Warum Bulgarien? Keinem Leser ist zu verargen, wenn er sich vor dieser CINEMA-Nummer fragt, wie man nur auf dieses Thema, auf dieses Land kommen kann. Denn: Wer von den Lesern kennt schon Bulgarien? Wer weiss etwas über dieses Volk zwischen Orient und Okzident; wer weiss etwas über seine turbulente, oft grausame Geschichte, die indessen nicht zu trennen ist von der Vielfalt der Kultur, vom Temperament und heutigen Selbstbewusstsein der Bulgaren? Und wenn schon ein Atlas nötig ist, um Grenzen und Gliederung dieses Lands zu situieren — wie soll man da erst noch ein Wissen über die bulgarische Musik, Literatur und erst noch über den Film verlangen können? Durch unsere Zeitungen? Mir scheint, keiner unserer Berichterstatter habe je in Bulgarien gelebt. Durch unsere Kulturmäzene? Sie haben, im Gegensatz zu ihren ausländischen Kollegen, Bulgarien noch gar nicht zur Kenntnis genommen! Durch unsere Kinos? Im Gegensatz zur Bereitschaft, einst den tschechoslowakischen Film zu entdecken, gähnt hier eine bezeichnende Informationslücke. Doch diese Nation, in der man immer wieder nach dem wohlbekannten und geliebten Max Frisch gefragt wird, hat sich in den letzten Jahren ins erste Glied der osteuropäischen Filmproduktion erhoben. Fast in ganz Westeuropa konnte man das — etwa anhand bulgarischer Filmwochen — zur Kenntnis nehmen: kaum aber in der deutschen Schweiz. Dank dem Internationalen Filmfestival von Locarno, dank dem Echo in der Presse und den Auszeichnungen hat eine erste unüberhörbare Resonanz auch bei uns eingesetzt. Man denke nur an Die Volkszählung der Wildkaninchen, Ewige Zeiten, Erinnerung, Sonntagsmatch und Starkes Wasser. CINE-LIBRE verhalf den ersten beiden Filmen zu einer sehr erfolgreichen Verbreitung in Filmclubs und nicht-kommerziellen Spielstellen. Das Fernsehen entdeckte auch allmählich Filme wie Das Ziegenhorn und Die Volkszählung. International nimmt das Interesse an dem, was viele Kritiker ein «Filmwunder», eine «Explosion» nennen, deutlich zu. Der Leser von CINEMA braucht nun aber nicht einfach mit Fleiss unseren Beiträgen Glauben zu schenken. Er hat die Gelegenheit, einige der wichtigsten Stationen des jungen bulgarischen Films selbst in der Schweiz zu sehen. Denn es ist erneut CINELIBRE, das zu einer längst fälligen Information verhilft: Der Dachverband nicht-kommerzieller Spielstellen verbreitet, dank der entgegenkommenden Hilfe von FILMBULGARIA, eine Woche des bulgarischen Films. In Basel, Bern, Freiburg, Genf, St. Gallen, Zürich und andere Städten werden bulgarische Filme, die wir in Sofia ausgewählt haben, zur Aufführung gelangen, Titel, die diese CINEMA-Nummer eingehend und im Zusammenhang vorstellen möchte. Aus Platzgründen muss diese Darstellung freilich auf den Spielfilm beschränkt bleiben. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass Bulgarien auch im Animations- und ganz besonders im Dokumentarfilm-Bereich Hervorragendes produziert. Der bulgarische Film betrifft uns nicht nur durch seine grosse stilistische Vielfalt. Seite Optik sprengt auch den exotischen Rahmen: Der Blick auf eine unverwechselbare Umgebung und Problematik gewinnt universelle Gültigkeit; er erinnert an den Satz von Léon Moussinac: «Le cinéma est ne pour dire l'unité humaine». Der bulgarische Film, der 1944 praktisch bei null beginnen musste — wie bei uns der westschweizerische 1968 — zeugt in manchem von der Gemeinsamkeit der beiden kleinen Nationen, von der Parallelität mancher notwendigen Grenzüberschreitung im weitesten Sinn des Wortes. Das werden nicht nur die Artikel dieser CINEMA-Nummer aufzeigen, sondern ebensosehr jene Filme, die Sie in den Monaten Januar und Februar in der Schweiz werden sehen können. Bruno Jaeggi POURQUOI LA BULGARIE? Nous gageons fort que beaucoup de lecteurs se poseront cette question. Pourquoi la Bulgarie? Nous ne savons à peine où la situer géographiquement. Et nous ignorons pour ainsi dire tout de son histoire, de son économie et de sa culture (par contre, Max Frisch est bien connu des Bulgares!). Et son cinéma? — nos salles de cinéma ne nous l'ont pas encore présenté. Alors: pourquoi la Bulgarie? Parce que la cinématographie bulgare s'est révélée une des plus vivantes de l'Europe de l'Est et a acquis une renommée Internationale au cours de ces dernières années. Le Festival de Locarno y a considérablement contribué en présentant au public international des œuvres comme Le recensement des lapins de garenne, Temps éternels, Souvenir, Matches du dimanche et Eau forte. Notre effort d'introduction au cinéma bulgare par le mot écrit serait plutôt vain si le spectateur suisse n'avait pas en même temps l'occasion de voir certains des films dont nous parlerons dans ce numéro. Après avoir diffusé dans les ciné-clubs suisses Le recensement des lapins de garenne et Temps éternels, CINELIBRE (l'organisation faîtière du secteur non-lucratif de la projection cinématographique en Suisse) diffusera au cours des mois de janvier et février 1977 un ensemble de films bulgares des années 1971 à 1976. Les œuvres qui seront projetées dans ce cadre, ainsi que les pages suivantes vous familiariseront avec un cinéma qui n'est — somme toute — pas exempt d'une certaine parenté avec le cinéma suisse. (meg)

CINEMA #22/4
GRENZÜBERSCHREITUNG - BULGARIEN