This Brunner (*1945) ist ein Schweizer Filmkurator, Produzent und Installationskünstler. Er war Mitglied der Programmkommissionen zahlreicher internationaler Filmfestivals (Locarno, Zürich, Filmex Los Angeles), der Kunstmesse Art Basel, des Züricher Filmpodiums und der Arthouse Kinos in Zürich. Als Geschäftsführer der Nemo Film AG produzierte er in den 70er Jahren Filme mit den Autoren des jungen Schweizer Films zusammen und seit 2012 produziert er Videoinstallationen. Letztes Jahr erschien seine Autobiographie Magnificent Obsessions Saved my Life, in der er über sein Leben für, mit, durch und über Filme berichtet.
Wann warst du das letzte Mal im Kino und was hast du geschaut?
Ich habe so viel gesehen, dass ich das gar nicht mehr weiss. (lacht) Ich hatte Nachholbedarf, weil ich so lange im Engadin weilte, also war ich – zurück in Zürich – fast jeden Tag ein-, zweimal im Kino. Der letzte Film, den ich gesehen habe, war Tár mit Cate Blanchett, der mir sehr gut gefallen hat. Was ich hingegen entsetzlich fand, war Everything Everywhere All at Once . Für mich unerträglich schlecht. Ich kam nicht in die Geschichte rein, und es war, als wären die Regisseure vollgekokst gewesen: Zack, zack, zack, ein Effekt nach dem andern. Die Schauspielerin, die den Oscar gewann [Michelle Yeoh], hat okay gespielt, aber dass sie den Oscar vor Cate Blanchett erhielt, ist für mich unerklärlich. Das ist eine Katastrophe, eine Frechheit allen grossen Schauspielerinnen gegenüber, die früher ausgezeichnet wurden. Ich denke, das war politisch bedingt – pro Asien –, dass dieser Film so hoch hinaus schwang. Der beste Film im Paket der letzten drei, vier Monate war für mich aber eindeutig Le otto montagne. Der ist sehr eindrücklich gemacht – intelligent geschrieben, smart inszeniert und toll gespielt.
Dieses kleine Panorama ist ein schönes Beispiel für die grosse Kinodichte in Zürich – und das ist auch eines der Motive in deinem Buch Magnificent Obsessions Saved My Life: Zürich als Kulturstadt , die dem Kino einiges zu verdanken hat. Gleichzeitig lesen wir aber immer wieder Schlagzeilen über Kinos, die ihre Türen schliessen. Was bedeutet das für die Kulturstadt Zürich?
Das war komplett voraussehbar. Die erste Welle, bei der das Überleben für Studiokinos schwierig wurde, war die Ankunft der Multiplex-Kinos – Abaton, Sihlcity, etc. Die haben den Kinos viel Schaden beschert: Filme, die ich als Kinobetreiber früher als einziger spielen konnte, musste ich dann plötzlich mit drei, vier anderen Kinos teilen. Das war eine Katastrophe, weil sich die Multiplex-Kinos ja nicht auch noch den kleinen, schwierigeren Filmen annehmen, für die wir uns ein ‹Polster› mit den grossen Arthouse-Namen anschaffen konnten. Dann gab es auch noch massiv Konkurrenz innerhalb der Studio-Kinos – mit Riffraff, Houdini und dem Kosmos. Da konnte man voraussehen, dass das nicht aufgehen kann. Und leider hat Samir, den ich – das kann ich nicht genug betonen – sonst sehr mag, in dieser Beziehung schlicht zu wenig gut gerechnet. Wir kalkulierten damals ja alle, ob das Projekt funktionieren kann und kamen zur Einsicht: Nein, das kann nicht gehen. Und so kam es dann auch. In Sachen Programmierung hat das Kosmos aber gute Arbeit geleistet; die Kinos waren tadellos; der Mix mit Buchladen, Restaurant und Kino war mustergültig. Aber wenn nicht mehr Leute ins Kino gehen wollen, dann läuft es halt so. Und dann kam mit Corona der endgültige Todesstoss. Die Leute konnten zwei Jahre lang fast gar nicht mehr richtig ausgehen und richteten sich zu Hause mit ihren Fernsehern und eigenen Grossleinwänden ein. In jeder zweiten Waschküche und jedem Dachboden gibt es inzwischen ja einen Screening-Raum.
In deinem Buch schreibst du einmal über Nicholas Rays Johnny Guitar (USA, 1954) und merkst an, dass die Leser_innen nach dieser Empfehlung den Film auf keinen Fall auf Amazon kaufen sollten, sondern darauf warten sollen, bis er in einem Kino programmiert wird. Welche Rolle spielt aus deiner Sicht das Home-Cinema zu einer Zeit, in der sich gerade solche Programmpunkte für die unter immer grösserem Profitdruck stehenden Kinos immer weniger zu lohnen scheinen?
Man kann nicht sagen, dass Kinos zunehmend profitorientiert sind. Da muss ich vehement widersprechen. Man muss ja die Löhne zahlen können. Es ist absolut logisch, dass ein Minimum an Besucher_innen ins Kino gehen muss. Es war ein Kunststück, dass wir mit den Arthouse-Kinos 35 Jahre überleben konnten. Das war vor allem auch Walter Schoch zu verdanken, dem die Liegenschaften gehörten. Er kalkulierte diesbezüglich extrem knapp und tätigte trotzdem immer wieder unglaubliche Investitionen, die es uns erlaubten, unsere Kinos laufend zu erneuern. Und um auf Johnny Guitar zu sprechen zu kommen: Du musst Johnny Guitar – wie viele andere Filme auch – auf einer tollen Kopie auf der grossen Leinwand sehen. Dann funktioniert er – im Fall von Johnny Guitar gerade auch wegen des Wahnsinns-Technicolor. Das sind MoMA-Bilder! Die sind dermassen sorgfältig komponiert und farbtechnisch so schön, dass es einen umhaut. Wenn du sagst, du hast Johnny Guitar auf dem Handy oder auf dem Fernseher gesehen, dann bin ich nicht beeindruckt.
Könnten solche Filme neben den grossen Blockbustern bestehen?
Ich machte nie einen grossen Unterschied zwischen grossen Hollywood-Filmen, Blockbustern und Arthouse-Filmen. Ich habe überhaupt keine Angst vor Blockbustern – es gibt ausgezeichnete Blockbuster, jede Menge. Und es gibt auch jede Menge grottenschlechte Kunst-Filme oder Dokumentarfilme.
Du beklagst in deinem Buch die «Markenhörigkeit» des heutigen Publikums – dass die Kinowahl oft wichtiger sei als die Filmwahl. Was müssten die Kinobetreibenden deiner Meinung nach anders machen?
Bei den Arthouse-Kinos spielten wir viele Regisseure zuerst bei uns, bevor die anderen Kinos die Kopien von uns ‹klauten›. Entsprechend liefen diese Filme bei ihnen nicht mehr so gut, und bei uns auch nicht. Vorher konnten wir Filme zum Teil zehn bis zwanzig Wochen lang spielen, sogar bis zu einem halben Jahr. Jetzt regiert ‹take the money and run›: Nach ein bis zwei Wochen fallen die meisten kleineren Filme schon wieder aus dem Kino. Das Schlimmste an der neuen Programmation – und das gilt weltweit, nicht nur in Zürich – ist, dass die gleichen Regisseure nicht mehr in den gleichen Kinos laufen. Paul Schrader lief immer im gleichen Kino, die Westschweizer Filme liefen im Nord-Süd, Kathryn Bigelow lief im Le Paris, dann im Movie in der Verlängerung. So konnte man ein Branding etablieren. Das fällt jetzt völlig flach. Jetzt herrscht Wischiwaschi-Programmation, auch im Arthouse-Bereich, weil jeder, der eine Kopie will – bis in die kommerziell ausgerichteten Multiplex-Säle – eine bekommt. So kann sich kein Kino mehr ein Profil verleihen. Das erschwert den Kinobetrieb.
Apropos Kathryn Bigelow: Du hebst in deinem Buch ihren Vampirfilm Near Dark (USA, 1987) als dein persönliches Horrorfilm-Highlight hervor, nach dem du dich mit dem Genre ‹zufriedengeben› konntest. Wie intensiv hast du dich in den letzten Jahrzehnten mit dem Genrekino befasst?
Ich liebe Genrekino. Ich liebe gute Western, Krimis, Liebeskomödien von Sirk bis Minnelli. Das ist alles grossartig, wenn es gut gemacht ist. Das ist nicht das Problem. In meiner Karriere als Kinobetreiber spielte ich The Texas Chain Saw Massacre , Near Dark und noch ein paar andere, weil ich sie ausgezeichnet fand. Aber ich muss ehrlich sagen: Scream Nummer sechs, sieben, acht und neun brauche ich nicht mehr, selbst wenn sie gut gemacht sind.
In deinem Buch erzählst du viel von deiner Zeit als Kinobetreiber zwischen den 1950er- und den 1990er Jahren. Welche Veränderungen haben sich da abgespielt?
Zürich ist eine grossartige Kinostadt und hatte schon immer ein sehr gutes Programm. Unter meinen Fittichen wurde es hoffentlich noch etwas experimentierfreudiger und extremer. Ich wurde vom Departement des Inneren sogar darauf hingewiesen, dass ich auf gar keinen Fall Pasolinis Salò spielen dürfe – sonst müssten sie einschreiten. Auf keinen Fall Ōshimas In the Realm of the Senses. Ich wurde davor gewarnt, Filme von Niki de Saint Phalle zu spielen, habe es dann aber doch gemacht – und wurde angeklagt. Daraufhin wurde der Film eingezogen – das Gleiche passierte bei John Waters’ Pink Flamingos. Aber diese Filme waren in vielen anderen Städten und Ländern damals auch verboten, nicht nur in Zürich.
Könnte es heute noch passieren, dass Filme so einen Skandal auslösen?
Sie werden gar nicht mehr so wild produziert. Wenn man heute Salò oder Pink Flamingos anschaut, sind diese Werke schockierender als damals. Shock-Value, wie ihn junge Filmschaffende heute zu erzielen versuchen, pfeift dagegen aus dem letzten Loch. Das funktioniert nicht mehr, weil man merkt, dass das Ganze zu bewusst auf Schock getrimmt ist. Es wirkt nicht mehr glaubwürdig. Ōshima, Pasolini und Waters, um die drei Extreme zu nennen, wollten nie einfach nur schockieren. In ihrem Weltbild brauchte es diese Filme; sie mussten gemacht werden. Das hatte nichts mit Shock-Value zu tun. Sie sind aus der Zeit gewachsen, waren für uns eine Notwendigkeit!
Siehst du das Potenzial für solche Filme in zeitgenössischen Filmemacher_innen?
Wer es versucht hat – und am Anfang damit gescheitert ist –, ist Michael Haneke. Mich ekelten seine Filme; ich fand sie furchtbar. Funny Games und andere waren unerträglich. Das war dermassen kalkuliert, dermassen auf Gewalt ausgerichtet, nur um zu schockieren. Ganz nach dem Motto: ‹Hauen wir auf den Putz und zeigen, wie grausam unsere Welt ist›. Das war zu abweisend, zu plump, zu brutal, zu verrohend. Und dann kam plötzlich – endlich – Das weisse Band, den ich grossartig fand. Das war, als hätte Ingmar Bergman Haneke kopiert. Ich wünschte, er würde mehr Filme wie Das weisse Band oder La pianiste machen. Die Interviews mit ihm sind hingegen eine Katastrophe, auch wenn sie klüger scheinen, als was ich jetzt von mir zu Blatt gebe. Sie sind mir zu prätentiös. François Ozons erster Spielfilm Sitcom wiederum war äusserst provokativ, im Stil von John Waters. Der war irre witzig – und Ozon wurde später natürlich auch zu einem hervorragenden Regisseur.
Und er gilt ja auch als ein moderner Vertreter des Melodramas.
Genau. Er hat Sirk sehr genau studiert. Ich habe mit Ozon lange Abende damit verbracht, über Melodramen zu diskutieren. Das Gleiche gilt für Todd Haynes, der damals bei mir im oberen Stock meine Douglas-Sirk-Sammlung sah, als sie noch bei mir war. Ich sagte ihm, es sei schade, dass kein junger Filmemacher Sirks Erbe antrete – und dann drehte er ein paar Jahre später Far from Heaven, den ich hervorragend finde: Sirk, wunderbar neu interpretiert.
Von Douglas Sirk schreibst du, dass du ihn, vor allem in seinen späten Jahren, dafür bewundertest, dass er sich darum bemühte, filmisch am Puls der Zeit zu bleiben. Was hat dich daran speziell beeindruckt? Er hat sich nicht darum bemüht, am Puls der Zeit zu bleiben – er war immer am Puls der Zeit. Als er blutjung war, studierte er die grossen Klassiker und inszenierte sie am Theater und in seinen ersten Filmen. Er war immer sehr neugierig, was Literatur, Theater und Film betraf. Und später wollte er alles von Bertolucci und Pasolini sehen. Er pflegte eine grosse Freundschaft mit Fassbinder, dessen Filme er liebte. Ōshima schätzte er auch sehr. Er schaute sich alles an und zeichnete sich durch seine grenzenlose Neugier aus – selbst was die Schwulenszene anging. Er selber war zwar nicht schwul; er liebte seine Ehefrau über alles – und sie ihn –, aber er interessierte sich sehr für schwule Literatur und den schwulen Film. Und er äusserte sich niemals auch nur im Geringsten auf fragwürdige Art und Weise über irgendwelche Szenen.
Dein eigenes Interesse an Film, Literatur, Theater und Literatur zieht sich quer durch dein Buch. Deine eigene künstlerische Arbeit konzentriert sich aber auf Installationen. Haben dich das Filmemachen oder das Verfassen von literarischer Fiktion nie gereizt?
Nein, nie. Ich hätte nie bei einem Film Regie führen wollen. Das hätte ich mir nicht zugetraut. Dasselbe gilt für das narrative Schreiben. Als ich ganz jung war, schrieb ich das Drehbuch für einen Kurzfilm, und der wäre – glaube ich – auch nicht schlecht rausgekommen; aber ich habe es nie bereut, dass ich die Bahn eingeschlagen habe, die ich eingeschlagen habe. Nach 1968 war für mich klar, dass die Zürcher Kinobesitzer nicht schnell genug auf die neuen Filme reagierten. Ich merkte: Wenn Rainer Werner Fassbinder und Wim Wenders liegen bleiben und bei uns nicht gezeigt werden, dann ist es höchste Zeit, Vollgas zu geben. Also nahm ich diese Filme im ersten Filmpodium – damals noch im Theater am Hechtplatz – ins Programm. Meine Filminstallationen wiederum sind thematisch und cineastisch gezielt und präzise gemacht. Aber ich habe darin nie eine narrative Geschichte gesucht. Sie sind assoziativ; und Assoziation kann auch narrativ sein, aber sie muss es nicht sein. Ich arbeite einfach nur mit Bildmaterial und Filmmusik. Meine Installationen sind eher Arbeiten gegen das Vergessen, Hommagen an die Filmkünstler – von Sirk und Howard Hawks über die Nouvelle-Vague-Autoren bis hin zu Frank Tashlin, Pasolini, Joseph L. Mankiewicz, Jerzy Skolimowski oder Satyajit Ray.
Videoessays sind inzwischen auch ein beliebtes Tool in der Filmanalyse und der Filmkritik. Was ist für dich der Wert von Filmkritik und analytischer Filmrezeption?
Darüber kann ich viel sagen, weil ich immer gelitten habe wie ein Schwein, wenn die Kritiker zu früh draufhauten und Filme von Regisseuren fertig machten, die sich später als grosse Regisseure etablierten. Bei Quentin Tarantino etwa bekam ich im «Tages-Anzeiger» grauenhafte Verrisse. Zum Teil auch in der «NZZ», je nachdem, wer schrieb. Viele der grossen Regisseure aus dem neuen Kino wurden von der Presse ungerechtfertigterweise verrissen. Als ich mit der Kinoprogrammation anfing, hatte ich das Glück, noch mit der alten Kritikergarde zu arbeiten: Das waren Martin Schlappner in der «NZZ», Hans-Rudolf Haller im Gratisblatt «Züri Leu» und Martin Schaub. Die waren sehr intelligent, gebildet und begleiteten die Filme immer sehr gut. Das Level der Filmkultur einer Stadt hängt leider stark an der Pressebegleitung. Kürzlich schrieb Bice Curiger in der «NZZ» einen bösen Artikel gegen die Feuilletons und wie lieblos sie heutzutage geschrieben sind – und gegen die Kritiker: Wo sind die klugen Kritiker? Das ist absolut berechtigt. Und dann könnte man ja auch mal John Waters kluges Kunstwerk Contemporary Art Hates You weiterdenken. Dies trifft auch auf die Filmkultur zu. Wenn etwas wirklich neu ist, heisst das eben nicht «Smile, art loves you!» oder «Film loves you!». Ich bin generell enttäuscht von der Kritik – auch was das neue Theater betrifft. Neulich ging ich ins Schauspielhaus zu Trajal Harrells The Romeo: Grossartig – aber die «NZZ» druckte eine völlig belanglose Besprechung. Das gilt auch oft für Filme. Man kann – mit wenigen Ausnahmen – nicht mehr auf einzelne Kritiker setzen und aufgrund deren Empfehlungen wissen, was man jetzt wirklich sehen sollte. Es geht – ganz nach Lust und Laune – mehr um Selbstprofilierung, darum, eine Extremposition einzunehmen; oder es wird gegen Kritiker-Kollegen geschrieben. Das ist den Filmen nicht förderlich und den Regisseuren gegenüber unfair. Dann kommt noch etwas relativ Neues dazu: dass die dümmsten Reality-TV-Sendungen wie Bachelor etc. in der Presse mit ausführlichen Kommentaren begleitet werden. Damit gelingt es diesen Werken, sich noch populärer hochstilisieren zu können als es ihnen gebührt. Das Publikum bleibt somit lieber zu Hause hocken und schläft vor dem Fernseher ein, als dass es ausgeht, um einen guten Film zu entdecken.
Was hältst du von negativer Kritik?
Sie killt Filme. In einer Stadt wie Zürich, die 60, 70 Leinwände hat, hat man eine grosse Auswahl, also fällt die Wahl vieler Kinogänger lieber auf einen Blockbuster, weil man da vermeintlich auf Nummer sicher geht – anstatt in einen guten Studiofilm, der in der Presse fertig gemacht wird.
Das Streiten über den Film gehört aber auch zur Kritik dazu.
Da hast du recht. Aber dann müsste tatsächlich ein Streitgespräch stattfinden – anstatt dass man umblättert und niemals mehr über den Film geschrieben wird. Es ist wie mit der «Weltwoche»: Glaub mir, ich habe ein Leben lang linkes Kino gespielt – aber trotzdem braucht es eine Presse, die von rechts ein Gegengewicht zur linken Presse bildet. Ich finde es allerdings fragwürdig, wenn in dieser Presse dann nur rechte Artikel erscheinen. Mir wäre es lieber, wenn die «Weltwoche» ein Dialog zwischen links und rechts wählen würde. Das wäre schlauer. Das Gleiche gilt für die linken Zeitungen wie die «WOZ» – wobei es dort wirklich intelligente Autoren gibt. Aber auch da wäre etwas mehr Diskussion als nur Meinungsmache besser.
Gibt es in der internationalen Filmpresse jemanden, den du regelmässig liest?
Früher jede Menge. Ich las viel in der italienischen, französischen Presse, «Le Monde», «Libération» und in den deutschen Feuilletons. Von den Allerbesten sind dort inzwischen aber leider viele weggestorben. Ich finde zu kaum mehr jemandem einen so engen Kontakt, dass ich ihm oder ihr blind folgen könnte. Schwierigere, extremere Themen werden nicht mehr so vertieft ausgelotet, nicht mehr von verschiedenen Personen diskutiert, wie der Stoff es verdiente. Ich weiss nicht, woran das liegt. Vielleicht auch an den Richtlinien der Chefredakteure, die unter dem gewaltigen finanziellen Druck stehen?
Stichwort Filmkritik: Vor ein paar Monaten wurde die neue «Sight & Sound»-Liste der «besten Filme aller Zeiten» veröffentlicht. Chantal Akermans Jeanne Dielman, 23 quai du Commerce, 1080 Bruxelles (Belgien/Frankreich, 1975), der bei dir im Buch auch vorkommt, eroberte den ersten Platz. Wie bewertest du die neue Liste?
Jeanne Dielman kam sogar im Buch vor, bevor er zuoberst auf der Liste landete! Das ehrt mich sehr. (lacht) Primär freute ich mich riesig über diese Wahl. Chantal Akerman sass mehrmals hier bei mir am Tisch – ich habe für sie gekocht. Was für eine tolle Frau – ich liebte sie. Sie war so offen und ehrlich, vor allem auch gegenüber sich selbst, gegenüber ihren Mängeln, gegenüber ihren Ängsten und Manien. Beim Abendessen erzählte sie einmal lange davon, wie sie nicht im Zug fahren kann, wie sie nicht einfach in einem Zugabteil sitzen und ein Buch lesen kann, weil sie plötzlich von einer Angst gepackt wird und auf der Reise von Belgien nach Paris quer durch den Zug rennen musste. Die ganze Reise lang hin und her… Dank Lithium wurde sie von dieser Manie doch einigermassen erlöst. Chantal Akerman über alles! Und Jeanne Dielman ist einfach ein grossartiger Film, mit Delphine Seyrig in der Hauptrolle, eine der herausragendsten Schauspielerinnen aller Zeiten. Alleine schon wegen ihrer Stimme und ihres geheimnisvollen Timings wegen.
Und es ist ein Film, der vom Kinoerlebnis profitiert.
Eindeutig. Wenn man den alleine zu Hause auf dem Sofa sieht… Allein geht vielleicht noch, wenn man einen guten Hund daneben hat, der einen nicht stört, sondern nur pennt. (tätschelt den schlafenden Hund neben sich) Aber mit einer ganzen Familie, die an Nüssen und Popcorn knabbert, ist der Film ruiniert. Während der Coronazeit dachte ich sehr viel an Jeanne Dielman, weil ich die ganze Zeit in meiner einfachen Siebzigerjahre-Küche stand und Einkäufe wegräumte, Gemüse schnitt, kochte und wieder aufräumte. Ich dachte immer, dass meine Nachbarn, wenn sie mich hier sehen, Jean Dielman zu Gesicht bekämen. Ich musste so oft an Delphine und Chantal denken.
Wie man in deinem Buch erfährt, sassen bei dir ja viele Prominente am Tisch. Du warst mittendrin im internationalen Jetset des späten 20. Jahrhunderts. Wurde dir das jemals zu viel?
Nein. Erstens war es nicht Jetset, den kannte ich anderweitig – es waren immer Künstler, Filmemacher, Schauspielerinnen, Autoren. Und ich dachte – wenn ich bei wirklich grossen Persönlichkeiten wie den Agnellis oder Aga Khans eingeladen war –, jedes Mal könnte das letzte Mal sein. Ich schreibe im Buch ja: Es wirkte alles so, als dürfte ich das letzte Kapitel des Kapitalismus miterleben. Die Tische waren hoch dekoriert, die Leute enorm spannend. Unter meinem Dach darf man nichts Böses über Elizabeth Taylor sagen, sonst gibt es Streit. Dasselbe gilt für Yul Brynners Ex-Frau Doris. Bei Sofia Loren können wir diskutieren. (lacht) Nein, das waren meist unglaubliche Persönlichkeiten. Viele gehörten auch zu einer «classe à part», grosse Intellektuelle, von Edmund White, Richard Sennet, Cy Twombly und Andy Warhol bis Bernardo Bertolucci, Robert Wilson und Douglas Sirk. Ich hatte unglaubliches Glück, das erleben zu dürfen. Wie könnte ich mich da im Nachhinein darüber beklagen, dass ich so privilegiert war, sie alle kennenzulernen? Ich habe von ihnen enorm viel gelernt. Natürlich gab es zwischendurch Nullnummern, aber es waren immer interessante Leute dabei. Mit so schrägen Leuten wie Udo Kier oder John Waters konnte man sich totlachen.
Du paraphrasierst in deinem Buch ein Meryl-Streep-Zitat aus dem Film Ironweed (USA, 1987): «No-one ever asked me how many names I did not drop.» Gibt es Anekdoten oder Personen, die es aus irgendwelchen Gründen nicht ins Buch schafften?
Es gab mehrere Leute – gestandene heterosexuelle Männer –, die mir mit Tränen in den Augen sagten: «This, ich muss dir gestehen, ich bin enttäuscht, dass ich im Buch nicht vorkomme.» Andere wiederum wollten, dass sie im Buch nicht vorkommen. Man kann es nie allen recht machen. Das ist, wenn man eine Biografie schreibt und nicht langweilen will, ein Ding der Unmöglichkeit.
Ein prominentes Thema in deinem Buch ist die AIDS-Pandemie. Wie hast du dieses Kapitel der jüngeren LGBT-Geschichte miterlebt?
Die gesellschaftliche Akzeptanz für Homosexualität verschlechterte sich anfänglich durch AIDS. Die Leute waren phobisch und rannten davon. Es brauchte viel Zeit, bis die meisten merkten, dass es nicht einfach eine schwule Krankheit ist – dass auch Heterosexuelle daran erkranken können. Zuallererst betraf es ja vor allem die Randständigen und die Drogenabhängigen. Für die Schwulenbewegung war das alles eine Katastrophe. Es brauchte den Aktivismus von Leuten wie Rosa von Praunheim und Edmund White. White war einer der allerersten Intellektuellen, der öffentlich zugab, dass er HIV-positiv war. Es brauchte Leute wie Elizabeth Taylor, die jahrelang Klartext und von Herzen für die Schwulen gesprochen und Geld, Zeit und viel Engagement investiert hatte, bevor US-Präsident Ronald Reagan überhaupt erst Worte wie «schwul», «AIDS» oder «Gummi» auch nur in den Mund nahm. Es war ein langer Prozess, bei dem die Presse zum Glück stark mithalf. Sie verstand und unterstützte den Aktivismus von Gruppierungen wie ACT UP. So wurde das Ganze in der Gesellschaft immer weniger zum Problem.
Wie sieht es heute aus?
Aus meiner Sicht laufen diese Diskussionen heute oft ins Leere. Es wird zu oft über Probleme diskutiert, die, wie ich dachte, gar keine Probleme mehr sind. Wer sein Leben selbstverständlich leben will, kann das tun. Wohlverstanden, ich spreche hier von Zürich – nicht von Birmensdorf oder sonst einem kleinen Ort, wo wie früher ‹nur› der Coiffeur schwul ist. In Zürich und anderen Grossstädten sehe ich diesbezüglich keine grossen Probleme – mit Ausnahme der Rechtsradikalen, die Schwule auf der Strasse attackieren. Das geht einfach nicht; das ist eine Katastrophe. Aber dann wird in der Presse auch entsprechend reagiert, und zwar von links bis rechts – jedenfalls bei uns. In den USA ist es anders. Dort verübte ja neulich eine Transperson ein Attentat – und sofort wurde das von Trump-Anhängern und einem grossen Teil der Republikaner dafür benutzt, um zu sagen, dass diese Gewalt aus der LGBT-Community kommt. Und das stimmt einfach nicht. Transmenschen in den USA – und wohl auch bei uns – haben eine viel höhere Selbstmordrate als der Bevölkerungsdurchschnitt. Und die Statistiken sind klar: Im Verhältnis zu den ‹Hetis› begehen Transmenschen viel weniger Verbrechen. Was die Republikaner – und bei uns die Rechtsradikalen – diesbezüglich erzählen, stimmt wieder einmal überhaupt nicht. Das ist jenseits von Gut und Böse. Insofern bin ich bei der heutigen LGBT-Diskussion klarer Ansicht. Im Kulturbereich sieht es etwas anders aus. Beim Schauspielhaus Zürich wird zum Beispiel oft kritisiert, dass es zu LGBT-mässig bespielt wird, dass das zu oft das Thema ist und gewisse Leute dadurch vergrault werden. Bis zu einem gewissen Grad mag letzteres stimmen – vor allem aber auch, weil das Schauspielhaus von der Presse nicht gebührend unterstützt und stattdessen negativ begleitet wird. Andererseits gibt es aber Inszenierungen wie Harrells The Romeo: Er dramatisiert nicht das alte ‹Die armen Schwulen, die armen Transmenschen›-Lied, sondern man spürt bei jeder Figur auf der Bühne, dass sie ihre eigene Geschichte hat. Das wird mit so einer Selbstverständlichkeit gezeigt, dass man am Ende des Stücks, das zum Glück nur knapp 80 Minuten dauert, das Gefühl hat, dass das Leben so sein sollte: Jeder kann sich so geben, wie er sich spürt. Paradise now! Das ist doch schön! Das steht in starkem Kontrast zu «NZZ», «Tages-Anzeiger» und «WOZ» am Morgen und den Nachrichten am Abend, wo man mit dem Gefühl zurückgelassen wird, alles sei grauenvoll. Mir tun die Jungen leid: Wie sieht deren Leben in 20, 30 Jahren aus? Jetzt kommt auch noch das Problem von Artificial Intelligence dazu. Ich finde kaum noch Zeit, alles mitzuverfolgen. Alles wird immer schneller, immer verrückter, immer gefährlicher werden – vor allem mit Idioten wie früher Trump und Putin an der Spitze, welche die Welt in Atem halten. Das ist für mich eine wahre Katastrophe.
Wie sieht die Zukunft des Kinos aus?
Auch neue Technik verändert die Kunst. Wenn in der Kunst etwas neu ist, passiert es meistens parallel zur Technik: Computertechnik, Artificial Intelligence und Bitcoin sind zum Beispiel schon lange in der Kunst angekommen. Egal, ob einem dies nun aus spekulativen Gründen gefällt oder – wie mir – nicht. Im Film ist es auch so. Früher wurden Filme auf Zelluloid gedreht, einem teuren Material, mit dem man nicht alles zigmal von Neuem drehen konnte, weil das zusätzliche Laborkosten verursachte und schnell zu teuer wurde. Entsprechend mussten sich Drehbuchautoren und Regisseure mehr Gedanken darüber machen, was sie machen wollten. Ein bisschen wünsche ich mir diese Zeiten zurück: dass man sich im Vorfeld genauer überlegt, was das Werk sein soll, und dass präziser, genauer, schöner gearbeitet wird. Es sollte nicht heissen ‹anything goes› – dass man sich eine Linie reinzieht und mit der Handykamera rumalbert und es Kunst nennt. Das hasse ich. Ich mag es, wenn etwas so gemacht ist, dass man die Handschrift des Regisseurs dahinter spürt. Aber ich beklage mich nicht über junges Kino. Ich sehe immer wieder tolle Filme, die es sich zu unterstützen lohnt – die von allen Seiten gut begleitet werden sollten, damit die Filmemacher weiterhin gut arbeiten können.
Du hast auch Filme produziert, oder?
Ja, aber ich wurde eher zum Helfen genötigt. Das kam nicht von mir. Sennentuntschi etwa war in einer Notsituation, also musste ich einspringen, damit der Film überhaupt zustande kam. Aber der Film ist – obwohl ich total übers Ohr gehauen wurde und viel Geld verlor – toll. Ich habe ihn neulich im Rahmen des Michael-Sauter-Memorials im Filmpodium zum vierten Mal gesehen, und ich finde, er wird immer besser. Dann auch den Film über Paul Bowles von Daniel Young, den ich koproduziert habe. Er wurde an verschiedenen Festivals ausgezeichnet und ist ein starkes Dokument über den grossen Beatnik-Schriftsteller und seinen Einfluss auf Bertolucci bis John Waters.
Mad Heidi (Schweiz, 2022) hast du gesehen?
Nein, das gehe ich nicht schauen. Oder Der Bestatter: Ich liebe Mike Müller als Komiker. Ich könnte ihm endlos zuhören – irre komisch. Aber dass man ihn jetzt in eine Bestatter -Kinoproduktion gedrückt hat, verstehe ich nicht. Das interessiert mich weniger.
Hinter diesen Entscheidungen steht ja oft der Gedanke, dass Stoffe schon ein eingebautes Publikum haben müssen, um im Kino zu reüssieren.
Ja, aber trotzdem: Das ist Denken aus den Fünfzigerjahren und jetzt leben wir 2023.
«Every autobiographer must secretly believe he has triumphed in life», lautet ein Zitat von Arthur Miller. Bist du einverstanden?
Nein. «Triumphed» ist ein starker Ausdruck. Ich halte mein Buch nicht für einen Triumphzug. Aber ich bin froh und erlöst, dass ich es gemacht habe – es war eine riesige Arbeit. Wenn junge Generationen das Buch lesen, könnte es sie dazu inspirieren, ihrem Leben mehr Sinn zu geben und alles mit mehr Passion anzugehen. Ich empfand den Dialog zwischen Kunst, Film, Architektur, Literatur und Fotografie und meiner eigenen Biografie sehr bereichernd und habe dank dieser Erkenntnis ganz klar ein reicheres Leben führen können. Wenn das jüngere Leute, die meine Biografie lesen, erreicht, dann ist schon viel gewonnen.
Dieses Interview entstand als Teil der Recherchen für den Swissinfo-Artikel "This Brunner, Hollywood's best Swiss friend, shares star-studded memories".