MILOŠ LAZOVIĆ

PAS DE DEUX (ELIE AUFSEESSER)

Der mit dem Oper Prima Preis ausgezeichnete Dokumentarfilm von Elie Aufsesser dokumentiert eine aussergewöhnliche Genfer Familie: diese spricht nicht nur Französisch, Englisch und Chinesisch, sondern zugleich, wenn auch nicht fliessend, dann zumindest recht unverblümt, die Sprache der eigenen Zukunft. Anhand der Geschichte zweier Brüder reflektiert der Film, wie die familiären Bande das Erwachsenwerden in all seinen Stationen prägen – sei es aus den Hängematten und Liegebetten auf den Azoren oder aus der hellen Stube in Genf. Während der ältere Bruder Peter seine hedonistische Lebensweise hinterfragt, verfolgt der jüngere Jonathan nicht immer ohne Zweifel die Karriere eines Profitauchers. Es wird schnell deutlich, dass sie beide aber keine gemeinsame Sprache mehr finden. Die unterschiedlichen Lebensstile und Persönlichkeiten der zwei Brüder lösen trotz geteilter Herkunft und Erfahrungen ihre Verbundenheit immer mehr auf und hindern sie daran, diese als Stütze für einen etwas weniger holprigen Einstieg ins Erwachsenenleben gebrauchen zu können.
 
Dieses Scheitern der Sprache verleiht den Momenten des Aufeinandertreffens der beiden eine besondere Sprengkraft wie etwa beim gemeinsamen Verstecken vor den Ticketkontrolleur_innen im Maisfeld. Die geographische Trennung ihrer Körper lässt die Kluft zwischen ihnen im Verlauf des Filmes umso stärker wachsen. Nach den gemeinsamen Ferien und dem Besuch eines Musikfestivals in Ungarn wandert Jon für seinen Studienaufenthalt nach New York aus und Peter taucht für eine weitere Selbstfindungsreise nach Jordanien ab. Dank dem intimen Portrait der Protagonisten erfahren wir die Komplexität ihrer Charaktere und Beziehungen. Wir erfahren, wie der eine den anderen auch in der Ferne immer schon affiziert, und wie die zwischenmenschliche Verbindung dabei zu verhelfen mag, die eigenen Ängste zu überwinden und Fuss zu fassen.
 
Die Aufnahmen verzichten weitestgehend auf die klassischen Mittel der Aufmerksamkeitslenkung und Dramatisierung. Der sparsame Umgang mit Grossaufnahmen und Kamerafahrten schafft im Laufe dieser sanft fortschreitenden Erzählung einen freien Raum, der durch unerwartete Kameraperspektiven und Einstellungsgrössen überraschende Begegnungen zustande kommen lässt und den Körpern der Protagonisten Platz für ihre Äusserungen gibt. Trotz aller Experimentierfreude verblassen die beiden Protagonisten nicht zu Abstraktionen und geraten in keine schwerelose Schwebe wie die Figuren in dem gleichnamigen Klassiker von Norman McLaren aus 1968. Sie bleiben am Boden, eingefangen in den dem Realismus verschriebenen und der Materialität der menschlichen Existenz bewussten dokumentarischen Aufnahmen. Auch in Angesicht des Todes ihres Grossvaters ringen sie um das Weiterleben, ebenso wie sie dies in der Schlussszene des Filmes tun – verbunden und dennoch alleine.
 
Miloš Lazović
*1995, Studium der Philologie in Belgrad, Zürich, Poznań und Brno. Derzeit im Masterstudium an der Universität Zürich in den Fächern Kulturanalyse und Filmwissenschaft und Redaktionsmitglied des CINEMA Jahrbuchs.
(Stand: 2021)
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