Was sich in den Diskussionen um einen Themenschwerpunkt CINEMA 39 in einer ersten Annäherung als Krise des Dokumentarfilms anzubieten schien, erwies sich bei genauerer Untersuchung als ein vielfältiges Phänomen, das sich weit eher als Umwertung einer filmischen Verfahrensweise beschreiben läßt. Die klassische Gliederung Siegfried Krackauers in „Storyfilm und Film ohne Spielhandlung“, wobei er bei letzterem zwischen „Experimentalfilm und Tatsachenfilm“ und hier wiederum zwischen „Lehrfilm“, „Wochenschau“ und „Dokumentarfilm“ unterscheidet, ist gleich in mehrfacher Hinsicht fragwürdig geworden. Indem das Fernsehen sich am Dokumentarfilm schulte, dessen Recherche- und Dokumentierungsweisen wie etwa das Interview übernahm (und sie bis zur Beliebigkeit konventionalisierte), konnte dieser sich neuen und unverbrauchten Formen zuwenden. Die Vermischung der Genres ist ein weiterer Umstand, der hier zu bedenken ist. Die Arbeit im Dokumentarfilm mit fiktionalisierenden Elementen ist sowohl zunehmend erprobt und realisiert wie auch als ein in älteren Filmen wirksames Gestaltungsprinzip erkannt worden. Aber ebenso hat der Spielfilm vom Dokumentarfilm gelernt. Beim Dokumentarfilm kommt man gewöhnlich ohne eigentliches Drehbuch aus, in welchem die einzelnen Szenen präzisiert und niedergeschrieben sind. In seiner offenen und einer thematischen Vorgabe folgenden Anlage (die natürlich eingehende vorgängige Recherchen nicht ausschließt) verlangt er beim Drehen eine Spontaneität und Flexibilität auf das, was sich dabei ergibt, einzugehen. Dieser dokumentierte Prozeß ist das eigentliche Dokument. Und darin, beim Drehen, bei der Arbeit mit den Schauspielern und Schauspielerinnen diese Beweglichkeit und Offenheit zu bewahren, ist der Dokumentarfilm für den Spielfilm beispielhaft geworden. Endlich scheint auch der Zugang zu den Fakten sich komplexer zu gestalten. Der eigene, oft entscheidende Anteil der Autorinnen und Autoren bei deren Konstituierung wird mehr und mehr sichtbar und erkannt. Die Verfügbarkeit des so geschaffenen und erfundenen Faktums ist und war weit weniger umfassend, als diese es wahrhaben wollten oder wünschten. Was sich früher bei den Dokumentarfilmen im gestalterischen Zugriff und in der Bearbeitung verbarg, wird nun öfter den Zuschauenden als Reflexionsarbeit anheimgestellt und zugemutet. Mit dem allwissenden Kommentar sind glücklicherweise die ebenso allwissenden Autoren und Autorinnen verabschiedet worden. Die Einsicht in die ungesicherte, mitunter fingierte Natur des Dokuments ist freilich nicht neu. Auch bei der französischen Historikerschule der „Annales“ hat der positive Glaube an die Faktizität des Dokuments längst einem durchaus kreativen Skeptizismus Platz gemacht. Dieses problematisierende Wissen, und das ist vielleicht das Neue daran, ist heute Allgemeingut. Die Anspielung, das Zitat, das Spiel mit dem Als-ob erreichen längst ein Massenpublikum, dem die Filmschaffenden so wenig etwas vormachen können wie sich selbst. Ihre Verantwortung ist dadurch nicht kleiner geworden - im Gegenteil -, und sie erheischt nichts weniger als Angebote des Nachvollzugs und der Überprüfbarkeit. Daraus hat sich nun die zweifache Herangehensweise in diesem CINEMA ergeben. Einerseits ging es darum, ältere nichtfiktionale Filme eines Pier Paolo Pasolini, eines Frederick Wiseman, eines Artavadz Peleshian vorzustellen und in ihrer Bedeutung zu würdigen. Und andererseits sollten neuere und neuste Filme wie etwa Alexander Schwarzes Das bleibt, das kommt nie wieder oder Rea Tajiris History & Memory analysiert und nach ihren Darstellungs- und Bearbeitungsformen untersucht werden. Eine Anstrengung der CINEMA-Redaktion ging auch dahin, den Index der schweizerischen Filmproduktion auf eine breitere Basis zu stellen. Mehr Filme werden in diesem Jahr besprochen und kritisch gewürdigt. Zu danken ist Christoph Schaub, der uns die diesjährigen Filmbriefe hat finden lassen.

CINEMA #39
NON-FICTION