JEAN PERRET

AUTOUR DU FEU (LAURA CAZADOR & AMANDA CORTÉS)

Tränen der Wut über den Zustand der Welt
 
Zwei einstige Anhänger revolutionärer Utopien der 1970er Jahre und drei junge antikapitalistische Aktivistinnen der 2020er Jahre wärmen sich an einem nächtlichen Feuer.
 
«Wahnsinnsraub bei der UBS im Jumbo (Villars-sur-Glâne): Diesmal 500’000 Franken – Sie entführen den Manager, um die Kassen zu leeren!», berichtet die Freiburger Tageszeitung La Liberté am 2. Juli 1979. Und in Courtepin ergattert die Fasel-Bande 350’000 Franken – zur Unterstützung verschiedener Protestbewegungen gegen die etablierte Ordnung. Kein Wunsch nach persönlicher Bereicherung motiviert sie, ausser dass Daniel Bloch in bescheidenem Mass davon profitiert, indem er eine Psychoanalyse finanziert: «Bin ich verrückt?», fragte sich der Aktivist, der zusammen mit Jacques Fasel und anderen Kameraden aktiv an schwer bewaffneten Aktionen beteiligt war. Die Liste des von den Ermittlern gefundenen Waffenarsenals ist beeindruckend. Zahlreiche Schusswaffen, Autokennzeichen, gefälschte Pässe und Zugabonnements – nur 2. Klasse, wie es heisst –, Sprengstoff und Uniformen zeugen von einer revolutionären Organisation, die sich von den Roten Brigaden, der Roten Armee Fraktion und den damaligen Erfolgen der kubanischen Revolution inspirieren liess.
 
1970er und 2020er Jahre: Laura Cazador und Amanda Cortés haben das dringende Bedürfnis, die Geschichte der 70er Jahre im Licht der Protestbewegungen der 2020er Jahre zu beleuchten, und zwar in einem Wald, um ein Feuer herum, geschützt vor dem Trubel der Welt. Im Rhythmus des Flackerns von Flammen und Reisig, das in der Schwärze der Nacht verglüht, erzählen Jacques Fasel, Daniel Bloch und drei junge Frauen aus der global militanten antikapitalistischen, drittweltlichen und antikolonialen Extinction-Rebellion-Bewegung – und hören einander zu. Die Anwesenheit dieser maskierten jungen Frauen, die nicht wollen, dass ihre Äusserungen auf ihre Person reduziert werden, verkörpert einen zeitgenössischen Bewusstseinszustand, der auf ihren Schwierigkeiten beruht, «sich an die Welt anzupassen». Sie haben keine Waffen, um in die Konfrontation zu gehen, aber ihre Aktionen sind von grosser Entschlossenheit getragen: die Hausbesetzungen, die Demonstrationen gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Polizeigewalt – man beachte die Archivdokumente, die bestens in den Film integriert sind. Die Ereignisse in der «ZAD (Zone à Défendre) de la colline de Mormont» sind beispielhaft für das Narrativ, das hier erzählt wird.
 
Der Erfolg von Autour du feu besteht gerade darin, dass es uns einlädt, uns an dieses Feuer zu setzen und diesem Dialog zuzuhören, mitten in einer spannenden Nacht des Erinnerns und der kompromisslos engagierten Projekte. Der Bildschnitt arbeitet mit der Metapher des glühenden, verbrennenden Holzes und verleiht dieser Begegnung poetische und politische Wärme und Licht. Bevor sie im Morgengrauen in der Natur verschwinden, haben die Protagonisten einander ihre Überlegungen gegenübergestellt, Überlegungen zu den Mitteln des Kampfes und des (gewaltfreien?) Widerstands gegen die Gewalt der etablierten Mächte. Ein Film ganz von heute.
Jean Perret
*1952 in Paris, erlangte ein Lizentiat in Semiotik, Geisteswissenschaften und Geschichte der Neuzeit und widmete seine Abschlussarbeit dem Schweizer Dokumentarfilm in den Dreissigerjahren. Er arbeitete als Filmjournalist für verschiedene Zeitschriften und Tageszeitungen sowie für das Radio der französischen Schweiz. Perret rief die ‹Semaine de la critique› in Locarno ins Leben und leitete sie zwischen 1990 und 1994, um dann 1995 die Leitung des internationalen Dokumentarfilmfestivals in Nyon zu übernahmen, das er unter dem Namen Visions du Réel weiterführte. 2010 bis 2018 wurde er für die Leitung der Abteilung Film – die damals den Titel ‹cinéma du réel› trug – an der Haute école d’art et de design (HEAD) in Genf berufen. Gibt Seminare und Kurse sowohl in der Schweiz wie im Ausland über allgemein das essayistische ‹cinéma et photographie du réel›. Schreibt für die Redaktionen der Online-Filmzeitschrift www.filmexplorer.ch, des Kulturmagazins La Couleur des Jours (www.lacouleurdesjours.ch), des CINEMA Zürich. Berater bei der Filmproduktionsfirma GoldenEgg und bei Filmfestivals.
(Stand: 2025)
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