JEAN PERRET

WAY BEYOND (PAULINE JULIER)

Das Projekt dieser grössten Baustelle der Welt, das die Entdeckung des unendlich Kleinsten durch die Menschheit ermöglichen soll, muss die wissenschaftliche und politische Welt zum Träumen bringen. In der französisch-schweizerischen Region um Genf, in der Nähe des CERN (Center Européen de Recherche Nucléaire), arbeiten Hunderte von Wissenschaftler_innen mit für den Laien schwindelerregenden Kompetenzen am Start des FCC (Future Circular Collider). Dieses Mammutprojekt fördert die Beschleunigung von Atomen mit annähernder Lichtgeschwindigkeit, bis es zu deren Kollision kommt. Dabei steht die Erweiterung des Wissens über die Entstehung der Materie im Zentrum zahlreicher Forschungsprojekte. Die Forschungsarbeiten sind äusserst komplex und werden von Pauline Julier aus ihrer Sicht als Filmemacherin beschrieben. Sie möchte die Welt der Zuschauer_innen zum Träumen bringen!
 
Die Filmemacherin hat kaum das Fachwissen, um die wissenschaftliche Dimensionen des FCC zu erklären. Doch sie hat diese Welt 18 Monate lang an drei bis vier Tagen im Monat als Aussenstehende besucht. Sie nimmt an Arbeitssitzungen und einem Kolloquium teil, vertieft sich in die audiovisuellen Archive des CERN, läuft durch Korridore, betrachtet Anzeigetafeln mit Grafiken, Zeichnungen und mathematischen Formeln. So beobachtet sie beispielsweise eine Frau und einen Mann in weissen Anzügen und Helmen, die in einer riesigen, goldfarbenen Neutrinokammer mit der Reparatur von mit Wasser gefüllten Magnetfenstern beschäftigt sind. Wir erfahren nicht, um welche Art von Architektur es sich handelt, noch, wozu er eingesetzt wird. Es gibt keine Erklärungen, keine Voiceover-Stimmen oder Interviews, die uns diese fremde Welt erklären. Und das ist auch gut so.
 
Way Beyond hält sich bei den Informationen, die mit Bedacht über den Verlauf des Films verteilt werden, an einen streng dokumentarischen Duktus. So ist es den Zwischentiteln auf der Leinwand zu verdanken, dass sie als Echo auf die Bilder eine reflektierende Distanz herstellen. Der Film stellt streng genommen einen Versuch dar, einen eigenen Kreis um den 100-Kilometer-Ring des CERN zu ziehen. Dadurch schafft Jullier eine Wechselwirkung zwischen der Welt der Wissenschaftlichkeit und der Welt des legitimen Ehrgeizes, einen Film über diesen Ort zu schaffen. Das grosse Verdienst des Films besteht darin, dass er die Stimmen, Gesichter und Hände all dieser Menschen in den Vordergrund rückt – wozu der Soundtrack auf subtile Weise beiträgt – und dadurch Raum schafft für das Nachdenken, für die zweifellose Bewunderung der menschlichen Intelligenz und für die Frage, ob der Gigantismus dieses Projekts letztlich gerechtfertigt sei. Im Film steht geschrieben, dass Partikel unsichtbar und nur ihre Spuren sichtbar sind. Genau in dieser Form entfaltet sich die Suche nach sichtbaren Spuren in Way Beyond als eine Geschichte mit vollem Bewusstsein dafür, dass der Film die Materie nie vollständig ausschöpfen wird.
Jean Perret
Jean Perret, geboren 1952 in Paris, in Genf etabliert, ist als Autor von zahlreichen Publikationen bekannt, gibt Seminare und Kurse sowohl in der Schweiz wie im Ausland über Semiotik, Ästhetik, Gesellschaft und "cinéma et photographie du réel". Leitet 16 Jahre das Festival „Visions du Réel“ in Nyon, dann ab 2010 das Département Cinéma / cinéma du réel in der Haute École d'Art et de Design in Genf. Heute Mitglied der Redaktionen der online Filmzeitschrift www.filmexplorer.ch und des Kulturmagazins La Couleur des Jours (www.lacouleurdesjours.ch ).
(Stand: 2019)
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