Einladungen zum Erwachen Er komme von der Hochzeit der reichen alten Dame Fernsehen mit dem jungen mittellosen Burschen Film, hat Alain Tanner nach dem jüngsten Jahrestreffen der Schweizer Filmgestalter geschrieben. Das Bild hat, wenn man die jüngsten Entwicklungen des Films und des Fernsehens in unserem Land betrachtet, etwas an sich. Tatsächlich stellt sich die Frage, ob der Film arm und schön bleiben oder reich und hässlich werden will. Manchmal stellt sie sich sogar noch brutaler. Ohne das Fernsehen sind gewisse Filme - nicht nur in der Schweiz - gar nicht mehr zu machen. Wir erkennen diese historische «Schicksalsgemeinschaft» auch, aber finden es dennoch nicht obszön, über die Hochzeit der alten Dame mit dem jungen Burschen nachzudenken. Wir wissen zwar auch, was eine Vernunftehe ist, aber wir scheuen uns nicht vor der Feststellung, dass es Mesallianzen gibt. Wer zahlt, befiehlt: das gilt manchmal auch in Ehen. Verlassen wir das schon sehr strapazierte Bild. Werden wir sachlich. Jeder weiss von den Kontrollmechanismen, denen das Fernsehen unterworfen ist; jeder hat die «Programmgewaltigen» schon über ihre Auffassung des Mediums referieren gehört; jeder weiss von der Zensur der Einschaltquoten und der Zuschauerbewertung. Die meisten sind entsetzt über die seit Beginn dieses Jahres gültige Programmstruktur im Schweizer Fernsehen. Soll man das alles vergessen, weil ab und an doch noch - wider alle Erwartungen - Vernünftiges produziert wird? Soll man festen Glaubens auf einen Zustand hinarbeiten, wo die Ausnahme von heute die Regel sein wird? Wir versagen uns auf diesem Gebiet Träume. Nicht weil wir nicht träumen können, sondern weil uns der tägliche Kontakt mit dem Fernsehen einsehen gelehrt hat, dass dieses Medium und seine (politische) Organisation zur Eintönigkeit, zur Routine, zum leblosen langweiligen Mittelmass zwingen. Das Fernsehen wird nie ein Forum sein, auf dem sich jeder so äussert, wie er es für richtig hält. Es setzt bei seinen internen und externen Mitarbeitern, bei Autoren wie bei Technikern jede vorstellbare Menge Normen durch. Dass es in seiner stromlinienförmigen Eintönigkeit und Gleichmässigkeit nicht auch normativ auf den Konsumenten wirken wird ist nicht anzunehmen. Die Normalität, die das Medium produziert, schlägt dann auch wieder auf es selber zurück. Noch sind jene, die sich dem gleichmacherischen Druck des Fernsehens entziehen, durch Konsumverweigerung, in der Minderheit. Und sie werden es immer bleiben; auf die Abschaffung des Fernsehens wird niemand im Ernst setzen wollen. Die Aufsätze, die diese Ausgabe von CINEMA vereinigt, sind keine Aufforderung zum Träumen vom richtigen Leben des Mediums oder von seinem Tod. Sie wollen eher verstanden werden als Einladung zum Erwachen, Einladung nicht nur an die Adresse der Filmemacher, die sich - nicht nur freiwillig - in die Arme einer starken und hässlichen Amme werfen, sondern an die Adresse der Opfer einer täglichen - freiwillig gewählten - Berieselung, die wir nicht gerade «Hirnwäsche» nennen wollen. Martin Schaub

CINEMA #26/1
DAS FERNSEHEN