem grauen Februar-Montag in seinem geheizten Atelier.

Fredi fing «ganz von vorne» an. Als er sieben Jahre alt war, zügelte seine Familie von Beckenried am Vierwaldstättersee in den engen Kanton Uri. «Es muss an einem regnerischen Tag gewesen sein. Ich habe alle meine Freunde verloren. Das war für mich wie eine Verbannung. Ich habe gewusst, da bleibe ich nur solange als es unbedingt sein muss.» Das sind Sätze, die der 39jährige ohne Pathos spricht. Er ist dann tatsächlich mit sechzehn nach Zürich gegangen und ist dort «nach Irrwegen» in die Fachklasse für Fotografie an der Kunstgewerbeschule gekommen. Als die Fotoklasse den Katalog für eine Filmausstellung herstellen musste, kam Murer das erste Mal mit dem Film als Film-Kunst in Berührung. Das war 1960.

Wir fotografierten direkt von der Leinwand, und so sah ich die wichtigsten Filme der Filmgeschichte drei-, viermal. Daher kommt meine Faszination für den Film. Plötzlich stand für mich fest, dass ich filmen würde. Vor allem zwei Erlebnisse wirkten auf mich: der Dokumentarismus von Flaherty in Nanook of the North oder Man of Aran und die Phantastik eines Bunuel. Flaherty gab mir das Gefühl, das könne ich auch: Filme machen mit sehr wenig Aufwand, ethnographische Filme, die im Kontakt mit Leuten entstehen. Man muss am richtigen Ort sein, mit den richtigen Augen, dann kann man die Filme machen. - Bei Bunuel, dem anderen Pol, fand ich einen Hang zum metaphysischen, philosophischen, aggressiven Denken und Handeln, fand ich jenen katholischen Background, den ich von meiner eigenen streng katholischen Erziehung her begreifen konnte.

Mit den Schweizer Filmen von damals hatte Fredi Murer nichts im Sinn, «weder mit den Gotthelf- und Früh-Sinn-Filmen, noch mit den neueren von Marti und Seilern. – «Wir sind nach Knokke zum Experimentalfilm-Festival gepilgert und haben erste Warhol-Filme gesehen, nach Donaueschingen zu den Musiktagen, wo Flügel zersägt worden sind. Da haben wir uns heimisch gefühlt.» – In dieser Zeit ist Chicorée (1966) entstanden, ein Film, der in der Schweiz erst offizielle Anerkennung fand, nachdem er in Oberhausen ausgezeichnet worden war. Das «Sichheimischfühlen» wurde Murer nicht leichtgemacht, besonders nach seinem Beitrag zu Swissmade von 1969.

Ich habe mich damals fundamental missverstanden gefühlt, von der Kritik ignoriert, missverstanden und massakriert. Ich empfand wieder die gleiche Enge, die mich am Ende meiner Schulzeit aus Altdorf vertrieben hat, und bin mit der ganzen Familie nach London gegangen. Warum nach London? Es musste ein Ort sein, an dem man nicht mehr deutsch redet. London war das nächste unter den fernen Zielen. Ich habe aber während des Londoner Jahres erfahren, wie sehr ich mit der Schweiz verbunden blieb. Engländer haben mich auf meine schweizerischen Eigenheiten aufmerksam gemachte.

Während des Londoner Aufenthalts ist Murers Vater in Amsteg gestorben. Es kamen Bergbauern zur Beerdigung, ein Arzt, der Murer auf eine Urner Sagensammlung aufmerksam machte. Mit dieser Literatur unter dem Arm ging Fredi Murer zurück nach London.

Da habe ich plötzlich meinen Nanook of the North in Reichweite gesehen. Also: statt zu den Eskimos zu gehen, bin ich zu den Urner Berglern zurück. (Von London aus wäre es gleich weit gewesen zu den Eskimos wie zu den Urnern.) Mich faszinierte das magisch animistische Denken, das da noch vorhanden sein musste. Es erwachte ein Forschungsdrang in mir. Ich wusste, dass ich keine Künstlerfilme mehr machen wollte. Jetzt sah ich die Möglichkeit, die empfundene Leere auszufüllen, auch eine Möglichkeit, zurückzukehren mit dem Medium Film an die Quellen, zurückzukehren in die Schweiz, über Zürich hinaus wieder zurück zum Ausgangspunkt meiner ersten Flucht.

Es ist völlig ausgeschlossen, dass ich als Ältdorfer hätte diesen Urner Film machen können. Ich hätte dann ähnlich wie alle Talboden-Urner die Bergler verachten müssen, hätte mich abzuheben versucht von dieser «primitiven» Herkunft. Es bedurfte der Distanz. Abgesehen davon, dass ich im Kanton Uri keine Möglichkeit gehabt hätte, je Filme zu machen. Es bedurfte des Klimas, der Herausforderungen, der Denkanstösse einer Stadt wie Zürich. In Uri wäre ich im besten Falle in eine Fotolehre und hätte Souvenir-Filme gemacht.

Ich bin also zurückgekommen, um diesen Bergler-Film zu machen und war dann eine Weile beschäftigt Ich weiss jetzt, wie man einen ethnographischen Dokumentarfilm macht, ich könnte jetzt ins Wallis, ins Tessin, ins Berner Oberland und eine Serie von Filmen drehen über Bauern, dachte ich. Aber da fehlte das Feuer, das es braucht für eine kreative Arbeit Durch die Beschäftigung mit den Ufner Bergbauern war ich vier Jahre älter geworden. Ich habe gemerkt, dass ich nicht mehr hinter gewisse Filme zurückgehen konnte, dass ich nach dem Urner Film keinen Chicorée mehr machen konnte, weil ich die Unschuld einfach verloren hatte. Schliesslich war auch ich verhängt mit der filmpolitischen Entwicklung in der Schweiz, habe die Phase der Bekenntnisfilme, in denen man sagte, wie «links» man steht, miterlebt, die Zeit der Sozialarbeiterfilme, der Filme über Randgruppen aller Art. Ich habe gespürt, dass esoterische Künstlerporträts ausser Kurs gekommen sind. Der Urner Film hat mich versöhnt mit der Filmszene, mit der Schweiz und meiner spezifischen Herkunft als Innerschweizer.

Jetzt ging ich wieder auf die Reise. Diesmal nach Kanada und den USA. Ich konnte inzwischen Englisch. Ich blieb vier Monate und kam von Kanada bis hinunter an die mexikanische Grenze, habe zwischendurch immer wieder meinen Film gezeigt. Auf der Reise habe ich angefangen zu bemerken, dass mich die äusseren Verhältnisse in der Schweiz zum Sozialarbeiter-Filmer zu machen drohten. Das passt mir nicht. Ich bin kein Dokumentarist. Ich will Geschichten erzählen. Das heisst nicht, dass ich inzwischen nicht politisiert worden bin. Ich möchte auf die Zeit, aufs Klima reagieren. Ich empfand mich aus der Entfernung als Seismographen, als einen, der möglichst künstlerische Filme über möglichst aktuelle Themen macht, als einen, der eine Symbiose anstreben sollte zwischen seinem Spieltrieb und seinem politischen Bewusstsein. Ich habe das Filmen an sich - das Finden von neuen Erzählformen, den Umgang mit der Kamera, mit ‹Cadrage› und ‹Découpage› - immer als politische Tätigkeit empfunden. Das wurde nach 68 weitgehend ignoriert.

Ich habe mich in Amerika gefragt, wo meine Qualitäten liegen. Die Antwort kam aus der geographischen Distanz, in der kulturellen Fremde, im anderen Sprachgebiet. Zuunterst an der Westküste in San Diego am Meer habe ich gewusst: jetzt bist du am weitesten weg von zuhause. Wenn du jetzt weiter nach Westen gehst, kommst du in den Osten. Ich habe die Welt als Kugel erlebt, eine Dimension, die man in der Schweiz höchstens von einem Berg aus in der Dämmerung erleben kann. Das Erlebnis der Weite hat mich mit einem ‹unheimlich› guten Gefühl erfüllt.

Ich hatte, nachdem ich zurückgekommen war, zum ersten Mal den Drang, auf dem Land zu wohnen, und habe im Umkreis von dreissig Kilometern ausserhalb Zürichs ein Haus an einem Fluss gesucht, von dem aus ich kein zweites Haus sehe. Das gibt es einfach nicht! Ich bin während drei Monaten in Spiralen um Zürich herumgefahren. Da verdichtete sich das Bild vom Rattenkäfig Schweiz. Ich erfuhr, was Überbesiedelung ist, entdeckte erst die Grauzone, das verbaute Zeug. Ich las auch irgendwo, die Schweiz habe den grössten ProKopf-Beton-Verbrauch der Welt. Ich hatte das Gefühl, die Enge und Kleinräumigkeit müssten sich auch auf das Denken und die Lebensart auswirken. Dabei sehe ich nicht nur das Negative dieser Enge. Ich erlebe diese Enge umso deutlicher, nachdem ich Grenzen überschritten habe. Ich bin jedoch in der Schweiz geboren, ich gehöre da hin. Das ist ein Teil meiner Identität. Ich will hier arbeiten und meine Filme machen. Nach Amerika hiess das, auf die «überdurchschnittliche Mittelmässigkeit» der Schweiz einzugehen; den Anpassungszwang, die Gleichmacherei in der Politik, die übertriebene Kompromissbereitschaft.

Fredi Murer hat dieses Bild der Schweiz unter dem Titel Grauzone gegeben. Ohne mit der Faust auf den Tisch zu schlagen, nein, eher liebevoll zergliedert Murer mit der Kamera die anonyme Schweiz der Oerlikons und Birsfeldens. Während ein Durchschnitts-Ehepaar verfolgt wird über ein Wochenende hinweg, wird sinnlich fassbar, wie wenig möglich ist in diesem Rahmen. Der Mann klettert als Tonjäger über einen Zaun, um Vogelstimmen aufzunehmen, und wird prompt von einem Beamten angehalten. Sie «hört Platten mit den Kopfhörern wegen der Nachbarn». Und während sich graues Unbehagen über jede Bewegung der Menschen in diesem Film legt, dringen Meldungen von einer mysteriösen Epidemie aus dem Radio-Lautsprecher und dem TV. Symptome dieser Epidemie: plötzlicher Drang, ins Freie zu gehen; sich von Orten der Vergangenheit angezogen fühlen; tiefe Trauer; traumloser Schlaf...

Fredi Murers Bilder sind sowohl im literarischen als auch im filmischen Sinn überwältigend. Zu der Vision von eingeschlossenen Menschen, von Konventionen erdrückten Individuen kommen Serien von autonomen Einstellungen: Jalousien, Wände, Mauern, Raum-begrenzende, beengende Architekturteile, Zäune, Türen, Abschlüsse aller Art, Gitter, Balustraden. Enge wird nicht proklamiert, sondern demonstriert. Murer sagt, er hätte sie besonders empfunden nach dem Erlebnis Amerika, «wo du einfach sieben Stunden Zug fährst und ab und zu ein Häuschen mit zwei mageren Kühen drum rum siehst und dann wieder lange nichts».

Grauzone. P: Nemo Film AG Zürich; P’leitung: Hans-Ulrich Jordi; B: Fredi M. Murer; R: Fredi M. Murer; K: Hans Liechti; Beleuchtung: Benny Lehmann, Fortunat Gartmann; Ton: Florian Eidenbenz; Schnitt: Rainer Trinkler; Musik: Mario Beretta; D.Giovanni Früh, Olga Piazza, Janet Haufler, Walo Lüönd, u. a. 16 mm, sw, 103 Minuten

Werner Jehle
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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