Denis Diderot läßt in seinen Entretiens sur le fils naturel (1757) den Ich-Erzähler einen Schauspieler fragen, ob denn die Einheit des Charakters nicht eine Grille („une chimère“) sei. Dieser stimmt ihm zu mit dem Hinweis, man weiche aber darin durchaus nicht von der Wahrheit ab, da es auf der Bühne doch nur eine Handlung für eine kurze Zeit betreffe, während welcher ein Mensch gar wohl seinen Charakter behaupten könne. Was in Diderots Theorie des Theaters noch als zwei nicht identische Größen begriffen wird, wodurch der Kunst- und Modellcharakter des Theaterspiels sich zeigt, wird im Mainstream-Kino Hollywoods ununterscheidbar. Die Einheit des Charakters ist dem naturalistischen Spielfilm nicht etwa eine Grille, sie ist die Luft, ohne die er nicht atmen kann. Eine Person im Film ist zwar eine synthetische Figur, oft direkt aus mehreren Spielern (Stuntman, Synchronsprecher, Sänger) zusammengesetzt. Diese Mehr- und Vieldeutigkeit der Figur - im Herstellungsvorgang des Filmes selber angelegt - darf aber, nach gängigem Verständnis dessen, was Film ist, im Ergebnis nicht mehr sichtbar sein. Anstelle der Polyvalenz hat die einheitliche Figur, anstelle des Darstellens das Sein zu treten. Clint Eastwood spielt nicht Dirty Harry, Clint Eastwood ist Dirty Harry. Die Kunstfeindlichkeit Hollywoods findet in der allgemeinen Bereitschaft des Publikums, die Identität von Rolle und Darsteller als die eigentliche Leistung zu würdigen, ihre Entsprechung. Dieser Disposition des Zuschauers arbeiten die vielen kleinen Geschichten und Anekdoten rund um die Herstellung eines Filmes beständig zu. Der Mythos von der Einverleibung der Rolle durch den Schauspieler schafft den „blinden“ Zuschauer, der nicht reflektiert, sondern erlebt. Identifikation und Voyeurismus sind die entsprechenden infantilen Rezeptionshaltungen, die durch das Gros der Filme bedient werden. Dadurch geht die Wahrnehmung für die äußerst raffinierte schauspielerische Leistung eines Robert Mitchum verloren. Als beispielhaft gefeiert wird hingegen die unkünstlerische, direkte und primitive Art, wie ein Robert De Niro in Raging Bull die Aneignung der Rolle vornahm. „Die Kunst wird nicht gesehen, weil das System, in der sie stattfindet, sich ihrer schämt.“ (Fred van der Kooij) Eine der Konsequenzen dieser Kunstfeindlichkeit sind die analytischen Defizite und die theoretische Unterschätzung der Schauspielkunst im Film. Die Hartnäckigkeit, mit dem sich das Paradigma sein versus darstellen hält, hat handfeste Gründe. Nach James Naremore (Acting in the Cinema, Berkeley u.a. 1988) ist eine der Aufgaben des mainstream acting, die „Illusion eines einheitlichen Selbst“ zu unterstützen und aufrechtzuhalten. Lacan und Althusser haben das Kino konsequent als einen Spiegel gedeutet, in dem der „fragmentierte Körper des Zuschauers“ dank einer imaginierten Integration zu einer Einheit werde. Der filmische Apparat verhilft dem Betrachter zur Illusion eines „transzendentalen Subjekts“. Das Leben selber verläuft nicht in einer geordneten Reihenfolge. Diese stellt sich, unter Weglassung all dessen, was man für unwichtig oder nebensächlich hält, gewöhnlich erst hinterher ein. Die narrative Kohärenz und die der Figur sind Ergebnisse - wir sagten es schon - einer willkürlichen Bearbeitung. Die Diskontinuitäten seines Alltags und seiner Persönlichkeit darf der Zuschauer, wenigstens für die kurze Zeit der Filmprojektion, vergessen. Die Kränkungen der Moderne werden im Kinoerlebnis scheinbar ungeschehen gemacht. Das erklärt zu einem großen Teil die Attraktivität dieses Mediums. In der Unendlichkeit der mechanischen Reproduzierbarkeit des Films liegt die Einmaligkeit seiner darstellerischen Qualität. Im Film deutet der Schauspieler seine Rolle nicht, sondern gibt ihr Gestalt. Ist auf dem Theater eine Figur schon im Text mehrdeutig angelegt, damit sie in den verschiedenen Interpretationen immer neu gedeutet werden kann, so hat der Filmschauspieler diese Mehrdeutigkeit nicht etwa zu klären, sondern recht eigentlich zu schaffen. „Die Kunst bestünde im Film darin, die Figuren zugleich klar und rätselhaft zu gestalten. Darin hegt die Dialektik der Filmschauspielerei.“ (Fred van der Kooij) Zu danken ist auch diesmal Martin Schaub für seine Ideen und für die Vermittlung des Textes von John Berger. Das Thema von CINEMA 38, Filmschauspielerei, geht auf eine Anregung Christoph Schaubs zurück. Auch ihm sei dafür gedankt. Alfred Messerli unabhängige Schweizer Filmzeitschrift

CINEMA #38
FILMSCHAUSPIELEREI
EDITORIAL
ESSAY
EIN GESPRÄCH ÜBER THEORIE UND PRAXIS DER SCHAUSPIELKUNST IM FILM
FILMBRIEF
SELECTION CINEMA
DIE KAMERA DES OPTIKERS - AUS DEN FILMEN MARCEL REICHENBACHS, GUATEMALA 1950-1960 (EDUARD WINIGER)