Wie ist es zu erklären, dass Pier Paolo Pasolini eine schweizerische Filmzeitschrift gewidmet wird? — Wäre es nicht besser, die Würdigung italienischen Kollegen zu überlassen? — Fragen, die sich auch die Arbeitsgemeinschaft CINEMA gestellt hat. Für das Projekt sprach das Fehlen von Pasolini-Literatur ausserhalb Italiens, ein Mangel, der zu vielen Fehlinterpretationen Anlass gab und gibt. Besonders im Augenblick, da der letzte Film des Italieners, Salò, diskutiert wird, ohne dass allerorts Gelegenheit bestünde, Um zu sehen, dürfte eine Arbeitshilfe gelegen kommen. Dann soll es in diesem Heft auch um das Beispiel Pasolinis gehen, um dessen Rolle in der Öffentlichkeit. Er war ein Abkömmling jenes uomo universale, den wir seit der Renaissance kennen, und er hatte noch heute Gelegenheit, seine universale Bildung wirken zu lassen. Es stand ein Kollektiv hinter ihm. Er lebte und arbeitete innerhalb einer kulturellen Szene, die wir beneiden sollten. Pasolini, der Schriftsteller, der Filmemacher, der Theoretiker, konnte sich in der Öffentlichkeit jederzeit artikulieren. Die grössten Zeitungen Italiens stellten ihm ihre Spalten zur Verfügung, wenn er zur Politik, zur wirtschaftlichen Entwicklung, zu gesellschaftlichen Fragen seines Landes etwas sagen wollte, und die höchsten Politiker antworteten ihm in den gleichen Kolumnen. Könnte man sich hierzulande ähnliches vorstellen? Die Nachricht von der Ermordung Pasolinis erschien auf den Frontseiten der italienischen Zeitungen. Neben Feuilleton-Redaktoren äusserte sich die politische und kulturelle Prominenz zur Tat und interpretierte sie als eine direkt oder indirekt politische. Das Studium der Figur Pasolinis dürfte beitragen zum erschütterten Selbstverständnis unserer Kulturschaffenden. Hier wo die Bereiche von Kultur und Zivilisation streng getrennt werden, müsste Pasolinis Biographie als Herausforderung verstanden werden. — Von der Brisanz dieser Biographie wurde ich überzeugt in Rom, auf der Strasse, in den Buchhandlungen, bei der Lektüre von Zeitungen und Zeitschriften, im Centro Sperimentale. Geholfen haben mir bei meinen kurzen Recherchen Robert Schär und Dacia Maraini. Ihnen möchte ich an dieser Stelle herzlich danken. Werner Jehle Pourquoi consacrer une revue de cinéma suisse à Pasolini? Peut-être parce que, dans notre pays, nous manquons de littérature sur ce cinéaste dont le dernier film, Salò, est actuellement très discuté, mais que tout le monde n’a pas eu l’occasion de le voir. Et puis il n’est pas seulement question de Pasolini comme cinéaste, mais aussi de l’institution publique Pasolini. Cet homme universel, écrivain, cinéaste, théoricien, se trouvait dans la situation enviable de pouvoir s’adresser n’importe quand au grand public. Les plus grands journaux de son pays se mettaient à sa disposition lorsqu’il désirait s’exprimer sur la politique ou des problèmes sociaux, et les politiciens les plus connus fui répondaient. Pourrait-on s’imaginer quelque chose d’analogue en Suisse? La nouvelle de l’assassinat de Pasolini eut droit à la première page dans les journaux; non seulement les rédacteurs des pages culturelles, mais bien d’autres personnalités de la vie publique prirent la parole au sujet de cet événement considéré toujours — directement ou indirectement — comme politique. L’œuvre, la biographie de Pasolini pourraient contribuer à la compréhension bouleversante de ceux qui font la culture. Ici où les domaines de la culture et de la civilisation sont si volontiers séparés, la biographie de Pasolini devrait être comprise comme une provocation. (AEP)
CINEMA #22/2
PASOLINI