JACQUELINE MAURER

LETTRE À JEAN-LUC GODARD (MUSTAFAA SAITQUE)

Mit einer fast leer gefegten Lausanner Strasse beginnt der mittellange Dokumentarfilm von Mustafaa Saitque. Die zweite Einstellung macht klar, was für Verhältnisse herrschen: An einem Zaun hängt ein Infoblatt, das auf die vom Bund getroffenen Massnahmen aufgrund der Covid-19-Pandemie hinweist. Als die Kamera weitere Orte, Hinweistafeln und nun diverse Menschen in den Blick nimmt, erklingt eine Frauenstimme aus dem Off, die über unsere Fragilität bezüglich des Virus reflektiert und den «Stopp» als Demonstration der funktionierenden staatlichen Kontrolldispositive deutet. Als wir die Sprecherin sehen, handelt es sich nicht etwa um eine Wissenschaftlerin, sondern um eine Passantin. Damit ist auch schon das Konzept des Films wiedergegeben, der während den ersten Lockdown-Wochen 2020 ganz unterschiedliche Einwohner_innen aus Lausanne zur Sprache kommen liess.
 
Der senegalesische Poet und Filmemacher Mustafaa Saitque hat Lettre à Jean-Luc Godard spontan mit seiner Handkamera gefilmt, rund 15 Passantinnen interviewt und das Drehbuch wie auch die Montage verantwortet. Auf der Kommentarebene äussert er sein Verhältnis zur Stadt, welche er lediglich passieren wollte, die sich (ihm) jedoch verschloss. Was ihn interessiert, sind nicht die Gebäude und was Menschen darin tun – so wie ihm sein Bruder Lausanne erstmals präsentiert hat –, sondern die Gesichter. Damit reagiert Saitque zuerst implizit, dann explizit auf Godards Kurzfilm Lettre à Jean-Luc Godard von 1982. Der gestandene Regisseur wurde von der Stadt zum 500-Jahr-Jubiläum beauftragt, ein Portrait zu schaffen. Godard, der sich darin selbst im Studio zeigt und Lausanne als blosses Gebilde aus Farben, Linien, Kurven und Gesichtern darstellt, hat den Auftrag durchkreuzt. Saitque kritisiert Godard, von dessen Film er erst während des eigenen Drehs erfahren habe, da er zwar viele Frauen gezeigt hat, doch sie nicht sprechen liess. Stattdessen sprach er selbst und über berühmte Männer, die ihn absolut nicht nötig hätten, um gehört zu werden. Jedoch stimmt Saitque mit Godard überein, dass das Kino dringend rasch auf den Grund der Dinge gehen müsse.
 
Saitque selbst sehen wir nur einmal als Reflexion im vorbeifahrenden Bus. Sein mit einfachen Mitteln kreierter und vom interdisziplinären Lausanner Kollektiv Zooscope produzierter Film ist eine feinsinnige Beobachtung der Stadt während des Lockdown-Alltags mit erstaunlich differenzierten Aussagen unterschiedlichster Passant_innen, wie er selber einer ist. Zuerst hätten sie Distanz genommen, meint er über seine Protagonist_innen, doch dann hätten sie sich ihm geöffnet und sein Dasein als Filmemacher mitentworfen, denn: «Je suis, parce que nous sommes.»
Jacqueline Maurer

(Stand: 2022)
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