THOMAS HUNZIKER

COFFEE BREAK (VIVIANE BARBEN, SARAH BINZ)

Eine Frau sitzt in einem Café an einem runden Tisch und ist vertieft in ihre Lektüre. Das ist die Ausgangslage von Newspaper News (CH 2019) von Sophie Laskar-Haller. Und neuerdings auch von Coffee Break von Viviane Barben und Sarah Binz. Eine weitere Gemeinsamkeit der beiden kurzen Animationsfilme: Die Protagonistin verliert sich im Verlauf der Geschichte in einer anderen Welt. Doch inhaltlich beschäftigen sich die beiden Kurzfilme mit unterschiedlichen Konflikten: Während die Frau in Newspaper News in fürchterlichen Zeitungsberichten zu versinken droht, wird die Buchleserin in Coffee Break von einem äusseren Reiz in eine fremde Welt entführt. Plötzlich setzt sich nämlich ein Jaguar an ihren Tisch.
 
Der mysteriöse Eindringling gesellt sich ungefragt zur verwunderten Leserin, die er durch seine Brille genau mustert. Sie versteckt sich vor dem intensiven Blick hinter ihrem Buch. Die lockere Jazzmusik bricht ab. Als der Jaguar mit seinem Fuss auch noch gegen das Tischbein stösst und beinahe der Kaffee überschwappt, wendet sich die Leserin empört ab. Da spriessen plötzlich Pflanzen um den Tisch herum, Bäume wachsen in den Himmel und die beiden finden sich unvermittelt in einem finsteren Dschungel wieder. Bald kreisen dunkle Rabenvögel durch die Luft und bedrängen kreischend die Leserin. Wild schlägt sie mit dem Buch um sich und versucht sich schliesslich mit einem Schrei aus der bedrohlichen Lage zu befreien. Daraufhin setzt sich auch der Jaguar mit einem Brüllen gegen die lästigen Vögel zur Wehr. Der Schatten lichtet sich, die Jazzmusik setzt wieder ein. Entspannt sitzen sich nun Leserin und Jaguar gegenüber und nippen an ihren Kaffeetassen. Der Dschungel ist wieder der Zivilisation gewichen.
 
In einer kurzen Zeitspanne von gerade einmal drei Minuten entfalten die Filmemacherinnen Viviane Barben und Sarah Binz eine üppige Gedankenwelt, die zu zahlreichen Interpretationen hinreissen lässt. Zunächst einmal ist da der atmosphärisch bezaubernd umgesetzte Kontakt zwischen Tier und Mensch, der zwischen Faszination und Bedrohlichkeit wechselt. Darin enthalten sind auch die Gegensätze zwischen der behaglichen Sicherheit der Zivilisation und der ungebändigten Wildnis des animalischen Eindringlings. Auf einer anderen Ebene verkörpert der Jaguar auch eine besitzergreifende Männlichkeit, welche die Komfortzone der Frau aus der Ruhe bringt. Den Regisseurinnen gelingt es dabei, mit dezenten Veränderungen der klar konturierten Zeichnungen die komplexe Gefühlslage der beiden Hauptfiguren zu skizzieren.
Thomas Hunziker
*1975, Studium der Filmwissenschaft, Anglistik und Geschichte an der Universität Zürich. Er arbeitet als Radiologiefachmann und betreibt das Filmtagebuch filmsprung.ch. Mit seiner Partnerin und zwei Kindern lebt er in Schaffhausen.
(Stand: 2021)

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