Mit Film auf verordnetes Schweigen reagieren «Der Baader, die Ensslin, der Raspe, Die Alchimisten der Revolution. Ich glaube, sie haben Beides — sich selbst und sie wurden so weit gebracht. Verzweifelt an sich verzweifelt an uns — Und haben den letzten schwarzen Schritt zu Dritt sehr alleine gemacht.» (Biermann) Dieses Heft ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten diskutieren wir den Film Deutschland im Herbst, eine Gemeinschaftsarbeit der deutschen Filmemacher Alf Brustellin, Rainer Werner Fassbinder, Alexander Kluge, Edgar Reitz, Katja Rupé, Hans Peter Cloos, Volker Schlöndorff und Bernhard Sinkel. Die Produktion übernahm (mit andern Beteiligten) der Filmverlag der Autoren in München. An den diesjährigen Filmfestspielen Berlin erlebte der Film seine Uraufführung. Deutschland im Herbst fasst die Versuche von verschiedenen Filmautoren zusammen, spontan auf die politischen Geschehen im Oktober 1977 in Deutschland zu reagieren. In Anlehnung an Heinrich Heines Zeitgemälde von 1843 Deutschland, ein Wintermärchen gibt der zweieinhalbstündige Film einen Bericht vom deutschen Klima nach der Entführung Hanns Martin Schleyers am 5. September 77. Er knüpft an die Ereignisse der Geiselbefreiung von Mogadischu am 18. Oktober 77, des dreifachen Selbstmords der Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe am selben Tag und der Beerdigung der drei Terroristen und des ermordeten Schleyer an. Im zweiten Teil des Heftes besprechen wir einige der wichtigsten Schweizer Filme, die an den diesjährigen Solothurner-Filmtagen gezeigt wurden. CINEMA 2/78 soll aber mehr darstellen, als eine Reihe loser Filmkritiken. Die Filmzeitschrift CINEMA hat sich einer gewissen thematischen Interesseorientierung verpflichtet: 1/77 behandelte den politischen Dokumentarfilm und Probleme des Interventionsfilms; 2/77 Fragen der Zensur und Selbstzensur; 3/77 Filme zum Thema der Gewalt und die Rolle der Misshandelten; 4/77 Probleme der Video-Arbeit und 1/78 des alternativen Filmwesens. Wir versuchen den Film in seinem Realitätsbezug und seiner Funktionsbestimmung zu reflektieren und ihn in dem dadurch bestimmten Bezugsrahmen zu befragen. Die vorliegende CINEMA-Nummer führt dieses Erkenntnisinteresse weiter: Als übergeordnete Fragestellung darf hier, sehr allgemein formuliert, gelten: Wie reagieren Filmemacher auf ihre, d.h. unsere, politische Wirklichkeit? Sowohl das deutsche Beispiel, wie die Schweizer Filme sind Produkte einer bestimmten politischen und kulturellen Lebenssituation, einer Situation, die mehr oder weniger direkt, mehr oder weniger bewusst, in die Filme eingeht. Über dem europäischen Alltag hängt düster das Damoklesschwert des Terrors. Staatliche Schutzmassnahmen gegen diese Bedrohung schnüren dem alltäglichen Leben die Brust ein, verstopfen Ohren und Mund des «mündigen Staatsbürgers», verdecken seine Augen und würgen ihm den Atem ab. Sowohl der Terror in seinen äusserlich sichtbaren, brutalen, Formen, wie die staatlichen Gegenmassnahmen als perfekt organisiertes Netz von Verordnungen und Vorkehrungen sind Symptome eines kranken, nicht mehr funktionstüchtigen Lebenszusammenhangs. «Demokratie in der Krise» heisst die Abkürzung. Das bestehende politische, wirtschaftliche und soziale System muss, um die Krisenfolge zu verlangsamen und den Status quo zu bewahren Massnahmen verschiedenster Art ergreifen, die eine kritische Öffentlichkeit verhindern. Die eingeübten Formen und überlieferten Agenturen der Disziplinierung genügen nicht mehr. Ideologie wird verordnet, um die Risse zu kitten. Eine verzweigte, ausgeklügelte Industrie des Bewusstseins wird auf Hochtouren gebracht. Das geschieht, grob gesehen, auf drei Ebenen: Erstens wird durch eine vollkommen inszenierte Warenästhetik in Arbeit, Wohnen, Bildung und Freizeit ein Zusammenhang geschaffen, der bestehende Bedürfnisse kanalisiert und scheinbefriedigt. Zweitens wird durch eine gezielt aufgebaute Medienöffentlichkeit eine Informationspolitik betrieben, die eine kritische Auseinandersetzung verhindert und das Bestehende erklärt, was so viel heisst, wie auftretende Widersprüche in Trugschlüssen aufzulösen versucht. Drittens wird eine wiedererwachende Kritik mit schnell geschaffenen Mitteln kaltgestellt oder kriminalisiert. Zum ersten Punkt braucht man nur die Augen aufzuschlagen, und man hat Beweise. Zum zweiten Punkt verweise ich etwa auf die Informationspolitik der Nachrichtensperre in der BRD, im Zusammenhang mit der Schleyer-Entführung, oder auf die sich häufenden direkten und indirekten Zensurmassnahmen in der Programmgestaltung des Fernsehens und die Weisswäscher in den Redaktionsstuben der Presseimperien. Auch zum dritten Punkt könnten unzählige Beispiele angeführt werden von Fällen, in denen das Recht auf freie Meinungsäusserung beschnitten wird. Von den Berufsverboten für Lehrer und Journalisten, von Repressionen gegen Kulturschaffende, von den offenen und versteckten Einschüchterungsversuchen gegen politisch Aktive, bis zur organisierten Verleumdung und Bespitzelung von kritisch denkenden Einzelpersonen und Gruppen im Privatleben und am Arbeitsplatz. «Dem mangelnden bürgerlichen Interesse an substantieller, lebendiger Öffentlichkeit entspricht ein erhebliches Bedürfnis nach einer Öffentlichkeit, die eine gesamtgesellschaftliche Synthese darstellen soll. Es ist das Bedürfnis nach Identität, nach Darstellung der Gesellschaft als Ganzer, als «Gemeinschaft». Eine solche Synthese kann es jedoch in einer Klassengesellschaft nicht geben, und sie hat auch innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft bisher nicht existiert. Deshalb kann man in diesem Zusammenhang nur von Scheinöffentlichkeit sprechen. Bemerkenswert an ihr ist, dass sich auch die unterdrückten Klassen an ihr orientieren. Dabei bezeichnet das Stichwort «Schein» nicht etwas, das kraftlos wäre und durch direkte Aufklärung beseitigt werden könnte; vielmehr hat dieser Schein einen harten materiellen Kern.»1 Auf die kritische Praxis im Produktionsbereich, d.h. auf die Arbeit unmittelbar im materiellen Kern, kann nicht eingegangen werden. Zur Diskussion stehen hier vielmehr Fragen der davon nicht unabhängigen kulturellen Arbeit. Der Kampf gegen die Scheinöffentlichkeit überzeugt nicht, wenn die Missstände personalisiert oder mit moralischen Kategorien angegangen werden. Es gut die Notwendigkeit der von oben verordneten Massnahmen und ihre historische Herleitung zu analysieren und ihre Funktionsbestimmung darzustellen. Die Denker der bürgerlichen Aufklärung formulierten den Zusammenhang von Freiheit und Identität des Menschen im Begriff der Selbstbestimmung. Diese Ideale freiheitlicher Rechte werden noch heute grossgeschrieben. Wie weit aber werden sie auch akzeptiert, wenn sie nicht der herrschenden Meinung entsprechen, wenn sie sich nicht in den institutionalisierten Formen äussern? Wie weit ist heute der Boden entzogen, diese Rechte wahrzunehmen? Mutter: «Du, ich würde niemanden ermutigen zu diskutieren...» Fassbinder: «Warum?» Mutter: «Du — weil ich nicht weiss, was’n anderer damit macht.» (Aus dem Gespräch zwischen Fassbinder und seiner Mutter, aus: Deutschland im Herbst). Die Angst der Frau kann verallgemeinert werden. Die Scheinöffentlichkeit verstärkt eine persönliche Entfremdung — ein von-sich-selbst-Entferntsein —, die nicht durch die Abgabe eines Stimmzettels aufgehoben werden kann. Aus diesem Notstand muss gefragt werden: Welchen qualitativen Spielraum lässt die Gesetzgebung in ihrer Anwendung? Was für Faktoren bestimmen im Konkreten einen Entscheidungs-prozess? Was für Gegenformen der politischen Teilnahme am öffentlichen Geschehen müssen entwickelt werden? Wie kann der Einzelne seine Bedürfnisse einbringen, und wie kann die politische Arbeit darüber hinaus weitergeführt werden? Dies sind Fragen, die den Filmemacher zur aktiven Stellungnahme zwingen. In seinem Handeln kann er Antworten entwerfen, indem er in seiner Arbeit die Scheinöffentlichkeit als repressiven Ordnungsfaktor entlarvt. Damit versucht er seine Arbeit und ihre Funktion im politischen Geschehen zu bestimmen: Definiert sich seine Arbeit von der Produktionsweise her oder von den Ideen, die er vertritt? Ist er Künstler als Produzent oder Hofnarr eines herrschenden Machtapparates? Der Zugang zur Realität scheint verstellt, und die Kraft der Utopie ist geschwunden. Ratlosigkeit und Angst sind Grundstimmungen, die in Hysterie oder Gleichgültigkeit umschlagen. Der Schritt in den politisch oder wie immer motivierten Aktivismus und der Ruf nach der starken Hand sind naheliegend. Dabei werden die Möglichkeiten gekappt, sinnvoll miteinander zu verkehren: Die Kommunikationsfelder der Spontaneität und Kreativität, der Auseinandersetzung und der offenen Begegnung verwandeln sich in Einöden der Isolation oder in Minenfelder der Aggression. Bundespräsident Walter Scheel stellt an der Schleyer-Beerdigung fest, wer «auf der menschlichen Würde auch der Terroristen besteht, (hat) die Demokratie zu Ende gedacht». Damit verschleiert er, dass die Würde aller Menschen gar nicht hergestellt ist. Scheels abstrakter Moralismus mündet in das pathetische Bekenntnis zur Demokratie — nicht weniger abstrakt: «Wir alle bejahen den demokratischen Kampf, den Kampf der Meinungen und Argumente.» Genau darum geht es aber nicht. Öffentlichkeit erscheint als ein Konzert pluralistischer Meinungen, das zu scheinbar harmonischen Akkorden abgestimmt wird. Gegenöffentlichkeit bedeutet nicht die Produktion von Meinungen, die sich mehr oder weniger leicht in das Konzert einstimmen lassen. Kulturelle Arbeit widersetzt sich der Scheinöffentlichkeit und erfüllt ihre Aufgabe der Kritik erst, indem sie Formen der Produktion und der sinnlichen Wahrnehmung schafft, die dazu beitragen, eine «lebendige, substantielle Öffentlichkeit» herzustellen. Angst, Passivität, und Misstrauen sind Folgen einerseits von gezielt verordneten Massnahmen, anderseits der zunehmenden Krisenanfälligkeit des Systems, die nicht überall perfekt zu vertuschen ist. Der Kulturschaffende kann dagegen durch eine vitale Produktion einen lebendigen Bezug zur Realität herbeiführen, den verstellten Blick schärfen, die subversive Kraft der Phantasie befreien, und Formen und Techniken entwickeln, die gesellschaftliche Erfahrung ermöglichen. So wie es in der alternativen Politik nicht primär darum geht, ein Ziel zu erreichen, sondern Wege zu finden, geht es in der alternativen Filmarbeit nicht darum, ein Problem zu illustrieren. Das Beispielhafte an der deutschen Gemeinschaftsproduktion etwa sehe ich in der Produktion von Wahrnehmung: Einige Filmemacher versuchten sich der vorgeprägten Sehweise zu entziehen, indem sie mit ihren Mitteln, ihre persönliche Erfahrung und ihre Sicht der politischen Geschehen des deutschen Herbsts wahrnehmen, aus der eigenen Betroffenheit. In der sinnlichen Wahrnehmung setzt sich der Mensch mit seiner Umgebung auseinander. Er schafft damit die Möglichkeit, handelnd sich die Wirklichkeit verfügbar zu machen, d.h. sich selbst zu befreien. In diesem Zusammenhang können Kulturschaffende zur Selbstbestimmung des Individuums und zu einem sinnvollen Lebenszusammenhang beitragen — gegen die «Kultur als Massenbetrug» (Adorno), gegen die «Enteignung und Reglementierung subjektiver Erfahrungsmöglichkeiten» (A. Wacker). Der Beitrag des Kulturschaffenden zu einer Gegenöffentlichkeit ist ein in der Wirkung begrenzter Beitrag zu einer Gesellschaft, die durch kritische Erfahrung und Wahrnehmung, aus ihrer objektiven Lage heraus, an der Geschichte teilhat. Der Film leistet alternative Information und deckt Zusammenhänge auf, indem er sich der historischen, dialektischen Betrachtungsweise verpflichtet: Er entbindet die Situation der Ohnmacht und Sprachlosigkeit, ihrer verschütteten Versprechen und verborgenen Hoffnungen. Die Schüsse vom 5. September auf Schleyers Bewacher, wie die vom 18. Oktober in Stammheim zeigen, dass die Antwort auf Biermanns Frage: «Was wird bloss aus unseren Träumen...» noch aussteht. Jörg Huber 1 Oskar Negt/Alexander Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung, Edition Suhrkamp, Frankfurt a. M., 1972.

CINEMA #24/2
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