URS REINHART

10 JAHRE SCHWEIZER FILM — 10 JAHRE SOLOTHURNER FILMTAGE

CH-FENSTER

«... stellen wir Ihnen in öffentlichen Aufführungen mit Siamo Italiani und Les Apprentis zwei Werke vor, deren noch jüngere Regisseure sich deutlich vom bisherigen Stil unserer Heimatfilme lösen», schrieb Paul Schmid in der Einladung zur Werkschau «Schweizer Film — heute» im Januar 1966. Es war der Anfang der Solothurner Filmtage. Der Anlass kostete die Film Gilde Solothurn 5 800 Fr. und schloss mit einem Thé dansant. Im Restaurant «Chutz» hielten Dr. Iso Keller, Peter Bichsel und Stefan Portmann Kurzvorträge (so nannte man damals noch die Statements). Es herrschte Aufbruchsstimmung, Hoffnung. Das Wort Filmschaffen wurde im Zusammenhang mit Adjektiven wie frei, modern, neu, unabhängig, kreativ ausgesprochen, vielleicht erstmals deutsch und französisch im selben Raum und stets mit dem Bezug schweizerisch, respektiv suisse.

Dieses filmische Rütligeschehen im «Chutz» wirkte 1966 bei den Filminteressierten als Auslöser für Erwartungen, die sich aus Frankreichs Nouvelle Vague, aus den unabhängigen, deutschen Filmen der Schamonis, von Schlöndorff, Senft, Kristl, nicht zuletzt auch aus dem cinéma vérité nährten. Damit war auch der Charakter der Filmtage für die nächsten Jahre geprägt: im Sinne eines Antifestivals, zumindest für damalige Festivalvorstellungen, mit Verzicht auf Preise und Mondänes, mit Öffnung zum Publikum. Öffnung auch zum unbekannten Filmschaffenden hin mit Hilfe des Werkschaugedankens und seinen holzschnittartigen Auslesekriterien. Aufruf zum Kreativen, auch Aufruf zu unzähligen, selbstmörderischen Selbstfinanzierungen, wie sich erwies. Die Verlockungen der Freiheit. Die «Frankfurter Rundschau» titelte 1968: «Die rücksichtsvollen Rebellen».

Bei einer Geschichte der Solothurner Filmtage würde im Grande nur Anekdotisches abfallen, wenn man sie von der Geschichte des neuen Schweizer Films trennen wollte, jener Geschichte, wie sich das neue Filmschaffen organisierte, sich Zutritt verschaffte ins Vestibül des Deutschschweizer Fernsehens, wie es seinen Verleih an die «circuits parallels» an die Hand nahm (Fifapool) und was ein Filmzentrum bedeuten könnte, wie sich Filmgesetz und Filmförderung in der Ära Tschudi-Bänninger wenigstens in qualitativer Hinsicht wandelten. Der einzige namhafte Beitrag Solothurns war vielleicht die provinzielle Sturheit in der Perseveration der ersten fünf Jahre bis Charles mort ou vif, denn der Aufbruch dauerte lange, musste stets wieder von neuem inszeniert sein, wie die ständig sich wieder öffnende Zahnarzttür mit V. Gloor in Mondo Karies. H. Hafner vom bayrischen Fernsehen formulierte es 1968 so: «Wie kommt Qualität zustande? Das ist eine irrationale Frage. Es gibt demnach eine mögliche Antwort. Zum Beispiel durch Freiheit.» Die kleine Freiheit hiess Desinteresse der Filmwirtschaft und Wirtschaft am Film des Inlands, 300 000 Fr. Bundesförderung pro Jahr, die Versicherung Dr. O. Dübis vom EDI, dass «die politische Situation denkbar ungünstig für eine Revision des Filmgesetzes» sei (1966), und geschlossene Türen bei den Kinobesitzern. Oder ein besseres, filmisches Zitat: Die Fahrt des Nachens ins Reservat aus Fredi Murers Swiss-made-Episode, ein Narrenschiff, auf innere Emigration verdächtig. Man hörte bereits in der Presse die ungeduldigen Rufe nach Konsekration, die Floskeln von «Bubis Kino», vom Waldläufer und Jungfilmer, die Forderung nach Aktualität, umformuliert vom Gutgesinnten in die Bitte um erneuten Aufschub (Neue Eiszeit? 1970).

Seit 1971, also seitdem man in Paris Schlange steht für Schweizer Filme, ist die Annahme erlaubt, dass das neue Filmschaffen unseres Landes auch in der Schweiz als Realität akzeptiert ist. Damit haben die Filmtage die kulturpolitische Minimalaufgabe der Durchhalteparolen verloren. Alain Tanners Wort vom «Hier-in-der-Schweiz-Bleiben» hat sich seit 1971 gelohnt. Es hat unserem Filmschaffen die Möglichkeit gegeben, ohne Umweg über die äussere Emigration, filmische Aussage aus unserer Welt herauszuschöpfen. So wird nicht nur, wie H. U. Schlumpf es dargestellt hat Welt in die Enge gebracht, sondern auch Enge in die Welt hinausgetragen, formuliert und transparent gemacht, damit nachvollziehbar jenseits der Grenzen. Enge ist überall.

Nun dienen die Filmtage der jährlichen Gesamtschau unseres Filmschaffens, wenn möglich auch der jährlichen kritischen Selbstbefragung, vor der kleinen Öffentlichkeit der Werkschaugäste, vor der grossen Öffentlichkeit des In- und Auslandes mit Hilfe der Massenmedien. Ob dies notwendig ist, muss ständig wieder geprüft werden, auch die Frage, ob die Filmtage ihrem Auftrag gerecht werden. Lohnt sich ein «Hier-in-Solothurn-Bleiben»? oder genügen für den Rückhalt der Schweizer Filmkultur bei der Öffentlichkeit Berichte von Festivals und Erstaufführungen durchs Jahr hindurch? Die Filmtage scheinen zu funktionieren für Erstlinge, für Dokumentar- und Kurzfilme, Experimental- und Trickfilme. Die Verleiherfolge des Filmpools decken sich mit den in Solothurn gesetzten Akzenten. Die Öffentlichkeitsarbeit für Langspielfilme dagegen sollte im Moment ihres Erscheinens in den Kinos geleistet werden, und nicht global fürs ganze Jahr in der letzten Januarwoche. Darüber muss an den nächsten Filmtagen diskutiert werden.

Zurück zum Prinzipiellen: Wie etabliert ist die «kleine Freiheit» des neuen Schweizer Films? Dazu — als bedenkenswertes Beispiel — ein Zitat aus dem Brief der Scintilla AG, Zuchwil, an das Zentralsekretariat der Freisinnigen Partei in Bern (24.1.72):

...um Ihre parteipolitische Tätigkeit zu intensivieren und dadurch die destruktiven und immer gefährlicher werdenden Strömungen aufzuhalten oder in ihrer Breitenwirkung einzudämmen (z. B. Solothurner Filmtage).

Nach der Vorvisionierung vom 8. Dezember 1974: Was die Filmtage gerufen haben, drängt sich mit elementarer Selbstverständlichkeit ins letzte Januarwochenende, 32 Stunden Film, die keiner kennt, der im Filmbereich professionell tätig ist, wollen auf die Leinwand. Und tausend Leute wollen diese sechstägige Katharsis auf sich nehmen, leiden unter unerträglichen Anmassungen und atmen auf, wenn sich dazwischen eine menschenfreundliche Sicht auftut. Für ein Erlebnis der Verwandtschaft, der Identifikation nimmt man Strapazen auf sich, verpasst es vielleicht sogar, lässt es sich nacherzählen: Ein Zwanzigjähriger beschreibt einen alten Schuhmacher; die Kinder eines Bergdorfes stellen ihre Welt dar; im Kanton Neuenburg gibt es ein Kohlenbergwerk. Die Begegnung von Menschen mit der mittelbaren Äusserung abgelichteter Menschen. Schlussendlich doch der Nachen Murers? G. Volonterio hat die Schweizer Filmwochen in Bologna unter dem Vorzeichen der «follia» vorgestellt, von Gorettas Le Fou bis zur verrückten Lebenssituation der italienischen Emigranten aufgezeichnet in den Filmen Seilers, Bizzarris, Ammanns. Die Schwierigkeit der Selbstidentifikation in einem schwerreichen und mit Machtstrukturen übersättigten Zivilisationsland als zentrales Thema nicht nur der arrivierten schweizerischen Cinématographie, sondern auch der sechstägigen Werkschau. In der Einladung zu den Filmtagen von 1966 umschrieb dies Dr. Martin Schlappner so:

Der Schweizer Film ist gleicherweise wie der Film anderer Länder imstande, die Probleme aufzugreifen, die uns als moderne Gesellschaft, als Massen- und Konsumgesellschaft beschäftigen. Er hat wieder Zukunft, wenn er diese Probleme wahrnimmt, wenn er sich auch auseinandersetzt mit den politischen und gesellschaftlichen Problemen und Themen, die uns alle jeden Tag beschäftigen...

Was zu beweisen war und bleibt.

10 ANS DE CINÉMA SUISSE — 10 ANS DE JOURNÉES DE SOLEURE

En 1966, les premières Journées de Soleure se sont déroulées dans une atmosphère pleine d’espoir et de volonté de renouvellement. Pour la première fois peut-être, on parlait du cinéma suisse dans une même salle, en français et en suisse-allemand. L’absence de jury, l’ouverture sur les jeunes cinéastes inconnus et la situation de ghetto du nouveau cinéma suisse en 1966 orientèrent les Journées de Soleure dans le sens d’un «anti-festival».

L’histoire des Journées est aussi celle du cinéma suisse de ces dernières dix années: ce furent les efforts déployés pour arriver à organiser efficacement la distribution parallèle (Filmpool, Cinélibre), ceux nécessaires pour parvenir à une collaboration avec la TV ce qui s’avéra particulièrement difficile en Suisse alémanique, enfin les efforts faits pour obtenir des progrès qualitatifs en ce qui concerne l’aide de la Confédération. Un certain entêtement et la persévérance sont peut-être la contribution originale de Soleure au cours des premières années.

La consécration du cinéma suisse à l’étranger depuis 1971 permet aux cinéastes suisses de décrire la situation socio-culturelle de notre pays sans être dans l’obligation de s’exiler et de chercher ailleurs des moyens techniques et financiers pour leurs réalisations. Le mot de Tanner: «rester-ici-en-Suisse», a porté ses fruits. On est arrivé au point où, enfin, on peut s’extirper du repliement culturel tant par la description que par l’analyse cinématographique de la situation suisse.

Aujourd’hui, les Journées de Soleure ont pour but de donner une vue générale de la production cinématographique annuelle. Si dans le domaine des documentaires, des courts-métrages, des films d’animation et des films expérimentaux, les Journées remplissent leur fonction de façon satisfaisante — les succès du Filmpool sont ceux des Journées —, on ne peut en dire autant dans le cas des longs-métrages, pour lesquels on devrait pouvoir arriver à faire coïncider la publicité critique avec leur sortie dans les salles. Ce problème sera à discuter en janvier 1975.

Bien que le cinéma suisse jouisse d’une certaine notoriété, les tentatives de répression dans la propagation des films ne manquent pas.

Les Journées de 1975 se dérouleront à nouveau sous l’aus-pice d’une catharsis. — Aujourd’hui encore, les lignes générales déterminées par M. Schlappner en 1966 gardent toute leur valeur: le film suisse se doit d’analyser les problèmes politiques et sociaux s’il veut survivre. (U. R.)

Urs Reinhart
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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