Rolf Lyssys Konfrontation — ein Spielfilm zur Zeitgeschichte
Rolf Lyssy ist der erste schweizerische Filmschaffende, der ein Ereignis der Wirtschaftskrise und der Frontenbewegung zum Thema eines Spielfilms gewählt hat. Das Ereignis selbst
— die Erschiessung des Landesgruppenleiters der NSDAP in der Schweiz, Wilhelm Gustloff, durch den jugoslawischen Studenten David Frankfurter — ist seit der Fernsehsendung Die Schweiz im Krieg von Werner Rings wieder etwas ins allgemeine Bewusstsein gerückt. Ein Vergleich der Arbeit Lyssys mit der Behandlung des gleichen Stoffes durch Rings zeigt deutlich, dass ein den historischen Quellen folgender, nach den psychologischen Hintergründen und politischen Zusammenhängen fragender Spielfilm der Wirklichkeit bedeutend näherkommen kann als eine sich nur am äussern Ablauf der Ereignisse orientierende Kompilation von Archivmaterial und späteren Befragungen.
Auch Lyssy hat, sogar sorgfältiger und gründlicher als Werner Rings, die zeitgenössischen Presse- und Wochenschauberichte sowie die Literatur zum Falle selbst und zur Geschichte der ganzen Epoche studiert, hat überlebende Augenzeugen, unter ihnen David Frankfurter selbst, befragt
— doch erkannte er rechtzeitig, dass jeder Chronist, so streng er sich auch an die Fakten hält, schon allein durch die Auswahl des Stoffes nicht nur zum Interpreten, sondern zum Geschichtenerzähler wird. Aus dieser Situation hat
Lyssy die Konsequenz gezogen: Statt durch krampfhaftes Festhalten an historisch beglaubigten Fakten eine vermeintliche Wirklichkeitsnähe vorzutäuschen, bekannte er sich dort, wo Aktenlage und Dramaturgie es erforderten, zur Fiktion.
Bezüglich der Quellentreue lassen sich in Konfrontation drei Ebenen unterscheiden: dokumentarisches Archivmaterial, nachgespielte Szenen und Fiktion. Das Archivmaterial (vorab Wochenschauausschnitte) dient der Vergegenwärtigung gewisser Ereignisse in Deutschland: das Staatsbegräbnis Gustloffs in Schwerin, Stimmungsbilder von antisemitischen Aktionen, später Kurzaufnahmen von Opfern aus Konzentrationslagern. Als Beispiel für die fugenlose Verschmelzung dieser Dokumente mit der Spielhandlung sei Frankfurters Reise von Jugoslawien über Berlin nach Bern im Sommer 1934 erwähnt: Die Spielhandlung zeigt Frankfurters Abreise aus Jugoslawien, wo er an der Beerdigung der Mutter teilgenommen und Vater und Bruder besucht hat, dann folgen zeitgenössische Strassenbilder aus Berlin mit Aufforderungen zum Judenboykott, Hitlerbildern, etc., dazwischen wieder eine gespielte Szene, in der Frankfurters Onkel von zwei SA-Männern niedergeschlagen wird, direkt anschliessend wieder Archivmaterial mit antisemitischen Aufschriften an verschiedenen Bahnhöfen, das von Frankfurters Stimme im Off überspielt wird und zu der in Bern lokalisierten Spielhandlung zurückführt.
Nachgespielt wurden die Hauptstationen des Prozesses vor dem Bündner Kantonsgericht in Chur. Da Frankfurter den Landesgruppenleiter der NSDAP nicht persönlich kannte, sondern in ihm den «gefährlichen Bazillus» treffen wollte, der die «Pest des Nationalsozialismus» verbreitete, war es legitim, die Figur Gustloffs erst in Rückblenden während der Gerichtsverhandlung zu profilieren: Geradezu gespenstisch wirkt hier die Vereidigung neuer Ortsgruppenleiter vor einem Radioapparat, aus dem die Stimme von Rudolf Hess die Eidesformel verliest.
Einen Schlüssel zur Persönlichkeit des Helden bietet dessen Zögern vor der Tat («... als ich Frau Gustloff sah, kam mir der Gedanke, dass es sich um einen Menschen handelt»): Frankfurter ist eine von innerem Zwiespalt gepeinigte Figur, die in einzelnen Zügen an die Gestalt des Hugo aus Sartres Schmutzigen Händen erinnert. Der Verteidiger (grossartig gemimt von Wolfgang Hiller) prägt den treffenden Begriff des «schleichenden Affekts», der sich in einem bestimmten Augenblick entladen musste.
Im fiktiven Teil des Films, nämlich in der ganzen Vorgeschichte der Tat, hat Lyssy die Figur Frankfurters so gestaltet, dass sie der Charakterisierung des Täters in den Gerichtsprotokollen entspricht: als introvertierten, mit leichten Minderwertigkeitsgefühlen belasteten Studenten, dessen Selbstverständnis auf dem jüdischen Glauben basiert (sein Vater sowie ein Onkel sind Rabbiner). Unter dem Eindruck der Judenverfolgungen in Deutschland verwandeln sich seine Prüfungsängste in eigentliche Schuldgefühle: Der Psychiater wird später von einer «reaktiven Depression» sprechen, die, abgelenkt durch das Judenproblem, zu einem «sekundären, politischen, statt zu einem Selbstmord» führte. Der Schauspieler Peter Bollag hat sich so vorzüglich in die schwierige Rolle eingelebt, dass die historische Tat aus der fiktiven Handlung heraus glaubwürdig und überzeugend erscheint.
Lyssy bot sich die seltene Chance, am Ende seines Films die gespielte Rolle des David Frankfurter mit der Gestalt des heute in Israel lebenden wirklichen David Frankfurter zu überblenden. Damit erhält nicht nur der Wirklichkeitsgehalt des ganzen Films eine wichtige Stütze, sondern auch seine historische Relevanz. Für eine jüngere Generation ist der «Fall Gustloff» bereits Geschichte, das heisst: ein abgeschlossenes Ereignis der Vergangenheit, das man so oder anders interpretieren kann. Die Konfrontation des Zuschauers mit dem lebenden David Frankfurter, der von seinen weiteren Schicksalen erzählt, verweist indessen auf die Aktualität des Vorgangs von 1936, ruft die historische Motivation in Erinnerung, die hinter der Gründung des Staates Israel steht und erklärt vielleicht auch ein wenig die heute oft schwer verständliche Unnachgiebigkeit der israelischen Politik. Der lebende David Frankfurter (nicht Lyssy) gibt seinem historischen Protest gegen den Nationalsozialismus, mit dem sich der Zuschauer spontan identifizieren konnte, eine aktuelle politische Deutung, die da und dort zum Widerspruch reizen, auf jeden Fall aber zum differenzierten Nachdenken zwingen wird. Ein psychologischer Bruch zwischen der fiktiven, der historischen und der lebenden Gestalt des Attentäters lässt sich kaum nachweisen. Bereits im Jahre 1936 erklärte Frankfurter auf die Frage der Witwe Gustloffs, warum er geschossen habe: «Weil ich Jude bin!» Dass Lyssy den Mut gehabt hat, diese Motivation so klar zu zeigen, verdient, jenseits aller politischen Meinungen und Lager, Anerkennung.
Nicht zuletzt hat Lyssy auch die Klippe des Sprachproblems in mustergültiger Weise gelöst. Die Figur des Jugoslawen Frankfurter bot Gelegenheit, nach dem Schema «Fremdling in der Schweiz» die Schauspieler Schriftdeutsch sprechen zu lassen. Doch Lyssy liess es nicht dabei bewenden: Er verzichtete konsequent auf die Mundartfärbung der Schriftsprache und liess lediglich dezidiert deutsche Aussprachegewohnheiten fallen (beispielsweise wird die Endsilbe «-ig» nicht als «-ich» ausgesprochen). Nicht einmal beim Gespräch von Schweizern unter sich (auf dem Polizeiposten etwa) machte Lyssy die Konzession von Dialekteinschüben, die sich gerade bei diesem Thema als Versuchung aufdrängen musste. Die Konsequenz bat sich gelohnt! Nach wenigen Szenen hat sich der Zuschauer auch bei rein schweizerischen Belangen an die Schriftsprache gewöhnt: Die Kunstform des Films, genau wie jene der Literatur, verliert durch die Verwendung der geschriebenen anstatt der gesprochenen Sprache im Dialog nichts von ihrer Relevanz und Wirklichkeitsnähe.