Video — Zweck und Mittel Die elektronischen Bild- und Tonaufzeichnungsgeräte sind in die Reichweite des Einzelnen gekommen. Viele haben sich von dem ewigen Normenstreit der Gerätefabrikanten nicht abhalten lassen und begonnen, die anfänglich nur finanzkräftigen Körperschaften zugänglichen Apparaturen für ihre Zwecke und in ihrem Sinne zu brauchen. Am Anfang des TV-Zeitalters gab es ein paar wenige Sender und ein paar Empfänger. Die Zahl der Empfänger wuchs und wuchs; und seit kurzem wächst auch die Zahl der Sender, schneller als es allen lieb ist. Nehmen wir den Begriff Sender einmal möglichst weit: Sender ist jeder, der die Apparaturen braucht, ein Produkt herstellt. Rene Berger, der Direktor des Lausanner Musée de Beaux-Arts, der sich als einer der ersten in der Schweiz für elektronische Kunst zu interessieren begann (und der in diesem Heft von CINEMA die wichtigsten Schweizer Künstler, die mit Video arbeiten, vorstellt), hat die ganze durch das Fernsehen geschaffene Kommunikationslandschaft eingeteilt in Makro-, Midi- und Mini-Fernsehen. Während im Makrofernsehbereich Einflüsse der Wirtschaft, der politischen Machthaber, der pressure groups, des politischen Klimas, der Gewöhnung usf. um sich greifen und Fernsehen zu einem starren Ritual werden lassen, werden Midi- und Minifernsehen immer lebendiger. (Auch weil das Makrofernsehen immer starrer und kontrollierter wird, tut sich in den anderen Bereichen mehr.) Vom Mini-Fernsehbereich ist in unserer Materialsammlung nicht sehr ausgiebig die Rede. Wir befassen uns eher mit Video-Schaffenden, die vom Film herkommen, mit jenen, die sich der elektronischen Bild- und Tonaufzeichnung als Mittel bedienen. Es wäre mehr zu sagen über jene, die konsequent zurückgegangen sind auf die Fragen nach dem Wesen des elektronischen Bildes, die darauf aus sind, dieses Wesen in einfachen Versuchsanlagen sieht- und spürbar zu machen. Viele, die im Midifernsehbereich tätig geworden sind, verachten die Radikalen im Mini-Bereich, finden die Bänder von Amerikanern wie Nam June Paik, Douglas Davis, Vito Acconci, Peter Campus usf. langweilig und ihre Video-Installationen elitär, wirkungslos. Ich bin nicht dieser Meinung, habe andernorts auch schon versucht zu sagen, weshalb. (Tages-Anzeiger-Magazin, Nr. 37/1977, «TV ohne Ritual und Priester. Der Bildschirm ist kein Hausaltar»). Ist bei diesen Video-Artisten das Medium Sellbstzweck? Warum auch nicht? Schon die selbstzweckhafte Benützung von Video hätte ihren oppositionellen (oder doch zumindest verweigerischen) Aspekt. Aber meistens zielen die Video-Artisten höher: es geht auch ihnen darum, die installierten und längst nicht mehr diskutierten Abbildungs- und Sehgewohnheiten in Frage zu stellen, sie — im Ansatz, an der Wurzel — zu zerstören und neu anzufangen. Bei mir hat Video-Art «funktioniert»: Sie liess mich (Makro-) Fernsehformen, die ich vorher noch akzeptiert hatte, in ihrer heillosen Konventionalität erkennen, eigentlich mehr als alle Versuche von Alternativ-TV und «Guerrilla-TV». (Wie eingefleischt die Makrofernsehformen sind, haben die Tapes gezeigt, die die Entführer Hans Martin Schleyers verschickt haben. Das «TV-Arrangement» war unverkennbar. Die Schleyer-Tapes sind für mich im Moment der extremste Beweis audiovisueller Konditionierung.) Video-Artisten und Verfechter interventionistischer Video-Arbeit schlagen Breschen in die zu rasch zum superkonditionierten Massenkommunikationsmittel verkommene elektronische Bild- und Tonaufzeichnung. Nur die Einschätzung der Lage unterscheidet die «politischen Videoarbeiter» von den Videoartisten. Die Videoartisten setzen beim Punkt Null an, die Video-Gruppen und Video-Fabriken lösen sich «später» von der generellen Entwicklung des Mediums ab. Die Differenzen zwischen Videoartisten und beispielsweise Godard (oder Mieville, Reusser, der Gruppe Medianalyse in Lausanne, von der im Aufsatz von Jean Richner die Rede ist) entspricht genau dem Unterschied zwischen amerikanischem (nicht nur romantischem) Radikalismus und europäischer formulierter politischer Opposition. Wir dokumentieren sie in den Texten von Jean Richner, Jean-Luc Godard, Francis Reusser und Francois Albera. Nach einiger Zeit legen wir wieder ein wirklich zweisprachiges Heft vor. Wir resümieren, was man resümieren kann, übersetzen, wo man übersetzen muss, und lassen gewisse Texte nur in einer Sprache erscheinen. Es würde uns interessieren, was unsere Leser dazu meinen. Im Übrigen: wir machen ein Jahr weiter, wenn wir von der öffentlichen Hand noch einmal unterstützt werden, und wenn Sie wollen. Ein Subventionsgesuch ist eingereicht, ein Redaktionsprogramm besteht. Die erste Nummer des kommenden Jahres befasst sich mit allen Formen des «anderen Kinos» (circuit parallele) in der Schweiz. Martin Schaub VIDEO — BUT ET MOYEN L’éditorial de ce numéro présente le matériel que la rédaction a rassemblé: Le centre de gravité se trouve dans les essais (de Richner, Godard, Albéra, Reusser) concernant la «midi-TV». Mais «mini-TV» (vidéo-art) et «midi-TV» sont parents. La vidéo des artistes américains (comme Paik, Acconci, Campus etc.) n’est point un but en soi; elle est aussi une réponse au rituel de la TV officielle (macro-TV). Seuls les points de départ diffèrent: tandis que les radicaux américains (et européens) veulent recommencer à zéro, réinventer le médium, les vidéastes dont parlent les différents articles de ce numéro de CINEMA attaquent sur un niveau plus «haut», sur le niveau de la lutte des classes, pour ainsi dire. — Le dernier numéro de CINEMA de cette année se veut vraiment bilingue, nous ne donnons de résumés que s’ils nous paraissent utiles et possibles. Nous aimerions bien connaître l’avis de nos lecteurs. Car nous continuerons. Le programme de rédaction pour 1978 est établi; le premier numéro de l’année prochaine sera consacré au circuit parallèle en Suisse. (msch)

CINEMA #23/4
VIDEO & CIE